Edels kitschige Visitenkarte

"Das Wasser, in dem wir schlafen" von Rabea Edel: Fräuleinwunder all over again

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe es viermal gelesen, ich habe es fünfmal gelesen; es wurde nicht besser. Ich habe es weggelegt, nachgedacht, den Kopf geschüttelt. Dann las ich es ein weiteres Mal. Aber da war nur Schwärze, völlige Dunkelheit. Und ich musste mich fragen: 'Warum macht der Junge das? Was geht in ihm vor? Woher kommt dieses Ordinäre, diese Wut, was ist das für ein Blick auf die Welt? Und welche Sorgen hat er mit seiner Familie?'" Einatmen. Ausatmen. Den Kopf gegen die Fensterscheibe lehnen, die Augen schließen, und lachen, stoßweise lachen und hoffen, dass es ungezwungen und natürlich klingt. Memo an mich selbst: Der Partnerin meines Vaters keine Texte mehr zeigen.

Ich weiß nicht, warum es derart holpert. Weiß nicht, wie lange man Sakkos tragen muss, bis das Gefühl verschwindet, sich lediglich als Erwachsener verkleidet zu haben. Oder wie lange man geschrieben haben muss, ohne immerzu in Verdacht zu geraten, nur die Namen in seinem Tagebuch geändert zu haben. Wann man anfängt, sich als Autor zu fühlen und nicht als Gernegroß, der Schriftsteller spielt, wie man als Kind Ritter oder Seeräuber spielte. Wie man wohlmeinende "Darf ich dich mal drücken?"-Amateurpsychologen aushebelt, völlig überzeugt sagt: "Literatur ist ein Handwerk, Literatur ist ein Job!". Und wie man zugleich dem Ennui der Feuilletons entgeht, die in Debüts nur seelenlose Schreibschul-Fleißaufgaben erkennen wollen, und die ständig neue Generationen oder Strömungen ausrufen, um sie anschließend gleich wieder zu Grabe zu tragen. Nein, ich weiß es nicht.

Kein Wunder jedoch, dass Dana, Susanne und die diversen Benjamins mehr Zeit damit verbringen, der lesenden Welt zu erklären, wer sie nicht sind oder sein wollen, statt brauchbare Bücher zu schreiben. Unter dem Druck öder Zeitgeistdebatten sind Fräuleinwunder beiderlei Geschlechts zu nervös-verbitterten Trümmerfrauen mutiert. Klassenprimus Kehlmann will nicht als Schülersprecher kandidieren, Quatschkopf Rammstedt schwänzt regelmäßig Geschichte, die Mädels hocken in der Raucherecke und üben Zungenküsse, und selbst im Ostflügel dröhnen die Presslufthammer der Kritiker. Ganz unten, im Heizungskeller, sitzt Rabea Edel: Kurzhaarschnitt, sorgfältig gezupfte Augenbrauen, Kreolen und ein leichter Silberblick. Erwischt sie mal ein Fotograf beim Lächeln, dann sieht das großartig aus. Doch die Angst vor der Feuilleton-Abrissbirne überschattet jede Spur von Leichtigkeit, Esprit und Schwung. "Das Wasser, in dem wir schlafen", Edels Debütroman, ist eine extrem verkniffene Angelegenheit. Das literarische Äquivalent zu Eichelkaffee: Geht halt nicht anders, unter diesen Umständen.

Auch etwas zu wohlmeinende Mitglieder von Rabea Edels Familie (falls es solche Mitglieder gibt) dürfen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen ob dieses Debüts. Es geht um zwei Schwestern, eine namenlose Ich-Erzählerin und die Zweitgeborene Lina. Bis in ihre späte Jugend hinein leben die beiden in einem tristen Haus an einem See und verbringen ihre Zeit damit, die falschen Dinge für die falschen Leute zu empfinden und für die richtigen gar nichts. Der Vater ist Schriftsteller und völlig in sich zurückgezogen, die Mutter hat die Familie verlassen, und die beiden Schwestern schleichen wie übermüdete Geister durch eine hyperaktive, klischeestrotzende Natur- und Verwesungsmotivik. Inzest, Entfremdung, Rivalität, schmierig-schweißiger Sex im Bett der Mutter und endlose Nachmittage in ungelüfteten, möbellosen Zimmern mit dem falschen Mann: Ach je! Was denkt sich das Mädel bloß?

"Das Wasser, in dem wir schlafen" liest sich wie ein aus dem Ruder gelaufener High School-Film über eine Klassenschönheit, die alles tut, um nicht zum Abschlussball eingeladen zu werden. "Die Party ist vorbei"? Wer auch immer Pop totgesagt hat, täte gut daran, ihn schleunigst zu rehabilitieren. Denn so kann es nicht weitergehen: Edels Roman fehlt jeder Bezug zur Jetztzeit, er spielt in einer luftleeren Blase, einem grässlich neoromantischen Diorama, in dem im Seitentakt gestörte Amseln gegen Fensterscheiben krachen, verwaiste Vogelbabys in den Sträuchern schreien und die verkrüppelten Äste allerlei morbiden Laubwerks hochsymbolisch auf den Kinderschänder deuten, der zu allem Überfluss das Unterholz unsicher macht.

Doch nicht die Atmosphäre macht dieses Trauerspiel um verstörte Schwestern so niederdrückend, sondern das schiere Gewicht von Edels übergroßen Sätzen, übergroßen Ambitionen und diffus-unterdrückten Gefühlen in XXXL: "Ich habe immer gedacht, es gäbe etwas Letztes, Innerstes, das wir für uns behalten würden. Aber entweder gab es das nicht, oder Lina scherte sich nicht darum. Sie kratzte alles aus sich heraus, sie stülpte sich nach außen, und ich versuchte mich über Gregor mit diesem letzten Rest von ihr aufzufüllen, um ihr nah zu sein."

Statt zu flüchten oder anzugreifen, ergehen sich manche Tiere in Übersprungshandlungen. Hochkonzentriert und völlig planlos tun sie mit großem Eifer einfach irgend etwas, nur, um der Bedrohung nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Mit der gleichen Akribie kratzt Edel die Etiketten von der Kleidung ihrer Protagonisten, anonymisiert den Ort des Geschehens bis zur völligen Beliebigkeit, minimiert die Angriffsfläche, indem sie Figuren, Plot und Handlungsraum virtuos verwässert: Nahst-Aufnahmen von Körpern und Wunden, Stimmungen und sinnlichen Empfindungen; gestochen scharf, aber so leinwandfüllend, dass ihnen jeder Kontext fehlt. Ein Hammersatz jagt den anderen, und alles schreit nach zeitloser, hochambitionierter Literatur.

Erfolglos: Rabea Edel kommt dem Leser mit "Das Wasser, in dem wir schlafen" viel zu nahe. Keinesfalls aber die Person Edel, die glaubt, der Welt bleischwere psychosexuelle Altlasten aufbürden zu können. Nein. Sondern irgend etwas Hohles, Berechnendes, das sich mit beeindruckender Akribie als neoklassizistische belle dame sans merci maskiert hat und mit aller Gewalt an Kunstverständnis und Empfindsamkeit des Lesers appelliert: "Lina stellte sich nackt und weiß und mit ausgestreckten Armen vor die Büsche, zupfte Beeren von den Zweigen und schob sie sich in den Mund." Ich kenne wenige Bücher, die mir penetranter signalisieren wollten, was ich bei ihrer Lektüre zu empfinden habe. Und nicht eines, dessen hochsymbolische Hinweisschilder mir stärker auf den Keks gingen.

Auch auf die Gefahr hin, jetzt selbst ins Lager der Amateurpsychologen überzuwechseln: "Das Wasser, in dem wir schlafen" liest sich an keiner Stelle wie eine Geschichte, die einfach erzählt werden wollte. Statt eines Buches hat Rabea Edel eine 160seitige Visitenkarte vorgelegt, die große Erwartungen weckt, aber für sich allein viel zu manipulativ und tendenziös bleibt: Muss das sein? Vollgestopft mit Reizthemen und "schönen Bildern" lässt Edels Edelkitsch eine ganze Literaturgattung endgültig in Richtung Genre kippen. (Obwohl, eigentlich auch egal: Seit Zoë Jennys "Das Blütenstaubzimmer" wurden existentialistische Sex-Mädchen eh schon Dutzende Male für passé erklärt.) Zu jedem Punkt in diesem Text weiß man, was man zu erwarten hat. Die einzige Überraschung ist, dass der ganze möchtegerntragische Schwermut immer noch drei Nummern dicker kommt, als man befürchtet hatte.

Eigentlich aber wären all wir in Literatur dilettierenden Mittzwanziger mittlerweile doch recht gerne erwachsen. Nur wie das geht, das hat uns keiner verraten. Fest steht, dass junge Literatur immer mehr klingt, als müsste sie erst mal am Feuilleton vorbei. Müsste beweisen, dass sie überhaupt eine Rechtfertigung besitzt. Die Folge sind überanstrengte, heillos überambitionierte Texte, die sich in den Schutzraum von Ahistorizität, Rollenprosa oder "klassischen" Themen flüchten, und all ihre Anstrengungen darauf verwenden, das Publikum in möglichst extreme Gefühlszustände zu zerren. Ein Autor, der Vertrauen in seine Fähigkeiten besitzt, der wirklich etwas zu erzählen hat, kann es sich auch mal leisten, einen Gang herunterzuschalten. Rabea Edel dagegen gibt Vollgas, hyperventiliert sich durch 21 knappe, aber quälend langatmige Kapitel, und merkt dabei nicht, dass der Motor noch im Leerlauf ist: "Wenn Vater Sonntagmorgens seine Spaziergänge machte, fand ich Rhea schlafend in seinem Bett. Schlug das Laken beiseite und betastete ihr Hopperhaar, das Rembrandtglühen auf ihrer Haut. Ihre Schamlippen wollte ich aufreißen wie Vorhänge und hindurchtreten, hineinkriechen. Mich an ihre Eingeweide schmiegen, mich in ihren Gehörgängen schlafen legen." Stopp! Das ist gar nicht von Edel. Das ist von mir.

Mit unverdauten Kindheitsproblemen hat es zwar nichts zu tun, aber mit dem übergroßen Wunsch, dass sich möglichst viele Härchen auf möglichst vielen Unterarmen aufstellen mögen. Wenn sich stattdessen bei "richtigen" Erwachsenen eher die Nackenhaare sträuben, dann liegt das, zeigt auch Rabea Edel mit frappanter Deutlichkeit, vielleicht weniger an der gewollt verstörenden Thematik. Sondern an den immens verstörenden nimmermüden Bemühungen "unserer" Generation, das zu schreiben, von dem wir denken, dass das Publikum es hören will, anstatt dem, was wir wirklich zu sagen hätten. Memo an mich selbst: Rabea Edel fragen, ob ich sie mal drücken darf. Es kann nur besser werden.


Titelbild

Rabea Edel: Das Wasser, in dem wir schlafen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
160 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-10: 3630872247

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