Stalaktiten und hörnergleiche Kegel

Javier Marías' Roman "Tanz und Traum"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als "Psychoprophet" und "Dolmetscher des Lebens" wurde der introvertierte Sprachwissenschaftler Jaime Deza, der Protagonist des 2004 in deutscher Übersetzung erschienenen ersten Bandes von Javier Marías' Romantrilogie "Dein Gesicht morgen"; bezeichnet. Deza arbeitet immer noch beim britischen Geheimdienst, verspürt immer noch eine latente Sehnsucht nach seiner Ex-Frau Luisa, doch im zweiten Band "Tanz und Traum" soll er nun keine Persönlichkeitsprofile mehr erstellen, sondern einer italienischen Diplomatengattin über die Probleme des Alterns hinweghelfen.

Die Marotten jener leicht versponnenen Flavia Manoia, die mit Deza, dessen Chef Tupra und ihrem Mann (eine geheimnisvolle Mischung aus Vatikanjünger und Mafioso), eine Diskothek besucht, lesen sich zwar herzerfrischend amüsant, doch Marías hat das Gros der Handlung wieder in einen nebligen Schleier aus aphoristischen Splittern und assoziativen philosophischen Gedanken eingehüllt.

Beim 54-jährigen spanischen Erfolgsautor, den das "Literarische Quartett" Mitte der 1990er Jahre mit Titeln wie "Mein Herz so weiß" und "Morgen in der Schlacht" für den deutschen Sprachraum entdeckt hatte, sucht man das lineare, ungebrochene Erzählen vergebens. Er ist ein Meister der Ausschweifung und der großen Exkurse, darin seinem im Dezember 2005 verstorbenen Vater Julián geistig verwandt, der einer der bedeutendsten spanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts war.

Da der Protagonist Deza und mit ihm sein Schöpfer Marías das "Leben für unerzählbar hält", begegnen wir lediglich Momentaufnahmen aus einem erzählten Alltag, die unter dem Reflexionsstrom zu gestochen scharfen Standbildern werden. Das liest sich zwar manchmal recht zäh, doch immer wieder glitzern "Juwelen" aus dem Handlungsnebel heraus: "Gibt man eines Tages einem Bettler in der Nachbarschaft ein Almosen, wird es am nächsten Morgen schwieriger sein, es ihm zu verweigern, denn er wird es erwarten; nichts hat sich verändert, er ist noch immer gleich arm, ich bin noch nicht weniger reich, und wenn gestern, warum dann nicht heute." Es sind nicht selten derlei Alltagsbeobachtungen, denen sich Marías hingebungsvoll widmet und die ihn sowohl als präzisen Beobachter als auch als analytischen Soziologen ausweisen.

In die eigentliche "Story" um die einstige italienische Schönheit mischen sich leicht despektierliche Töne. Flavia, die einst die Blicke aller Männer auf sich zog, hat mit ihrer nachlassenden Attraktivität zu kämpfen. Das Gesicht ist faltig, und die Silikonbrüste sehen aus wie "hörnergleiche Kegel" und "Stalaktiten". Mit dieser Figur und deren Problemen kann Marías nicht viel anfangen und treibt mit ihr allerlei Schabernack. Ein machohafter Casanova namens De La Garza will sie auf der Toilette bei "lebendigem Leib entschlüpfern". Dieses Ansinnen provoziert Rache. Flavias Ehemann und der Geheimdienstchef Tupra, die gemeinsam dunkle Geschäfte betreiben, rücken mit einem Schwert an und schreiten zur großen symbolischen Handlung, indem sie dem Schwerenöter einige Haare abtrennen. Das ist die andere Seite von Javier Marías - randvoll mit Klischees über das so genannte südländische Temperament und das finstere Macho-Gehabe. Flavias handfeste Ängste vor dem Alter werden wenig humorvoll zerredet.

Dieser Stil- und Rhythmuswechsel wirkt, als habe der Autor nach seinen bedächtigen, feinsinnigen Passagen durchs vertraute Gedankenterrain versucht, in neuem, unwegsamen literarischen Gelände ruckartig das Erzähltempo zu beschleunigen. Doch die literarischen Räder drehen durch, die Handlung verliert die Bodenhaftung und wirbelt an diesen Stellen lediglich reichlich Effektstaub auf.

Dem leidenschaftlichen Fußballfan Javier Marías geht es ein wenig wie seinem Lieblingsverein Real Madrid. Der majestätische Glanz ist etwas verblasst, aber der Mythos lebt weiter und wird die Fans immer noch in seinen Bann ziehen.


Titelbild

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. Band 2: Tanz und Traum.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
429 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3608937153

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch