Die Grenze des Rheins ist fließend

Ein DFG-Tagungsband nimmt Orte und Räume der Literatur in den Blick

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband "Topographien der Literatur", Band XXVII der Germanistischen DFG-Symposien, wird angesichts seiner rund 800 Seiten und des hellblau glänzenden Schutzumschlags in einer durchschnittlichen (Instituts-)Bibliothek auch ohne Signatur recht gut zu orten sein. Das (Wieder-)Finden lohnt sich, denn er ist ein falscher Schmöker - weil er fesselt, ohne anspruchslos zu sein. Das Wissen, das er versammelt, ist immens, und jeder Beitrag bietet andere schöne, unerhörte, ungelesene Überraschungen, Funde, Kontexte. Die Themen der in vier Rubriken ("I. Repräsentationen diskursiver Räume" - "II. Räume der Literatur" - "III. Literarische Räume" - "IV. Die Grenzen und das Fremde") untergebrachten 29 Texte sind weit gefächert; Homers Odyssee, der Straßburger Alexander, Hölderlins Wanderungen, Benjamins Passagen und Hubert Fichtes Verwandtschaften sind dabei ebenso Gegenstand der beschriebenen Lektüren wie etwa "welcher Gestalt Petrus Cambie/ ein Frantzoß/ umb sein Leben kommen", der Äquator, Arabienexpeditionen im 18. Jahrhundert, der unvollendete Kölner Dom, "Luftfracht", der Tausch oder die Aspen Movie Map.

Das Buch ist in Zusammenhang mit dem Thema der Deutsch-Französischen Beziehungen und der Problematisierung, wie Kulturbeziehungen beschrieben werden könnten, von Gewinn, weil - so seine These - Kulturen zuvorderst Topografien seien. Mit "Topographien" werden hier in Folge des 'topographical turn' vor allem rhetorische und mnemotechnische "Orte" verstanden, die (nationale) Kulturmodelle und Wissensordnungen - und damit auch Kulturräume - konstituieren, voneinander abgrenzen und stabilisieren. Hinsichtlich der Topografien der Literatur geht es dabei vor allem um die Frage, inwiefern der in der Literatur verhandelte Raum auf den Wissensdiskurs und somit auch auf kulturelle Identitätsversicherungen und Abgrenzungen zurückwirkt. In möglichst 'dichten Beschreibungen' möchte der Sammelband also die literarischen Bedeutungsnetze herausarbeiten, die Kulturen konstituieren.

Dies zeitigt oder verräumlicht interessante Stellen: Gleich zu Beginn des Bands wird der Konstruktionscharakter von Kultur hervorgehoben, wenn Hans Jürgen Scheuer in seinem Beitrag "Cerebrale Räume" darauf hinweist, dass bei Quintilian die rhetorische Figur "topographia" etwas räumlich und zeitlich Unverortbares bezeichnet; dies allerdings mit solcher Intensität, als habe es wirklich stattgefunden. Hartmut Kugler stellt an den 'drei Materien' Jean Bodels und der 'Matière de la Germanie' dar, wie bei der Übersetzung der Materien ins Deutsche der Erzählstoff zwar ummodelliert, die Topografie aber - insbesondere der Rhein als Grenze - beibehalten wird. Die "kognitive Kartierung" (Kugler) der Materie war also nicht frei verfüg- und veränderbar, sondern Bestandteil des Stoffs. Dies ist vor allem für die Deutsch-Französischen Kulturbeziehungen ebenso aufschlussreich wie Reinhold Görlings Beobachtung, dass das Genre der Denkmäler für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Kriegs von 1871 oder des Ersten Weltkriegs in beiden Ländern kaum variiert. Torsten Hahn gelingt bei seinem Versuch über die Frage, inwiefern Literatur einen vorgreifenden Kommentar auf geopolitisches Möglichkeitsdenken abgeben kann, eine innovative und komplexe Verschränkung von topografischer Kulturwissenschaft mit systemtheoretischen Bausteinen. Anhand der Romane "Der Tunnel" von Bernhard Kellermann und "Atlantropa" von Herman Sörgel wird nachgezeichnet, wie Literatur populäre Kommunikationsformen von Raumvorstellungen entwirft.

Viele weitere Stellen verdienten es, hervorgehoben zu werden; stattdessen sei aber mit Hahns aus der Theorie und nicht aus der Literatur gewonnenem Statement, dass Literatur gerade auf der Unterscheidung aktuell/potentiell aufbaue, auf ein Problem des gesamten Bands eingegangen, und zwar auf den Gegenstandsbereich:

Inzwischen sind den geografischen und medizinischen Topografien (z. B. der "Topographie der Kopfnerven vom Huhn") zahlreiche kulturwissenschaftliche "Topographien" zur Seite gestellt. Die "Topographien der Literatur" fehlten in dieser Reihe noch - zumindest in solch expliziter Nennung. Wenn das von der DFG ursprünglich vorgegebene, im Untertitel ("Deutsche Literatur im transnationalen Kontext") noch überlieferte Rahmenthema den Veranstaltern zu umfassend erschien und auf topografische Fragestellungen eingegrenzt wurde, ist nicht ganz nachvollziehbar, warum diese Eingrenzung wiederum auf interkulturelle Austauschprozesse erweitert wurde. Dadurch geht die Unterscheidungsmöglichkeit zu anderen Kulturtopografie-Darstellungen und -Sammelbänden, die der Titel verspricht, verloren. Zum einen wird der Begriff der "Literatur" kaum thematisiert oder problematisiert; nur Horst Wenzel stellt sie apodiktisch in den Raum von kulturellen Praktiken, und Hartmut Böhmes Einleitung versteht sie als "vernetzte Räume mit eigenen Kartographien". Im Käscher dieser stark genormten - in Maßen natürlich notwendigen - topografischen Sprache verfängt sich dann mancher Beitrag, dem vor lauter "Netzwerk", "Karte", "Verortung" und "Topographie" der Gegenstandsbereich zu verschwimmen und der Nutzen der Begriffe in ihrer inflationären Anwendung zu verschwinden droht. Zum anderen werden die Thesen zu selten direkt an der ausgewählten Literatur herausgearbeitet. Literatur erscheint hier oftmals als unproblematischer Klartext; sie muss als Beweisstück, zur Untermauerung von unabhängig von ihr aufgestellten Thesen herhalten, womit der Sammelband an einigen Stellen hinter eine erreichte methodische Vorsicht vieler Literaturtheorien im Umgang mit Literatur zurückfällt.

Eine der diesbezüglichen Ausnahmen ist der großartige Beitrag "'Schiffe der Wüste', 'Schiffe des Meeres'" von David Martyn, der anhand der Prosa von Emine Sevgi Özdamar, Salim Alafenisch und Yoko Tawada das Verhältnis von Metapher und Raum thematisiert. In einem ersten Teil wird aufgezeigt, wie metaphorischer Sprachgebrauch imstande sein kann, Kulturtopografien zu erzeugen, die es erlauben, sich zu situieren und der eigenen Identität in Abgrenzungen zu versichern. Metaphern sind mit Martyn nichts anderes als der Name für den Wunsch nach Verortbarkeit, nach der Sicherheit topografischer Bestimmungen. Sehr schön wird dann an der "Zunge" Özdamars, den "Schiffen des Meeres" Alafenischs und dem "es" Tawadas herausgearbeitet, wie diese Sicherheit, die auf der Unterscheidung von "eigen" und "fremd" aufbaut, ins Wanken kommen und der Begriff der Metapher selbst hinfällig werden kann. Denn die ausgewählten Literaturen erlauben es nicht, den metaphorischen Raum, den sie aufspannen, in 'vertraut' und 'fremd', 'nah' und 'fern' einzuteilen. Die Leser werden in dieser Unentscheidbarkeit aus dem metaphorischen Raum herausgeholt und auf den Textkörper selbst, auf die Buchstäblichkeit der Texte hingelenkt, indem sie mit der Fremdartigkeit ihrer eigenen Sprache konfrontiert werden. Eine solche Literatur, so Martyn, schafft keine Topografie und lässt auch keine mehr zu.

Philologischer Lektüre - denn nichts anderes beschreibt Martyn hier - wird in ihrer Genauigkeit also auch die eigene Kultur fremd, oder besser: weder fremd noch eigen. Diese Unentscheidbarkeit verspricht viel für Kulturbeziehungen jeglicher Art. Ein bisschen mehr von dieser Lektüreform, und der inspirierende Aufsatzband wäre rundum gelungen.


Titelbild

Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
792 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783476021175

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch