Vorzeitig erwachsen

Eun Heekyungs "Ein Geschenk des Vogels"

Von Si Nae YangRSS-Newsfeed neuer Artikel von Si Nae Yang

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eun Heekyung ist seit Mitte der neunziger Jahre eine der populärsten Autorinnen in Korea. Ihr Erfolg beim Publikum wie auch bei Literaturkritikern beruht darauf, dass sie Lesespaß mit kühnen Lebenseinsichten zu verbinden weiß. Der Roman "Ein Geschenk des Vogels", der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ist eines ihrer bedeutendesten Werke und die Grundlage ihres literarischen Ruhms.

Bis Anfang der neunziger Jahre waren historische Traumata und auch die Schuldgefühle der Überlebenden dominierendes Thema der koreanischen Literatur. Der Korea-Krieg 1950-1953, die Militärdiktaturen von den sechzigern bis in die neunziger Jahre und das Massaker an friedlichen Demonstranten in Kwangju 1980 hinterließen ihre Spuren. Die Regierung, die 1992 an die Macht kam und als ein Symbol der historischen Abkehr von der Diktatur anerkannt wurde, ermöglichte dagegen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der die Schriftsteller die Besonderheit jedes einzelnen Menschen, jenseits seiner öffentlichen Repräsentanz, ins Auge fassen konnten. Diese Veränderung der gesellschaftlichen Stimmung seit Mitte der neunziger Jahre wurde von Eun Heekyung in "Ein Geschenk des Vogels" (1995) sehr gut übertragen und wahrgenommen.

Die Ich-Erzählerin Jinhi ist eine Schülerin, deren Mutter unter Depressionen gelitten und Selbstmord begangen hat und deren Vater sie bei der Großmutter aufwachsen lässt. Wegen ihrer unglücklichen Familiengeschichte früh aller Illusionen über das Leben der Erwachsenen beraubt, beschließt Jinhi in ihrem zwölften Lebensjahr, sich nicht mehr weiterzuentwickeln. Nun teilt sie sich in "zwei Ichs" - ein "sichtbares Ich" und ein "sehendes Ich". Indem sie durch das von außen "sichtbare Ich" ihr wirkliches Ich, das "sehende Ich" schonen kann, versucht sie sich vor Verletzungen zu bewahren. Dieses Prinzip der Verstellung gilt auch für die anderen Figuren des Romans. Während Jinhi sich nun einerseits sich zu verstecken versucht, will sie andererseits die Masken der Menschen, deren "sichtbares Ich", hindurchschauen. Episodenhaft beobachtet und schildert Jinhi die verschiedenen Menschen, die das Haus ihrer Großmutter als Untermieter bewohnen. Vor ihrem Auge und dem des Lesers entfalten sich gewöhnliche und ungewöhnliche Geschichten über die Liebe, das alltägliche Leben.

Die Figuren des Romans haben eine Gemeinsamkeit: den Glauben an sich, der durch Junhis scharfen Blick unglaubwürdig wird. Er verkörpert die Ironie des widersprüchlichen Lebens: Die Mutter des kleinen Jangun schwindelt, ihr Mann sei während des Krieges einen ehrenhaften Soldatentod gestorben. Der Name ihres Sohnes bedeutet auf Deutsch Kapitän, doch hat der Kleine überhaupt nichts Heldenhaftes und Mutiges an sich. Jinhis Tante Yongok knüpft durch einen Briefwechsel Kontakt mit einem Soldaten. Aber eine Schönheitsoperation, durch die sie noch attraktiver werden wollte, schlägt katastrophal fehl, und so verliert sie ihre Liebe und wird von ihrer besten Freundin betrogen. Der Gatte der Schneiderin versucht zwar sich politisch zu engagieren, weil er glaubt, das gehöre zum Image eines richtigen Mannes. Gleichzeitig misshandelt er seine Frau und sorgt nicht für seine Familie. So wird er nirgendwo akzeptiert, sucht aber die Gründe dafür nicht bei sich, sondern in der Umgebung, die seinen wahren Wert nicht anerkenne. Neben ihrem Onkel sind zwei Geschwister die einzigen Personen, für die Jinhi Sympathie empfindet. Aber das Leben ist härter als die Figuren, die sich selbst stärker einschätzen, als sie sind. Hier liegt die Ironie des Buchs: Ohne Betäubung, mit ungeschützter Selbsterkenntnis, kann das Leben nur hart wirken. Andererseits haben Heuchelei und Verstellung der Figuren des Romans in menschlicher Schwäche ihre Ursache.

Die Episoden, die die verschiedenen Existenzen von Jinhi, den Mietern und Untermietern ihrer Großmutter, ihrer verwöhnten Tante und ihres Onkels schildern, zeigen auch, wie die geschichtlichen Ereignisse das Leben der Menschen beeinflussen, wie die Menschen darauf reagieren, und wie diese Reaktionen ihre Eigenschaften widerspiegeln. So betrachtet Eun Heekyung die Wechselwirkung zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Aber sie bleibt nicht nur bei einer Schilderung einzelnen Verhaltensweisen, sondern versucht, das Wesen der Figuren zu analysieren.

Der Roman ist verlässlich übersetzt. Der distanzierte, klar formulierte Stil Euns ist gelungen ins Deutsche transportiert. Noch wichtiger aber ist, dass sich die Universalität des Themas erweist, das Eun Heekyung gewählt hat: die Geschichte eines vorzeitig erwachsenen Bewusstseins. So kann dieser Roman, anders als die Mehrzahl der den historischen Besonderheiten verhafteten früheren koreanischen Werke, die Provinzialität der koreanischen Literatur überschreiten.


Titelbild

Eun Heekyung: Ein Geschenk des Vogels. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Inwon Park und Anja Michaelsen.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2005.
320 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3865320155

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