Unbemerkte Modernisierung

Leylâ Erbils Roman "Eine seltsame Frau" erscheint zum ersten Mal in deutscher Übersetzung

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diese Türen hat mir Atatürk geöffnet, du reaktionärer Scheißkerl. Hast du verstanden? Atatürk hat mir diese Türen geöffnet. Und wer bist du, dass du dich erdreistest, die türkische Frau wieder in ihr dunkles Loch der Unwissenheit zurückzudrängen?... Ihr sprecht von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, alles nur Gerede. In Wirklichkeit seid ihr reaktionäre Fanatiker." Bemerkenswerte Sätze einer jungen türkischen Frau; umso bemerkenswerter, als sie nicht aus der Gegenwart stammen, in der Bücher von Frauen aus der muslimischen Welt über ebensolche en mode sind, sondern aus dem Jahre 1971.

Laut Verlag ist Erbil die "Grand Old Lady der türkischen Frauenliteratur". Ihr Roman erregte damals Aufsehen und dies würde er heute immer noch tun. Nach sage und schreibe 34 Jahren erscheint zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung. Ein Zeichen dafür, wie fremd der westlichen die arabische Welt ist: nicht nur versteht sie nicht, was ihr fremd ist, sondern sie kennt auch nicht, woran sie in jener anknüpfen könnte und müsste. Dem Unionsverlag ist zu danken, dass er dieses außergewöhnliche Stück türkischer Literatur verlegt, im Rahmen einer ambitionierten und lobenswerten Reihe, der "Türkischen Bibliothek", in der seit 2005 insgesamt zwanzig "Meilensteine der türkischen Literatur" von 1900 bis zur Gegenwart erscheinen sollen. Am Beispiel der Literatur soll gezeigt werden, "wie radikal sich die Türkei seit der Öffnung nach Europa, vor allem seit Gründung der Republik (1923), von den erstarrten Formen und Konventionen der osmanischen Traditionen gelöst hat." Mit "Eine seltsame Frau" wurde ein sehr guter Grundstein gelegt.

Erbil stellt in vier Kapiteln facettenhaft das Leben von Nermin dar, aus wechselnden Perspektiven und in unterschiedlichen Lebensphasen. Die obigen wütenden Worte stammen aus dem Tagebuch der neunzehnjährigen Studentin von 1950/51. Nermin richtet jene Worte gegen die Männer, "die wir als die sogenannte türkische Intelligenzija bezeichnen", in der sie sich bewegt. Dort ist es aber nicht viel besser als bei den Konservativen und Reaktionären. Von Männern, die es besser wissen und machen sollten, wird sie nicht ernst genommen, weil sie eine Frau ist. Weil sie eine Frau ist, interessieren sie sich für sie: weil sie leichter zu beeindrucken ist von ihrer Lyrik und von ihren politischen Theorien; weil sie von ihr weniger Widerspruch erwarten; weil sie sich vor ihr besser aufspielen können; weil sie sie auf diese Weise ins Bett bekommen wollen. Wütend und sarkastisch bietet sie sich in ihrem Stammcafé an. Sie würde mit ihnen schlafen, denn "ich schulde euch etwas. Ich habe euch sehr viel zu verdanken.... Hätte man mir erzählt, dass es solche Menschen wie euch gibt, ich hätte es nicht geglaubt.... Jetzt habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie armselig die türkische Intelligenz ist und wie sie vor sich hin vegetiert. Ich habe gesehen, wie sie Frauen behandelt." Dabei hat sie gegen den Sex nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, auch wenn das bevorstehende erste Mal mit Angst besetzt ist; so sehr, dass sie sich über sich selbst ärgert und es endlich hinter sich haben möchte.

Erbils Stil ist literarisch avantgardistisch: man findet bei ihr den inneren Monolog als Bewusstseinsstrom, Rückblenden, häufigen Perspektivenwechsel, Traum und Realität verwischen surreal. Dies überwiegt besonders im zweiten Kapitel, geschrieben aus der Sicht von Nermins Vater, der auf dem Sterbebett liegt, dort über seine Familie nachdenkt und seine Vergangenheit erinnert. Die Sicht seiner Frau ist im dritten Kapitel eingefangen. Die Eltern sind noch mehr den Traditionen und vor allem der Religion verhaftet als ihre Kinder, die sie nicht verstehen und deren Verhalten sie ebenso verabscheuen wie fürchten.

Das vierte Kapitel ist wieder aus Nermins Sicht geschrieben. Sie ist nun vierzig Jahre alt, verheiratet mit einem liberalen Mann, und sie zieht alleine in die Provinz, um dort "das Volk" politisch zu agitieren, wie es ihre Aufgabe ist als Mitglied der kommunistischen Partei. Aber anders als vielen anderen Linken werden für Nermin das Kollektiv, die Gemeinschaft und das Volk keine neue Heimat, mit der sie die alte Rückständigkeit gegen eine neue Regression eintauschen könnte. Spricht sie sich auch die Glaubenssätze der Partei vor, redet sie sich auch die Pflicht zur selbstlosen Aufgabe ein, ihren Blick auf die Realität kann ihr das nicht verstellen. "Dieses Volk, das sich verhielt, als empfinde es Lust, sich selbst zu quälen; als erhoffe es sich, dafür auch noch belohnt zu werden." Dieses Volk, das sie bereits kennt - "solche wie die, die uns am 'Blutigen Sonntag' hinterherjagten" -, es interessiert sich nicht für ihre politischen Ideen, es blockt ihre Agitation ab. Stattdessen bleibt es misstrauisch gegen eine allein lebende Frau und betrachtet sie als liederlich.

Nermin leidet an der Moderne, der sie viel verdankt: ihre Emanzipation, ihre Konstitution als politisches Subjekt. Aber genau diese Spannung hält sie aus und flieht sie nicht, wie andere, die angeblich zur Tradition zurückkehren, indem sie sich einer Gemeinschaft opfern. Ihre Freiheit und ihre Autonomie sind ihr diese Spannung wert. Wo Freiheit noch nicht glückte, wo die Emanzipation ihre Versprechen nicht hielt, da lohnt es sich, für ihre Verwirklichung weiterhin einzutreten, anstatt sie aus gekränktem Narzissmus von Grund auf zu negieren. In einem Interview im Jahre 2004 gefragt, was sie der Jugend von heute raten würde, sagte Erbil: "Hinzusitzen [sic] und den Kopf hängen zu lassen bringt nichts. Es gibt doch so etwas wie Rebellion und Freiheit. An sich arbeiten, sich zum Menschen entwickeln, ein Individuum werden, das ist wichtig."


Titelbild

Leyla Erbil: Eine seltsame Frau. Roman. Mit einem Nachwort von Erika Glassen.
Übersetzt aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch.
Unionsverlag, Zürich 2005.
208 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3293100015

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