Mehr als eine Metapher?

Georg Franck zum mentalen Kapitalismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer von Kapitalismus sprach, brandmarkte sich lange Zeit als Ewig-Gestriger, verhaftet einem veralteten Klassenkampfdenken. Worum es ging, hieß "Marktwirtschaft" und galt als Modell für die restliche Menschheitsgeschichte. Das hat sich mittlerweile gegeben; vor allem, weil die Sache sich als unerfreulich herausgestellt hat und die Forderung nach immer mehr Markt von den Betroffenen meist zu Recht eher als Drohung denn als Versprechen aufgefasst wird. In dieser Lage kommt das alte, treffendere Vokabular zu neuen Ehren - mit häufig aktualisiertem Inhalt, um zu erfassen, was sich seit Marx' Zeiten verändert hat.

Mit seinen Überlegungen zum "mentalen Kapitalismus" führt Georg Franck ein Konzept fort, das er schon in seiner "Ökonomie der Aufmerksamkeit" von 1998 entwickelt hat. Im Zentrum seiner Gedanken steht die Auseinandersetzung um Aufmerksamkeit, die in den letzten Jahrzehnten in eine neue Phase getreten ist. Dass Akteure auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern versuchen, beachtet zu werden, ist natürlich nicht neu; als völlig verändert stellt aber Franck heraus, wie diese Auseinandersetzung geführt wird und welche Vorteile der Akkumulation von Aufmerksamkeit den Gewinnern winken.

Es gibt die Ausbeuter - die mehr Beachtung finden, als sie selbst je auf Andere Acht geben können - und die Ausgebeuteten, die soweit ihre Aufmerksamkeit für andere verausgaben, dass kaum mehr genug für ihre Selbstachtung übrigbleibt. Und die Effekte verstärken sich: Jeder will durch Nähe zu den Beachteten an der Achtung, die diese kassieren, teilhaben - niemand aber sucht die Nähe derer, die als unwichtig gelten.

Am einfachsten und eindruckvollsten lässt sich das auf dem Gebiet der Massenmedien zeigen, die seit der Einführung des Privatfernsehens vor erst gut 20 Jahren einen immer größeren Teil der gesellschaftlich verfügbaren Beachtung auf sich ziehen. Neue Stars gab es stets, wenn auch lange nicht so viele wie in der Gegenwart. Doch geht die Änderung über das Quantitative weit hinaus. Die heutigen Massenmedien thematisieren die Konstruktion von Beachtung, von der Inszenierung des Aufstiegs bis hin zu der des Falls. Das trübste Segment jenes Felds sind Casting-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar", in denen selbst noch die Hoffnung der an Aufmerksamkeit Armen auf Beachtung ausgebeutet wird.

Die Massenmedien, insofern sie durch Werbung finanziert werden, sind auch ein Feld, in dem die Wechselwirkungen von mentalem und kommerziellem Kapital besonders klar zu beobachten sind. Werbung ist jenes Medium, das traditionelle Grenzen zwischen hoher und niedriger Kultur und verschiedenen Logiken der Aufmerksamkeit nivelliert. Während es in der Massenkultur stets allein um die Quantität der Beachtung ging, funktionierte Hochkultur nach dem Prinzip der Kooptation: Als akzeptiert galt, wer von denen beachtet wurde, die schon akzeptiert waren. Indem Hochkultur durch Unterfinanzierung gezwungen wird, sich durch Sponsoring am Leben zu erhalten, droht weniger der direkte Einfluss der Geldgeber auf die Inhalte als die Angleichung der Mechanismen von Aufmerksamkeit an die der Massenkultur.

Die Architektur als Zwischenbereich zwischen Kunst und Dienstleistung, von Auftraggebern abhängig und äußerst finanzintensiv, müsste solche Entwicklungen besonders eindrücklich zeigen. Tatsächlich gehören die der Architektur gewidmeten Teile des Buchs zu den überzeugendsten. Franck zeichnet nach, wie in der Architektur die Postmoderne eine späte Moderne ablöste, die in einer öden Gleichförmigkeit ihr eigenes Postulat der Funktionalität gerade verfehlte. Indessen kann er die postmoderne Architektur nicht als Lösung anerkennen - die Postmoderne überhaupt kommt bei Franck nicht gut weg. Gar zu einfach geriet ihr die Dezentrierung des Subjekts, deren philosophische Herleitung er durchaus ernst nimmt, zur Legitimationsideologie, sich etablierten hohen Ansprüchen zu entziehen und, scheinbar pragmatisch, den Forderungen des mentalen Kapitalismus zu unterwerfen.

Francks zähneknirschende Bewunderung gilt denn auch weniger den Architekten der ersten, der historistischen Phase der Postmoderne, die sich mit allerlei Türmchen und Giebelchen dem Massengeschmack anglichen, als den Vertretern eines architektonischen Dekonstruktivismus. Die Dekonstruktivisten nämlich vermochten es, mentales Kapital innerhalb der Architektenzunft und verbreitete Popularität in raffiniertem Wechselspiel einzusetzen und so von ihren Auftraggebern kommerzielles Kapital zu erhalten.

Der Bereich Wissenschaft, dem Franck ein eigenes Kapitel widmet, wirkt dagegen relativ intakt. Zwar regiert auch hier der mentale Kapitalismus: Die Zählung von Zitaten, die sich als ein Maßstab wissenschaftlichen Erfolgs durchsetzt, objektiviert scheinbar den Wert von Publikationen für die Gruppe von Wissenschaftlern, die an einem Problem arbeiten. Doch ist hier, nach dem älteren Muster, das hochkulturelle Prinzip der Kooptation noch erhalten. Franck führt aus, wie statt einer Logik der Sache eine Suche nach Aufmerksamkeit Forschungs- und Publikationsstrategien prägt. Zudem gelingt es den erfolgreichsten Kapitalisten unter den Wissenschaftlern, Beachtung über den Kreis ihrer Fachkollegen hinaus zu finden und das in den verschiedenen Öffentlichkeiten gewonnene Kapital gewinnbringend im je anderen Bereich zu investieren.

Mit seinen Begrifflichkeiten erfasst Franck einen wichtigen Ausschnitt der Realität, doch eben nur einen Ausschnitt. Tatsächlich ist die Lage ernster und die universitäre Wissenschaft bereits in der Lage, in der sich die Unternehmensforschung seit je befand. Wichtiger als der Reichtum an Zitaten dürfte der an Forschungsmitteln sein. Eine reduzierte Grundausstattung und ein steter Wettbewerb um Projektmittel haben die Rolle des kommerziellen Kapitals in der Wissenschaft in den letzten Jahren gesteigert.

Hier zeigt sich ein Grundproblem. Die Rolle des kommerziellen Kapitals wird zwar immer wieder erwähnt, doch bleibt das Verhältnis zwischen ökonomischem und mentalem Kapitalismus unklar. Tritt letzterer an die Stelle des ersteren, tritt er an seine Seite? Wie wirken sie zusammen, im Fall etwa der Werbung, die die Aufmerksamkeitsstrategien der Privatsender prägt? Oder wirken sie auch gegeneinander: so im Fall der dekonstruktivistischen Architekturskizze, die zu realisieren teurer wäre als Einnahmen durch den Reputationsgewinn vermutet werden und die darum Skizze bleibt?

Der Status des mentalen Kapitalismus bleibt unklar. Abhilfe schafft auch nicht die durchaus kluge Auseinandersetzung Francks mit Pierre Bourdieu, dessen Begrifflichkeiten von kulturellem und sozialem Kapital er weiterentwickelt. In einem wichtigen Punkt hat Franck bedingt recht: Der Distinktionsgewinn durch einen Zugang zur Hochkultur oder durch familiäre Herkunft ist auf dem Markt der Aufmerksamkeit geschrumpft. Wer in den 60er Jahren im neuen Massenmedium Fernsehen Erfolg hatte, gewann nicht wie etwa Dieter Bohlen durch forcierte Asozialität Beachtung. Doch die auf Deutschland bezogene Eliteforschung besonders Michael Hartmanns zeigt auch, welche Bedeutung die "feinen Unterschiede" in wichtigen Karrierefeldern immer noch haben.

Weniger überzeugt Francks Versuch, sich verglichen mit Bourdieus eher metaphorischer Verwendung von Wörtern aus der politischen Ökonomie begrifflich härter an Marx'sche Kategorien anzulehnen. Die Unterschiede zwischen Geld einerseits und Aufmerksamkeit andererseits bleiben zu groß. Zum Beispiel ist es immer positiv, Geld zu haben. Negative Erwähnungen dagegen sind ambivalent. Sie beweisen zwar Bedeutung (andernfalls würde man gar nicht erwähnt), doch ist zunächst nicht entscheidbar, ob die negative Aufmerksamkeit einen Karriereschritt oder den Fall ins Nichts bedeutet. Zweitens sind Geld und gesellschaftlicher Reichtum zu vermehren, ist das Potential an Aufmerksamkeit einer gegebenen Bevölkerung hingegen physisch begrenzt.

Vor allem aber besitzt Geld keine Intensität. Man kann zehn Euromünzen in einen entsprechenden Schein tauschen oder eine andere Währung, und zu einem gegebenen Zeitpunkt ändert sich nichts; Währungsschwankungen oder Inflation im Zeitverlauf sind mathematisch erfassbar. Aufmerksamkeit aber kann konzentriert oder zerstreut sein - ein großes Problem der Auftraggeber von Werbung, die nie wissen können, wer in der Werbepause unkonzentriert plaudert und ob denn die attraktive Bildidee nicht überdeckt, für was denn da geworben wird. Die "politische Ökonomie des Geistes", die Franck im Untertitel seines Essays ankündigt, ist eben nicht quantifizierbar. Und so bleibt der "mentale Kapitalismus" wohl doch eine Metapher.

Freilich kann eine Metapher, in ihrem Bereich, hilfreich sein. Für die gegenwärtigen Kämpfe um Aufmerksamkeit schildert Franck wertvolles Anschauungsmaterial; und viele seiner Detailbeobachtungen sind erhellend. Die Darstellung ist klar und pointiert; sie regt zu Gedanken auch und gerade da an, wo man ihr nicht ganz folgen mag. Kulturpessimistisches Katastrophisieren ist Francks Sache nicht. Gerade in der nüchternen Schilderung aber wird klar, was der mentale Kapitalismus zerstört und welche Bedrohung er für eine Arbeit bedeutet, die auf kulturellen Fortschritt Wert legt.

Darum interessiert besonders, ob Möglichkeiten der Gegenwehr skizziert sind. Viel findet sich in dieser Hinsicht nicht - was wohl eher der Realität anzulasten ist als Franck. Manche seiner Perspektiven erfüllen sogar eher mit Sorge. So mutmaßt er, dass in der Globalisierung an den Rand gedrängte Kulturen, die keine Beachtung finden, sich wehren könnten. Es scheint, als könnte er sich auf öffentlichkeitswirksam agierende islamische Terroristen beziehen, doch ist aus mehreren Gründen Skepsis berechtigt. Zum einen wehren sich wohl weniger Kulturen, die "den männlichen Stolz und die Rache der beleidigten Ehre" hochhalten, als solche in einem wirtschaftlichen Zwischenbereich: zu arm, um eine eigene funktionierende Medienwelt mit ihrer Beachtungsökonomie zu entwickeln, doch reich genug, um eine Terrororganisation zu finanzieren. Von den Allerärmsten hört man nichts. Vor allem aber entkommen symbolfixierte Angriffe wie die auf das World Trade Center oder das Pentagon samt den übelsten irakischen Entführervideos dem mentalen Kapitalismus nicht, sondern liefern ihm noch ein brauchbares Werbeumfeld.

Bleiben die Ausgebeuteten, die Aufmerksamkeit schenken, ohne sie zu erhalten. Ihr Ausweg, wie Franck scharfsichtig darstellt, ist häufig das Ressentiment. Der Hass auf die Erfolgreichen wird denn auch von den Medien bedient: Wer gerade noch umjubelt war, wird heute schon demontiert. Das ist die Art von Aufmerksamkeit, die dem Beachteten nichts mehr nützt, doch dem System zusätzliche Werbegelder einträgt. Kein Ausweg also?

Keiner, den Franck diskutieren würde. Alternative Bühnen der Aufmerksamkeit wären denkbar, die sich nicht um wissenschaftliche Zitation oder darum, was im Fernsehen vorkommt, scheren würden. Wichtiger aber scheint der scheinbar altmodische Kampf um die Verteilung des Geldes: Geld ist Macht, und nur Macht kann Mechanismen der Aufmerksamkeit verändern.

Franck zeigt ein wichtiges Segment des gegenwärtigen Kapitalismus. Der mentale Kapitalismus wirkt monolithisch, solange man ihn für sich selbst betrachtet. Vielleicht wird er angreifbar, wenn man ihn im Kontext der traditionellen politischen Ökonomie analysiert. Das müsste der nächste Schritt sein.


Titelbild

Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
286 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3446206876

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch