Monströse Leidenschaften

David Peace lässt die Moral hinter sich

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Mensch würde ernsthaft behaupten, wir lebten in friedlichen Zeiten. Wie zivil es jedoch mittlerweile in den Industrieländern geworden ist (no go areas hin, Problemschulen her), zeigt ein Blick in jene friedloseren Zeiten, aus denen David Peace auch in seinem neuen Roman berichtet (wenn Romane berichten können). "1977", der zweite Teil einer vierbändigen Reihe, spielt in einem England der späten 70er-Jahre, in denen rassistische Polizisten, prügelnde Luden und drogenabhängige Prostituierte die Szenerie prägen. Ein zugegeben unfairer Gesellschaftsausschnitt, in dem jene Welt, in der die Frage, in welcher Farbe die Wände der Küche gestrichen werden sollten, keine Rolle spielt. Aber bezeichnend ist das doch, was Peace hier präsentiert. Nicht zuletzt in dem, was er eben nicht zeigt, eben nicht die verhältnismäßig heile bürgerliche Welt, die Wert auf ihre Umgangsformen legt. Eben auch nicht die Perspektive von denjenigen, die Peace im Roman zu Opfern werden lässt. Das Profil des Serienkillers, dessen Taten die Handlung des Romans vorantreibt, ist von besonderer Brutalität und Blutrünstigkeit. Er überfällt Frauen, Prostituierte, wie sich herausstellt, und ermordet sie auf bestialische Weise - er schneidet ihre Brüste ab, springt auf ihrem Brustkorb herum und weidet sie mit einem Kreuzschlitzschraubenzieher aus. Und das immer wieder. Aber Peace rückt diese Gewaltorgie, die im Laufe der Erzählung ein Opfer nach dem anderen fordert, bemerkenswert weit in den Hintergrund. Im Vordergrund stehen die beiden Figuren, bei denen diese Untaten schon im Vorfeld traumatische Reflexe auflösen.

Bob Fraser und Jack Whitehead, Polizist der eine, Gerichtsreporter der andere, sind zwar beide auf den Serienkiller angesetzt, und sie suchen auch nach ihm. Aber davor steht ihr eigentliches Ziel, sich nämlich frei zu machen von den blutrünstigen Bildern zerstörter Frauenleiber, die ihnen bis in die Tag- und Nachtträume hinein folgen.

Denn beide sind in einem Maße traumatisiert, dass sie im eigentlichen Sinn handlungs- und lebensunfähig werden. Das hat allerdings für sie unterschiedliche Konsequenzen. Wo Whitehead sich aus dem Suff heraus auf die Suche danach macht, was alle diese Taten in Zusammenhang bringt, hängt Fraser seiner desaströsen Leidenschaft für eine Prostituierte nach. Dafür verlässt er seine Frau - die Tochter eines Kollegen - und seinen Sohn. Der Klassiker also: Bulle lässt sich auf was ein und kommt nicht mehr davon los.

Aber, Frasers Seitensprung ist mehr als nur eine kurzzeitige Liaison dangereuse aus dem Polizeimilieu. Der Sex feiert seine heftigen Urständ und frisst seine Kinder, mit Haut und Haar. Keine Frage, was passiert, als die junge Frau verschwindet und schließlich tot aufgefunden wird, zumal Fraser einen Kollegen fast zu Tode prügelt (der der Zuhälter der Frau war) und anschließend für Tage im Suff verschwindet. Whitehead hingegen, angeblich der beste Reporter, den die Polizei je gesehen hat, wird mit dem Neustart der Serienmorde reaktiviert und macht sich mit schmutzigem Anzug und stinkendem Schritt, die Alkoholfahne im Triumph vor sich her tragend, auf die Suche. Wo Fraser in der Selbstauflösung der Begierde Erlösung sucht (und dabei mehr und mehr dem blutrünstigen Trauma verfällt), wählt Whitehead so etwas wie die Alkoholversion der Aufklärung. Dass beides nicht wirklich funktioniert, kann man ahnen, wenn man ihnen bei ihrem rasch abschüssig werdenden Weg einigermaßen aufmerksam folgt.

Souverän ist hier niemand, der Polizist nicht und der Journalist auch nicht. Nicht einmal der Serienkiller hält das Heft in der Hand - wie es etwa in David Finchers Kino-Thriller "Seven" der Fall war. Auch ist das Verhältnis zwischen Ermittler und Mörder einigermaßen uninteressant, auch wenn der Killer Kontakt aufnimmt. Und so gibt es am Ende auch keine wirkliche Lösung des Falls, sondern nur eine Erlösung der beiden Fälle, die uns wirklich interessieren. Das ist in einer Welt, in der die Übergänge zwischen den Guten und den Bösen fließend sind, nicht weiter verwunderlich. Allerdings erfüllt Peace, dessen Vorlage - so er selbst - der Yorkshire Ripper seiner Jugend war, nicht das Paradigma, nach dem die psychische Struktur aller Menschen gemischt ist - wonach das Böse also in jedem stecken kann und die Affinität zur Gewalt nur unter einen dünnen zivilisatorischen Schicht verborgen liegt. Stattdessen ist im Grunde die gesamte Gesellschaft von Gewalt durchzogen. Sie ist von Gewalt geprägt, und das, was an Institutionen sich dem Ermitteln und Strafen verschrieben hat, dient nicht dazu, eine friedlicher Koexistenz zu ermöglichen, sondern nur die schlimmsten Extreme zu bewältigen, soll heißen: am besten zu eliminieren. Moral gibt es hier nicht, sondern nur ein Recht des Stärkeren, Recht gibt es hier nicht, sondern nur die Übermacht der einen über die anderen. Anders gewendet gibt es nur das Leiden an der Gewalt und wenig Hoffnung, dass das anders werden könnte.

Ein beängstigende Szenerie also, die Peace heraufbeschwört - und man wird sich fragen dürfen, ob er sie quasi im zivilisatorischen Auftrag herbeizitiert (die Welt möge sich bessern, zumal in Angesicht der vergangenen, schlechteren Zeiten) oder ob er sich darauf beschränken will, dem gut situierten, wohlstandsbürgerlichen Lesepublikum den wohligen Schauer über den Rücken laufen zu lassen, den es wohl angesichts der Blut- und Gewaltorgien verspüren mag. Die Lesesituation ist zumindest arg irritant: Im Lesesessel oder ins Sofa geflezt von zertrampelten Leibern zu lesen ist selbst schon monströs. Wie heimelig im Vergleich dazu die Morde der vergangenen Jahrzehnte. Aber will man die Entwicklung, auch die literarische, aufhalten? Dem Kriminalgenre ist nun mal den Zwang zur Überbietung und Variation inhärent. Und wer schocken und schrecken will, muss sich etwas Neues einfallen lassen oder Bekanntes neu kombinieren.

Die wirkliche Qualität, die der Roman hat, liegt aber nicht darin, dass er die Schreckensschraube weiter anzieht, sondern - und man höre und staune - dass er seine Geschichte (welchen Inhalt sie auch transportieren soll) mit unglaublicher Souveränität und Rasanz erzählt. Und das mit allen Mitteln, die ihm die moderne Stilistik zur Verfügung stellt: innere Monologe, rasche, kaum nachvollziehbare Perspektivenwechsel, schnelle Schnitte, Raffungen und Dehnungen. Das Ganze kommt dabei nicht als billiger handwerklicher Erzähltrick daher: Schneid' ich hier mal meinen Dialog ab, spring' woanders hin und komme erst später wieder. Nein, Peace bleibt über die gesamten fast vierhundert Seiten gleichermaßen schnell, attraktiv und erzählerisch auf hohem Niveau. Soll heißen: Sie nehmen das Ding in die Hand und erst wieder aus der Hand, wenn Sie es aus haben. Das raubt einem nicht den Schlaf, weil man ähnlich traumatisiert würde wie Whitehead und Fraser, sondern weil ein Abend - bei allem eigenen Lesetempo - zu kurz ist, um durchzukommen. Das muss wohl ein Teil des Nachtschlafs dran glauben. Also nicht vor wichtigen Terminen lesen.


Titelbild

David Peace: 1977. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2006.
396 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3935890362

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