Fußball - ein "himmlisches Spiel"

Jürg Altweggs anregender Essay "Ein Tor, in Gottes Namen"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Essay nennt der Schweizer Journalist Jürg Altwegg seinen Text "Ein Tor, in Gottes Namen". Das gibt Gedankenfreiheit, um unorthodox sich des Themas anzunehmen. Und es gelingt: Da liegt dann doch noch ein interessantes Fußballbuch vor. Wer also kurz vor der WM sich noch einen Intensivkurs gönnen möchte in Sachen 'was-bedeutet-Fußball-heute-in-dieser-Welt', der greife zu diesem Band.

Zunächst blickt Altwegg in die Geschichte des "himmlischen Spiels". Am Anfang spielten die Götter Fußball, und ihnen zu Ehren verstand man bei den Mayas und Azteken das Spiel als "eine kultische Anweisung, wie das eigene Leben auf göttliche Weise zu spielen sei." Ein grausiger Spaß aus heutiger Sicht, denn blutige Menschenopfer gehörten zum Ritual. "Doch das Herkunftsland des Fußballs ist China, wo er in einer erstaunlich zeitgemäßen Form zur Ertüchtigung der Soldaten gepflegt wurde: ts'uh küh, 'den Ball mit dem Fuß spielen'". Mit dieser vergleichsweise feinen Spielkultur ließ sich "Calcio", ein Spiel in Italien, "bei dem der Ball mit den Füßen gespielt wurde, aber auch mit den Händen getragen werden durfte", kaum vergleichen. Calcio war ein Spiel der städtischen Oberschicht, das wiederum nichts zu tun hatte mit dem raufigen und "äußerst gewalttätigen" Spiel, das seit dem späten Mittelalter auf dem Land in England und Frankreich gespielt wurde: "Soule". Ein einfaches, zumeist zwischen zwei Dörfern ausgetragenes Spiel, bei dem es galt, den Ball, "la Soule", auf jede mögliche Art zu erobern und zu behaupten.

Der nächste Entwicklungsschritt geschieht in England Mitte des 19. Jahrhunderts. "Die Barbarei der 'Soule' wird in eine gezähmte Variante übergeführt, die das Individuum im Kollektiv aufwertet und neu bestimmt: Der Spieler wird zur Selbstkontrolle verpflichtet, die Geschicklichkeit ersetzt die rohe Gewalt." Auch das "domestizierte Spiel", Rugby, erinnert an seine Wurzeln "als Pseudojagd wie mythisches Ritual der Welterklärung und Lob der Götter." Eine weitere Verfeinerung erfährt das "handling game" am 26.9.1863: An diesem Tag wurde in der Londoner Kneipe "Freemason's Tavern" die Trennung des "dribbling game" vom "handling game" beschlossen. Fußball trennte sich vom Rugby. Dieses Datum darf zu Recht als Geburtsstunde des modernen Fußballs angesehen werden und berechtigt die Engländer, sich als "Mutterland" des Fußballs zu bezeichnen.

Nun beginnt der Siegeszug des Fußballs im 20. Jahrhundert. Der verzögert sich allerdings ein wenig in Deutschland, wo sich der als "Fußlümmelei" verhöhnte Wettkampfsport aus England erst durchsetzen muss gegen die Leibertüchtigungsideologie der dominierenden deutschen Turnerschaft. Während des ersten Weltkriegs wird Fußball bei Engländern und Franzosen zu einer tröstlichen Abwechslung im Kriegsalltag. Unerwähnt lässt Altwegger die Fußballspiele zwischen deutschen und englischen Soldaten, die während der Weihnachtstage 1914 für kurze Zeit die Kriegslogik außer Kraft zu setzen vermochten. Im kollektiven Gedächtnis der Engländer sind diese Fußballspiele während der "Christmas Truce" bis heute präsent.

Als ein Wettkampf der Nationen wird Fußball zunächst unter der Olympischen Fahne, dann aber 1930 zum ersten Mal als eigene Weltmeisterschaft der FIFA durchgeführt. Uruguay heißt der erste Weltmeister, der vier Jahre später aber auf eine Titelverteidigung im faschistischen Italien verzichtet. Dort ist die Weltmeisterschaft Chefsache: "Titel oder Tod" fordert Mussolini martialisch von seinen Kickern. Die erfüllen mithilfs bis heute skandalöser Begleiterscheinungen die Forderung und werden weisungs- und erwartungsgemäß Weltmeister. Die Folgen der faschistischen Vereinnahmung des Fußballs, so führt der Autor überzeugend aus, sind bis heute im italienischen Fußball spürbar, so etwa bei Silvio Berlusconi, "in dessen Strategie der Machterhaltung der Fußball so wichtig geworden ist, wie er es bei Mussolini war". Angesichts von rassistischen Auswüchsen und gewaltbereiten Ultras in Italiens Stadien resümiert der Autor: "Den binnenpolitischen Terrorismus hat Italien besiegt - mit dem Fußballfaschismus wird es nicht fertig, und will es wohl auch nicht."

Und was ist "Fußballfaschismus" heute? Die noch aus dem "Geist der 'Soule'" resultierende Unbedingtheit des Siegs, die Herabsetzung des Gegners, die sich besonders krass im Derby äußert, in dem sich die archaische Stammesauseinandersetzung erhalten hat, sowie der "Kult der Helden im Stadion, die Verherrlichung des Sieges sind Ausdruck des Fußballfaschismus." Eine schwer lastende Behauptung, aber sie verweist auf die "verdrängte Seite des archaischen Rituals Fußball" - den "nackten Haß, der in ihm steckt". So wie er am 29. Mai 1985 sichtbar wurde, als im Brüsseler Heysel-Stadion vor dem Europokalendspiel zwischen Juventus Turin und FC Liverpool "protestantische Fans aus England [...] auf die italienischen Katholiken stießen und eine allgemeine Panik auslösten, in der 39 Menschen zu Tode getrampelt wurden."

Doch steht die Tragödie nicht am Ende der Fußballgeschichte. Als das herausragende Beispiel für die andere, die 'bessere' Seite des Fußballs beschreibt der Autor das 'Multikulti-Projekt' des französischen Titelgewinns 1998. Fußball wird zum Ausdruck eines mit historischem Bewusstsein betriebenen Gesellschaftsprojekts der Integration. Es zeigte sich, "daß die beste Mannschaft noch besser und wirklich erfolgreich wird, wenn sie ein gesamtgesellschaftliches Projekt verkörpert." Das Ergebnis dieser Projektarbeit: "Nach der multikulturellen französischen Revolution am Ende des vergangenen Jahrhunderts gehört zum modernen Fußball inzwischen auch eine Prise postnationaler Ironie und Spielerei."

Im "Zeichen des postnationalen Fußballs" wird nach Ansicht des Autors die WM 2006 stehen, und es "kann dafür kein besseres Land als Deutschland geben". Seit Klinsmanns Dienstantritt als Bundestrainer wird endlich nun auch der deutsche Fußball von seinen "nationalen Tugenden" befreit und global konkurrenzfähig. Diesen Aufbruch aus Erstarrung sieht Klinsmann selbst durchaus im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Projekts. Auf dass die deutsche Mannschaft dann auch sportlich davon profitiere...

Das Fazit dieses anregenden Essays: Der Fußball wurde "zu einer Metapher für den ewigen Dualismus unserer Gesellschaften. Ob es die Gegensätze der Geschlechter, von Hand und Fuß, von Körper und Seele, Gut und Böse sind: der Fußball setzt sie in Szene und entschärft sie auch [...] Der Fußball verwandelt mehr Haß und kanalisiert mehr Gewalt, als er je ausgelöst hat. Diese Bilanz darf gezogen werden - zwanzig Jahre nach Brüssel."


Titelbild

Jürg Altwegg: Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
252 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446207090

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