Diagnose: noch nicht überforscht

Ein Sammelband über Nibelungenlied und Nibelungenklage versammelt wichtige Aufsätze der letzten 30 Jahre

Von Daniel KönitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Könitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Nibelungenlied gehört ohne Zweifel zu den bekanntesten und literarisch anspruchsvollsten Werken mittelhochdeutscher Literatur. Dementsprechend ist das "deutsche Nationalepos" in der altgermanistischen Literaturwissenschaft auch auf besonders großes Interesse gestoßen. Soll heißen: Die Zahl der zum oder über das Nibelungenlied erschienenen wissenschaftlichen Publikationen hat einen Umfang erreicht, der für den Einzelnen eigentlich nicht mehr zu überschauen ist. "[K]ein Semester ohne Nibelungenliedseminar, kein Semesterabschluß ohne nibelungische Qualifikationsschrift, und kaum eine wissenschaftliche Zeitschrift ohne ein neues, letztes Wort zum Text." So könnte oberflächlich der Eindruck entstehen, dass das Nibelungenlied überforscht sei, weil es "geradezu überforscht sein müsse".

Christoph Fasbender - wissenschaftlicher Assistent am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena - teilt diese Ansicht jedenfalls nicht. Für ihn ist das Dialogische, das er in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied nach wie vor ausfindig machen kann, ein ganz wesentlicher Bestandteil der Forschungsarbeit, die Bereitschaft "ins Gespräch zu folgen". Von zusammenhanglos einsetzenden Stimmen, die nur noch monologisch vortrügen - laut Fasbender ein Anzeichen für Überforschung -, könne allerdings selbst beim viel besprochenem Nibelungenlied nicht die Rede sein. Und somit versteht der Herausgeber die in seinem Buch "Nibelungenlied und Nibelungenklage" versammelten Beiträge auch nicht als "Meilensteine" der Nibelungenlied-Forschung. Ihnen allen liegt vielmehr gemeinsam die Fragestellung zugrunde, unter "welchen Voraussetzungen das Nibelungenlied als Dichtung im ausgehenden 20. Jahrhundert zu verstehen sei".

In diesem Zusammenhang verweist der Herausgeber auf die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie der Nibelungendichter seinerzeit mit der "zweifellos präsenten" mündlichen Erzähltradition verfuhr bzw. sie in den Verschriftlichungsprozess einbezog. Zwei Ansichten haben sich da im wissenschaftlichen Diskurs wesentlich herausgebildet, die der Herausgeber einerseits als "Schalten" und andererseits als "Verwalten" bezeichnet. Das Erste steht für eine "in allen Punkten durchdachte und daher so und nicht anders beabsichtigte dichterische Formung des Stoffes", was gleichzeitig bedeutet, dass alle Darstellungen vom Erzähler motiviert sind bzw. die Widersprüchlichkeiten innerhalb des Nibelungenlieds Fehler sind, die zu korrigieren der Dichter wohl "vergessen" hat. Das "Verwalten" hingegen berücksichtigt mehr eine starke Abhängigkeit des Dichters vom Traditionsgut. Das bedeutet, dass das Nibelungenlied mehr als eine "Zusammenfügung von Aventiuren im 'Bilderbogenstil'" gesehen werden muss, dem es daher auch an "innerer Geschlossenheit mangele". Im Gegensatz zum "Schalten" ließe sich mit dem letztgenannten Ansatz auch die überraschende Hortforderung am Ende des Nibelungenlieds plausibel machen.

Christoph Fasbender hat für seinen Band "Nibelungenlied und Nibelungenklage" zehn Beiträge aus den vergangenen drei Jahrzehnten der Nibelungenlied-Forschung ausgewählt. Sieben davon - darunter auch ein Originalbeitrag von Cordula Kropik - befassen sich speziell mit dem Nibelungenlied, drei Aufsätze beleuchten insbesondere die Zusammenhänge von Nibelungenlied und Nibelungenklage, da die 'Klage' von Anfang an als "eine Art 'Kommentar' zum Nibelungenlied gedacht war und in der Regel mit jenem gemeinsam überliefert wurde".

Da es sich in fast allen Fällen um Wiederabdrucke bereits publizierter Aufsätze handelt, soll lediglich der Originalbeitrag "Inszenierte Sage. Überlegungen zum Traditionsverständnis des Nibelungenepikers" von Cordula Kropik besondere Beachtung erfahren, während dann im Anschluss einige der übrigen Beiträge stellvertretend herausgegriffen und deren Kernthesen in Erinnerung gebracht werden sollen.

Cordula Kropik geht in ihrem aktuellen Aufsatz davon aus, dass der Nibelungendichter sich weder nur für das - wie es Christoph Fasbender in seiner Einleitung genannt hat - "Schalten" noch für das "Verwalten" entschieden hat. Vielmehr glaubt sie, dass er beide Methoden anwendet, was "auf eine Sichtweise hin[deutet], die ihren Stoff weder als bloßes Spielmaterial noch als unhinterfragbare Autorität begriffen haben kann". Das Epos selbst sei als "eigenständiges Gebilde lediglich aus der Tradition, im Dialog und in Wechselwirkung mit ihr zu verstehen". Es müsse daher so etwas wie ein kritisches Bewusstsein des Dichters der Sage gegenüber gegeben haben. Anhand zweier Beispiele - der Königinnenstreit und die Ankunft der Burgunden am Hof der Hunnen - zeigt Kropik, wo der Dichter alternative Versionen "nebeneinander[ge]setzt, ineinander montiert oder auch durch Eigenes ergänzt" hat. Der Streit zwischen Kriemhild und Brünhild werde von dem Dichter durch eine neuartige "räumliche Integration", die auf keine der Quellen zurückzuführen ist, neu in Szene gesetzt. In diesem Fall ermöglicht die dichterische Selbstständigkeit dem Epiker "die divergierenden Versionen des Königinnenstreits zusammenzufügen".

Im zweiten Beispiel sind die Eingriffe des Dichters besonders deutlich. Aus Sicht der Handlung eigentlich entbehrlich, verrät sich die 29. Aventiure "durch ihre intensivere Raumgestaltung" als eine Einfügung des Nibelungendichters. Figurenkonstellationen werden verändert (Dietrich von Bern wird zum Beispiel durch Volker ersetzt) und auch die Handlungsführung variiert: Während Kriemhild in der 28. Aventiure noch als hinterhältige vâlandinne stilisiert wird, die feindselig die Konfrontation provoziert, geht in der darauf folgenden Aventiure das Aggressionspotenzial von Hagen aus. Kriemhild tritt lediglich als "Anklägerin" auf. Für die Autorin zeigt sich hier ein Beispiel für genau das, was mit der Kombination von "Eigenständigkeit und haushälterische[r] Gebundenheit" gemeint ist: "Die 'überflüssige' Doppelung des Burgundenempfangs strebt aber auch keine Korrektur oder Ersetzung der Sage an: Weder wird das negative Bild von Kriemhilt heruntergespielt oder gar negiert noch die neue Version als die bessere dargestellt - vielmehr werden hier gezielt zwei gleichwertige, widersprüchliche Erklärungsmöglichkeiten der Katastrophe lanciert." Zusätzlich meint Kropik einen Perspektivwechsel zwischen der 28. und 29. Aventiure ausmachen zu können. Die Darstellung liege sozusagen im Auge des Betrachters: Zuerst wird die Ankunft am hunnischen Hof aus der Sicht der misstrauischen Burgunden erzählt, danach aus Sicht der Hunnen, was auch die positive Zeichnung der Kriemhild-Figur erklären würde.

Die Schlussfolgerungen, die sich für die Autorin daraus ergeben, lauten, dass das Erzählte nicht mehr den Anspruch "objektiver Faktizität" hat, sondern einen subjektiv parteilichen Charakter bekommt. Es handele sich daher um eine musivische Wahrnehmung. "So müssen wir den Eindruck der Lückenhaftigkeit, der gemeinhin als Symptom einer schwierigen Adaption der Tradition gedeutet wird, in unseren Szenen als durchaus gesucht, ja sogar als konstruiert erkennen." Kropik geht sogar so weit und stellt die These auf, ob die untersuchten Episoden nicht sogar auf "Augenzeugenberichte" zurückgehen und sich somit auch ergänzen oder widersprechen könnten. Das hieße, der Erzähler wäre nicht mehr allwissend und könne daher die gesehenen Berichte auch nicht korrigieren. Somit wäre das Nibelungenlied keine zwingend kohärente, sondern eine - zumindest in den ausgewählten Beispielen - alternative Darstellung des Handlungsgeschehens. So schlüssig diese Interpretation auch sein mag, so formuliert Cordula Kropik selbst einschränkend: "Einer gewissen Kühnheit entbehrt diese Annahme gleichwohl nicht, setzt sie doch eine in der zeitgenössischen Literatur wohl einmalige Reflexions- und Gestaltungsleistung voraus."

In seinem Aufsatz "Montage und Individualität im Nibelungenlied" - bereits 1987 publiziert - macht Walter Haug anhand der Kriemhild-Figur eine Abweichung von der Norm Inneres = Äußeres deutlich. Für Haug wird Kriemhild durch ihre Verstellung "zur ersten Gestalt in der mittelalterlichen Literatur, die ihre persönliche Erfahrung als ihr Schicksal annimmt und ihr Leben individuell entwirft".

Peter Strohschneider wagt in seinem Beitrag ein "strukturanalytisches Experiment" und analysiert die Siegfried-Handlung vor der Folie des Schemas der "gefährlichen Brautwerbung". Er sieht in der Ermordung Siegfrieds - in dem Schema fungiert er als Werbungsrivale Gunthers - die einzig mögliche strukturelle Lösung: "Der Beste muß aus der Welt geschafft werden, damit Gunther, welcher der Werber war, aber der Beste nicht war, dieses werden kann [...]."

Ursula Schulze bezieht sich in "Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. Bedeutung und Deutung der Standeslüge und die Interpretierbarkeit des 'Nibelungenliedes'" wesentlich auf den ersten Teil - die Siegfried-Handlung - des Epos. Sie arbeitet zwei unterschiedliche Ebenen der Standeslüge heraus - eine magisch-physische sowie eine gesellschaftlich-hierarchische - und sieht innerhalb der gesamten Betrugshandlung die Standeslüge als "offene Stelle", die schließlich in die Katastrophe führt.

Michael Curschmann geht in "'Nibelungenlied' und 'Nibelungenklage'. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung" auf zwei zentrale Aspekte ein. Zum Einen sieht er in der Sprache des Nibelungenlieds etwas ganz Spezifisches, nämlich eine Stilisierung der mündlichen Dichtungsform, die er in der Folge auch als "nibelungisch" bezeichnet. Zum Zweiten verdeutlicht Curschmann die Beweggründe der literarischen Koppelung von Nibelungenlied und 'Klage': "Die 'Klage' repräsentierte einen im Sinn der geltenden ästhetischen Normen legitimen Buchtyp und konnte so den revolutionären Neuling mittragen."

In "'Nibelungenlied' und 'Klage'. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200" verweist Nikolaus Henkel auf den Plausibilisierungscharakter der Nibelungenklage. Bereits um 1200 habe es Unklarheiten im Nibelungenlied gegeben, die einer Erklärung bedurften. Daneben macht Henkel darauf aufmerksam, dass "die in den mittelalterlichen Handschriften obligate Koppelung von 'Lied' und 'Klage'" Rückschlüsse auf den um 1200 herrschenden Werkbegriff zulasse. Somit Nibelungenlied und 'Klage' wohl nicht als Einzeltexte, sondern als eine Art "Erzählkomplex" gesehen wurde. Diese Ansicht sei jedoch in der wissenschaftlichen Editionspraxis des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend "unberücksichtigt" geblieben.

Weitere Beiträge stammen von Fritz Peter Knapp "Tragoedia und planctus. Der Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati", Joachim Heinzle "Zum literarischen Status des Nibelungenliedes", Jan-Dirk Müller "Sage - Kultur - Gattung - Text. Zu einigen Voraussetzungen des Verständnisses mittelalterlicher Literatur am Beispiel des 'Nibelungenliedes'" und Burghart Wachinger "Die 'Klage' und das Nibelungenlied".

Neben der bereits weiter oben erläuterten Einleitung hat Christoph Fasbender dem Sammelband "im Bewußtsein der Subjektivität" noch eine bibliografische Auswahl abschließend beigefügt. Diese Literaturhinweise sind hilfreich, weil der Herausgeber vorsichtige Wertungen einzelner Publikationen einfließen lässt, die somit zumindest den Nicht-Experten beim Gang durch das Labyrinth der Nibelungenlied-Literatur etwas an die Hand nehmen. Trotzdem stellt sich gerade der Abschnitt mit den "Einführungen" zum Nibelungenlied als nicht auf dem aktuellsten Stand dar. Das mag unter Umständen am sich mit einigen Neuauflagen überschneidenden Publikationszeitpunkt des Sammelbands gelegen haben. Nicht nachvollziehbar unerwähnt dagegen bleibt, dass Ursula Schulze schon 2003 ihre Einführung durchgesehen und bibliografisch ergänzt hat bzw. dass die von Fasbender "dringend" eingeforderte Neubearbeitung der 5. Auflage von Werner Hoffmanns Nibelungenlied-Einführung bereits 1992 im Metzler Verlag erschienen ist. Eine Unachtsamkeit, für die wohl eher der Verlag verantwortlich ist, betrifft die Seitenzählung, die im Inhaltsverzeichnis ab dem fünften Beitrag um eine Seite differiert. Nebeneffekt: Die vom Herausgeber sorgfältig vorgenommenen Querverweise in den aktualisierten Anmerkungen der Beiträge - die im Übrigen neben der sinnvollen Auswahl der Aufsätze auch sehr gut das oben angesprochene Dialogische der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen erkennen lassen - weichen ebenfalls ab.

Von den formalen Schwächen, die sich bei wissenschaftlichen Publikationen leider tendenziell häufiger beobachten lassen, einmal abgesehen, bietet der Band dem Interessierten einen verständlichen Einblick sowohl in spezielle, als auch in ganz grundsätzliche Aspekte der Nibelungenlied-Forschung. Mit dem Aufzeigen der dialogischen Querverbindungen innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion der letzten 30 Jahre beweist der vorliegende Band, dass auch eine Publikation zum Nibelungenlied die These der "Überforschung" widerlegen kann.


Titelbild

Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2005.
239 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3534181859

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