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Ryszard Kapuscinski ehrt Herodot als seinen Reiseführer

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herodot von Halikarnassos, ein Zeitgefährte von Sophokles und Perikles, gilt als Vater der Historienschreibung, der Geschichtsphilosophie und der literarischen Reportage. Zu seinen wesentlichsten Verdiensten gehört zweifelsohne, dass er die Erforschung der Zusammenhänge der Vergangenheit im Dienst der Diskussion der bestmöglichen Verwaltung der Gegenwart betrieb.

Ihn und keinen anderen gibt Ryszard Kapuscinski als seinen vorbildhaften Mentor und Reisegefährten an, was keinen unter seinen Lesern überraschen wird - denn dieselbe Hingabe an die Sache der Menschen zeichnet ja auch seine, im Auftrag der polnischen Nachrichtenagentur fast ein halbes Jahrhundert lang durchgeführten, Reportagen von den Krisenherden der Welt aus.

In "Meine Reisen mit Herodot" beschreibt der Autor diese seine Eigenschaft als eine lebenslange Freundschaft zu dem Geschichtsphilosophen aus der griechischen Peripherie: Herodots "Historien" haben ihn auf allen Reisen begleitet.

"Meine Reisen mit Herodot" ist ein anekdotenhaftes Erinnerungsbuch, worin Kapuscinski alle Stationen seines Reiselebens, an denen Herodot mit dabei war, Revue passieren lässt: vom Geschichtsstudium an der Warschauer Uni, in der es nach dem Krieg nur ein einziges zerfleddertes Buch für Hunderte von Studenten gab und wo daher die von seiner Chefin überreichte Reiselektüre, Herodots "Historien", nicht weniger überraschend kam als der ersehnte Dienstreiseauftrag - nach Indien.

Der junge Pole konnte kein Englisch, wagte sich kaum aus der billigen Pension auf die Straßen und verbrachte im ersten tropischen Schock viel Zeit mit seinem Herodot. Das schweißt zusammen: So sehr, dass Kapuscinski, etliche Jahrzehnte und Kontinente weiter gereist und reicher an Erfahrung, an manchen Orten von den ungeheuerlichen Geschehnissen weniger betroffen wurde als von dem, was er bei Herodot über das Wesen des Kriegs und der Menschen las.

So haben ihn in den Ruinen von Persepolis die Umstände des Schah-Sturzes minder als Herodots Erzählungen von den Königen der Perser beschäftigt, und dabei vor allem Herodots Bedürfnis, die Dinge zu hinterfragen, ihnen nachzugehen, sie nach hinten wie nach vorn zu erforschen. Das stand so ganz im Gegensatz zum althergekommenen Geschichtsbild, das mythologisch und episch-wiedergebend war wie ein starres Geschichtstudium im stalinistischen Warschau.

Freilich war es das Brandaktuelle, das Herodot in den zeitlich entrückten und Kapuscinski in den geografisch entfernten Bezirken aufspürte: Wo der Grieche in den Perserkriegen Modelle für die athenische Politik suchte, las der Pole aus den Geschehnissen in der Dritten Welt Zusammenhänge für die daheim herrschenden Zustände heraus.

Es nimmt daher auch nicht Wunder, dass sich Kapuscinski - ein belesener und in seinem Lesestoff ebenso wie in seinen Bekanntschaften scheinbar wahlloser wie im Nachhinein besehen treffsicherer Reisender - für das Schlussresümee über Herodot eine Definition von T. S. Eliot wählte, der dem Begriff der räumlichen Provinzialität den eines zeitlichen Provinzialismus beiseite gestellt hat. Zwar kann der Mensch nichts daran ändern, wenn er in der Abgeschiedenheit in geistiger Beschränkung aufwächst wie die polnischen Studenten seiner Jahre ähnlich den Studenten Äthiopiens, dessen riesiges Territorium nur über eine einzige Buchhandlung verfügt. Doch selbstverschuldet ist die grassierende Zeit-Provinzialität derer, die, versehen mit den Quellen des Wissens und allen Beschaffungsmöglichkeiten von Informationen, zu bequem sind, die Zusammenhänge, in denen wir leben, zurück an ihre Ursachen zu erforschen.

Man kann den während des Zweiten Weltkriegs in einem weißrussischen Dorf geborenen Polen einen Soziologen oder Dichter, einen Philosophen oder Journalisten, einen Abenteurer oder Weisen nennen - alles trifft zu und auch wieder nicht. So eigen sind seine zeitlosen Reportagen von bestimmten und doch wieder überall befindlichen Orten auf der Welt, die allesamt eines gemeinsam haben: Man hat sie vergessen, bis sie abrupt eintreten ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, anlässlich von Ungeheuerlichkeiten wie Umsturz, Völkermord oder auch der Tragikomödie eines hunderttägigen Fußballkriegs. Was sein anglisierter Landsmann Joseph Conrad in "Heart of Darkness" einen entsetzten Beobachter aufspüren lässt, Kapuscinski - der auch dichtet und fotografiert - macht davon fundierte Bilder.

Bei der Erforschung solcher Un-Orte ist er, wie Herodot, immer allein: Er war entweder da, bevor die Reporterkollegen aus Amerika und Frankreich eintreffen oder ist in Ermangelung finanziellen und technischen Equipments hinter diesen im Hinterland des eigentlichen Krisenherds stecken geblieben. Nachteile, die Kapuscinski, unter anderem in der Konzentration auf den virtuellen Reisegefährten Herodot, jedes Mal die Dinge besser verstehen helfen - in Form einer bedächtigen Annäherung an Geschichte, die sich menschlichen Kontakten, Zufallsbekanntschaften verdankt - Sitznachbarn in afrikanischen Autobussen, Zimmerwirtinnen in südamerikanischen Kleinstädten, einem Kind vor einem Plattenbau in Sibirien - und dem hohen literarischen Anspruch, den der Dichter Kapuscinski an seine polnische Prosa stellt. Denn nicht zuletzt auf Grund der begrenzten Mittel sind seiner Mitteilsamkeit stets Grenzen gesetzt: Da die polnische Nachrichtenagentur kein Funkgerät für ihren Korrespondenten hat, muss er sich im Rahmen der finanziellen Mittel auf maximal 160 Zeichen pro Post-Telegramm beschränken, wenn er über den überraschenden Umsturz eines Regimes berichtet, das die Weltöffentlichkeit bislang kaum zur Kenntnis genommen hat.

Eine Not, die in Kapuscinskis Schreibmaschine zur Tugend wird - denn journalistische Geschwätzigkeit, Wichtigmacherei des Erstinformanten oder unverhohlene Sensationslüsternheit wird man bei ihm nicht finden. Das hintergrundlose Dokumentieren, das Berichte von Originalschauplätzen so oft begleitet, findet sich bei Kapuscinski nicht - da auch Herodot, den er dafür lobt, bei jeder Nachricht geprüft hat, wer sie wann über wen äußert. Beiden kann man bei Abschätzung ihrer Informanten eine Lauterkeit attestieren, wie sie oft vermisst, weil er die Weißen Flecken fremder Orte und Umstände angefabelt haben möchte, auf Berichterstatter angewiesen ist.

Und wer kennt nicht das ungute Gefühl des Zweifels, das einen beschleicht, wenn man nicht weiß, wie viel man von den unglaublichen Schilderungen und Hintergrundberichten von fernen Krisenschauplätzen glauben kann? Bei Herodot und bei Kapuscinski kommt solche Skepsis nicht auf: Gemeinsam mit dem Leser gehen sie an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, ohne Allwissenheit vorzuschützen, und zwar ohne Kalkül mit Bedacht und ohne Hast mit der Weile, die das Einlassen auf die fremde, meist brenzlige Sache erlaubt.

Ergebnis ist in Kapuscinskis, Herodot nachgeeifertem Fall, das Gegenteil von Schnelllebigkeit: Zeitlosigkeit, eine wertfreie Gültigkeit von Betrachtungen über den Menschen und seine Verhältnisse - selbst dann, wenn sie jedes Mal von einzigartigen Ereignissen und zufälligen Umständen ausgehen.


Titelbild

Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot.
Übersetzt aus dem Polnischen von Martin Pollack.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
360 Seiten, 28,50 EUR.
ISBN-10: 3821847468

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