Leben - was sonst?

Eine Frage an Gottfried Benn

Von Dieter WellershoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Wellershoff

Ich habe mich jahrzehntelang nicht mehr mit Benn beschäftigt, und die Fremdheit hat zugenommen. Zwar ist sein Werk - die Lyrik ohnehin, aber auch seine weltanschaulichen Positionsbestimmungen und poetologischen Konzepte - immer als ein Hintergrundwissen in mir anwesend geblieben, aber das wurde mit der Zeit überlagert und verschattet von anderen Zusammenhängen. Zur Eröffnung eines Gespräches muss ich mich deshalb mit einer Frage an ihn wenden, die eigentlich eine Gegenfrage zu einer von ihm gestellten Frage ist. Seine Frage lautet in herausfordernder Zuspitzung "Wie soll man da leben?" Meine ebenso kurze Gegenfrage, die auch den Titel meines Beitrags bildet, ist eigentlich schon die Antwort: "Leben - was sonst?"

Benns Frage steht in dem Prosastück "Epilog und lyrisches Ich", mit dem er im hochpathetischen Stil eines Abschieds von der, wie er fand, gott- und sinnverlassenen materialistischen Welt der modernen Wissenschaft und der Medizin seine 1921 erschienenen "Gesammelten Schriften" abschloss. Mit einem eingefügten Rückblick auf Benns durch eine wachsende innere Lähmung bedingtes Scheitern als Psychiater bildet der Text den autobiografischen Hintergrund der Verstörungsgeschichten des jungen Arztes Dr. Rönne, mit denen Benns Werk, zusammen mit den Morgue-Gedichten, Aufsehen erregend begann.

Den Satz meiner Gegenfrage las ich, zufällig auf dem Fahrrad vorbeifahrend, auf einem großen blauen Plakat, mit dem die ARD eine Sendereihe zum Thema "Krebs" ankündigt, und fühlte mich sofort auf Benn verwiesen. Während dieser Fahrradfahrt ging mir vieles durch den Kopf: Das Gedicht "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke" fiel mir ein, das mich tief beeindruckt hatte durch die unbarmherzige Beschreibung des körperlichen Verfalls, die im Sinne der liturgischen Begräbnisformel "Erde zu Erde" mit der Vision der allmählichen, unaufhaltsamen Zurückverwandlung der Körper in Erde endet. Dabei erinnerte ich mich, dass Benns Mutter unter schrecklichen Schmerzen an Krebs gestorben ist, angeblich weil ihr Mann, ein strenggläubiger protestantischer Pfarrer, Benn verboten hatte, ihr schmerzstillende Mittel zu geben, da ihm das als unerlaubter Eingriff in Gottes Willen galt. Jemand aus der Familie hat allerdings gesagt, der Verzicht auf schmerzstillende Mittel sei im Einverständnis mit der Kranken geschehen.

Im Gegensatz dazu musste ich an meinen jüngeren Bruder denken, der an Leukämie gestorben ist und in den letzten Monaten in seinem unbändigen Wunsch zu leben die schwersten Chemotherapien erduldet hatte. Wenn man ihn nach seinem letzten Wunsch gefragt hätte, dann hätte er zweifellos im Sinne des Plakats geantwortet: "Leben - was sonst?" Vor allem aber tauchten durch diese Frage auch wieder Erinnerungen an den Krieg in mir auf, unvergessliche Szenen des Sterbens ringsum, junge eben erst 18jährige Menschen mit Kopfschüssen, Halsschüssen, Lungenschüssen, ein kreidebleicher Toter in einem Wassergraben, Sterbende im Heidekraut einer Angriffsstrecke, schon mehrfach getroffen, weil man sie von dort nicht abtransportieren konnte, ich selbst mit einem Granatsplitter im Bein aus der Feuerzone wegkriechend mit dem heißen Wunsch und Willen zu überleben. Und viele andere Szenen, andere Eindrücke dieser Art.

Das Glück, am Leben geblieben zu sein, das mich in den ersten Jahren nach dem Krieg erfüllte, hat mich nie ganz verlassen. Das erklärt vielleicht meine Ungeduld gegenüber lebensverneinender Larmoyanz oder blasierten Attitüden von Lebensverachtung, für die es bei Benn viele Beispiele gibt. "Leben - niederer Wahn!" beginnt ein Gedicht. "Das Leben, - das Speibecken, in das alle spuckten, die Kühe und die Würmer und die Huren" heißt es in einem Prosatext.

Doch bevor ich mich diesem Motiv bei Benn zuwende, möchte ich von einem Erlebnis erzählen, bei dem die Gegensätze - nicht nur zwischen Benn und mir, sondern auch bei Benn selber - sich in einem anderen emotionalen Klima, aber in derselben Struktur mit schneidender Schärfe gezeigt haben. Es handelt sich um den Besuch eines jungen Mannes, der mich um ein Interview gebeten hatte und mit dem ich ein kurzes, aber folgenreiches Gespräch hatte. Ich hatte eigentliche keine Zeit für ein Gespräch, weil ich dabei war, ein Buch zu Ende zu schreiben. Aber er war sehr höflich am Telefon. Und weil ich eine Dringlichkeit aus seinen Worten herauszuhören glaubte, gab ich ihm einen Termin. Der Besucher war ein sensibler, scheuer Mensch, der zwar nicht Rönne hieß, aber durchaus eine neue Verkörperung des verstörten Dr. Rönne hätte sein können. So jedenfalls habe ich es später gedacht. Er hatte sich eine Reihe von Fragen auf einem Zettel notiert, die er sich alle selbst hätte beantworten können, da er sich offenbar hervorragend in meinen Büchern auskannte. Doch das Interview war nur ein Vorwand, denn die einzige Frage, die er mir stellen wollte, stand nicht auf seinem Zettel und er stellte sie mir zum Schluss: "Wie kann man eigentlich leben, wenn man wie Sie an nichts glaubt?"

Das überraschte mich, denn ich hatte kein Gefühl von innerer Leere und Sinnlosigkeit. Aber ich vermutete gleich, dass seine Frage aus einem religiösen Hintergrund kam, der ins Wanken geraten war. Doch da er das nicht gesagt hatte, antwortete ich ohne Umschweife: "Zum Leben braucht man keine Begründung. Es trägt seinen Sinn in sich selbst. Man lebt, weil man lebt und um zu leben. Man muss ja auch nicht begründen, dass man atmet."

Ich machte eine Pause und sah, dass er nickte. Mir war klar, dass ich eine ungeduldige und keine erschöpfende Antwort gegeben hatte. Deshalb fügte ich hinzu, Leben sei der grundlegende Wert, auf dem alle anderen Werte beruhten und an dem sie gemessen werden müssten. "Das Leben", sagte ich, "ist ein einmaliges Geschenk mit vielen darin verborgenen Möglichkeiten. Wir müssen versuchen, das Beste, das für uns Richtige daraus zu machen."

Das war eine andere Version des existentialistischen Diktums, dass die Freiheit des Menschen - nicht nur die Freiheit, die er hat, sondern die Freiheit, die er ist - ihn dazu bestimmt, sich seine eigene Notwendigkeit zu erschaffen. Das war nach dem Krieg und nach den Jahren der ideologischen Fremdbestimmung, in denen ich aufgewachsen war, meine innerste Überzeugung geworden. Mein Besucher nickte erneut. "So sehe ich das eigentlich auch", sagte er. Und dann verabschiedete er sich. Ungefähr ein Jahr danach erfuhr ich, dass er sich umgebracht hatte. Er war im letzten Winter in ein nahegelegenes Gebirge gefahren, hatte sich in eine Tannenschonung gelegt und einschneien lassen.

Sein Bruder, der mir das erzählt hatte, gab mir eine Kopie seines Tagebuches, da ich oft darin erwähnt wurde. So bekam ich intime Einblicke in die Todeslogik, die diesen hochintelligenten Menschen erfasst hatte. Es verhielt sich so, wie ich vermutete hatte: er stammte aus einer streng katholischen Familie, von der er sich gelöst hatte, ohne dass es ihm gelungen war, im Leben Fuß zu fassen, weder sozial, noch sexuell und auch geistig nicht. Dass er versucht hatte, sich an mir zu orientieren, war ihm nicht gut bekommen. In seinem Tagebuch las ich den Satz: "Ich glaube nichts mehr von dem, was ich glauben müsste, um mein Leben in Zukunft noch ertragen zu können."

Was wäre das gewesen? Der Glaube, in Gottes guter Hut zu sein? Wenn er mir das gestanden hätte, hätte ich ihm nicht widersprochen. Auch nicht mit dem Hinweis, dass im Zweiten Weltkrieg die Parole "Gott mit uns" auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten ebenfalls göttlichen Schutz und Beistand versprochen hatte. Über die Hohlheit und den Schwindel solcher Sprüche brauchte man meinen Besucher ohnehin nicht aufzuklären. Er, ein Leser Nietzsches und des Skeptikers Cioran, konnte nicht mehr zu einer Glaubensgewissheit zurückfinden, die ihn gegen den Druck und die unauflösliche Fremdheit der Welt schützte. So hat er versucht, die Geborgenheit, die ihm fehlte, im Tod zu finden, indem er sein Sterben wie ein Gedicht inszenierte, das von der Rückkehr in Stille und Frieden und schmerzlosem Versinken in sich auflösende Träume handelt. So hatte er es gelesen, denn so wird der Tod durch Erfrieren in der Regel beschrieben. Vielleicht war es aber auch ganz anders: eine fortschreitende Auskühlung mit Zittern, Krämpfen, wachsender Atemnot und Lähmung, bevor die Ohnmacht kam.

Sehen wir uns daneben Benns Lebenskrise an, wie er sie in "Epilog und Lyrisches Ich" beschrieben hat: "Ich war ursprünglich Psychiater gewesen, bis sich das merkwürdige Phänomen einstellte, dass ich mich nicht mehr für einen Einzelfall interessieren konnte. Es war mir körperlich nicht mehr möglich, meine Aufmerksamkeit, mein Interesse auf einen neu eingelieferten Fall zu sammeln oder die alten Akten fortlaufend individualisierend zu beobachten. Die Fragen nach der Vorgeschichte ihres Leidens, die Feststellungen über ihre Herkunft und Lebensweise, die Prüfungen, die sich auf des Einzelnen Intelligenz und moralisches Quivive bezogen, schufen mir Qualen, die nicht beschreiblich sind. Mein Mund trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewalttaten geschritten, wenn mich nicht schon vorher mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankenakte zur Rede gestellt und entlassen hätte."

Was hier beschrieben ist, stellt eine schwere Verhaltensstörung und Konfusion dar, die das Ausmaß einer Psychose hat. Benn interpretiert sie selbst in psychiatrischen Begriffen als "Depersonalisation" und "Entfremdung der Wahrnehmungswelt". Nichts dergleichen fand ich in dem Tagebuch des Selbstmörders, wohl aber Hinweise auf zyklisch wiederkehrende Depressionen. Im Sommer, wenn ringsum alles reifte und die Vitalität des Lebens ihren Höhepunkt erreichte, empfand er mit vernichtender Klarheit sein eigenes Scheitern und die Nichtigkeit seines Lebens. Dass er sich seiner Intelligenz bewusst war und um sich herum viel menschliche Dummheit, Borniertheit und Trivialität entdeckte, konnte ihn über sein eigenes Versagen und seine schwere Lebenshemmung nicht hinwegtäuschen. Und weil er in sich ständig dieses Vakuum spürte, erdrückte ihn die Welt wie in einer depressiven Implosion.

Ganz anders Benn. Mit seiner Frage "Wie soll man da leben?", auf die er sich selbst antwortete: "Man soll ja auch nicht!", verlagert er die Schuld nach außen. Die Welt ist schuld, ihre unzumutbare Verfassung, der Sinnverlust, der Werteverfall, die Trivialisierung des Lebens durch die materialistische Zivilisation, die er überall sieht. Das klingt wie eine vergröberte Version des später formulierten Diktums von Adorno, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Lange war dieser Satz ein Lieblingszitat feinsinniger Gesellschaftskritik, weil er eine überlegene Einsicht in die universelle Unglückslogik der Welt verriet. Aber stimmt diese Behauptung? Ist sie nicht vielmehr eine universalistische Abstraktion, die in ihrer Grundsätzlichkeit ihre Abstammung von der Idee der Ursünde zu erkennen gibt?

Ich denke, es hat immer und zu allen Zeiten mitten im sogenannten falschen Leben richtiges Leben gegeben, Enklaven von Glück, Zufriedenheit, Selbstgewissheit und menschlicher Solidarität, Momente überstandener Gefahr, gestillter Begierden, belohnter Mühe, gegenseitiger Anerkennung, neuer Zuversicht und Hoffnung. Aber das alles in der Form lebendiger individueller Erfahrungen, prozesshaft und vermischt mit Widersprüchen und nicht eingefroren in der unverweslichen Reinheit einer Idee, die nie richtiges Leben wäre, sondern nur seine Erstarrung.

Als Lyriker weiß Benn das auch. Seine schönsten Gedichte sind immer Mischungen von Licht und Schatten, von Vordergrund und Tiefe, im Augenblick aufleuchtende Ewigkeiten, "Glücklügenstunden", wie er mit einer seiner Wortprägungen gesagt hat. Doch auf einer anderen Ebene, wo er meint, sich rechtfertigen und behaupten zu müssen, ist das ganz anders. Dort wird er zu einem fanatischen Räsonierer, der vor keiner Generalisierung zurückschreckt. Alles, was er sagt, dient dazu, sich Platz zu schaffen und zu stimulieren und bezieht daraus seine Energie. Ganze Breitseiten expressiv aufgeladener Rhetorik feuert er ab, und zwar in einer Redeform, die er selbst treffend als "Summarisches Überblicken" bezeichnet hat. Es ist ein träumerischer Blick, der im freien assoziativen Gedankenspiel oder optisch beim Überblättern von Büchern zahllose, flüchtig wahrgenommene Einzelheiten an sich vorbeigleiten lässt, was laut Benn manchmal "einen leichten Rausch" erzeugt. Es ist aber auch, und zwar noch häufiger, das rhetorische Schema einer Polemik, die von oben herab alle erfassten Einzelheiten planiert und jeden differenzierenden Einspruch überschwemmt. Davon wird noch die Rede sein.

Als ich Anfang der 50er Jahre meinem späteren Doktorvater Wilhelm Schneider sagte, dass ich eine Doktorarbeit über Kafka schreiben wolle, hob er gleich abwehrend die Hände: "Bloß nicht! Darüber gibt es schon zu viel. Und die meisten beißen sich daran die Zähne aus." Ich glaube, er wollte nicht nur mich von unabsehbaren Komplexitäten schützen, sondern auch sich selber. Stattdessen sagte er: "Schauen Sie sich doch mal den Benn an, von dem neuerdings so viel die Rede ist."

Das war ein guter Vorschlag, lebensgeschichtlich gesehen. Die Dissertation und das später daran anschließende Buch und die mir anvertraute Edition von Benns Gesamtwerk öffneten mir die Tür zum literarischen Leben. So fand ich vor allem meinen Verlag. Und tatsächlich war die Aufgabe leichter, als die, auf die ich mich ursprünglich einlassen wollte. Denn im Unterschied zu der Hermetik und Rätselhaftigkeit der Kafka'schen Texte stieß ich bei Benn auf ein Übermaß an "Meinungsfreude", um einen ironischen, auf das heutige Medienpalaver gemünzten Begriff der Berliner Essayisten Michael Rutschky auf Benn anzuwenden. Man musste nur die Bücher ausfindig machen, die Benn gelesen hatte, um das Gemisch aus Geschichte, Mythenkunde, naturwissenschaftlichen Konzepten, Tiefenpsychologie, Archäologie, Poetologie und Zivilisationskritik mitsamt den verschwenderisch darin verstreuten Aktualitäten und Sonderbarkeiten aus dem Feuilleton zum Pfauenrad seines Weltbilds zusammensetzen zu können, das er in seinen Essays und Prosaschriften immer wieder mit geringen Variationen präsentiert. Regiert wird diese schimmernde Vielfalt von einem einfachen Gedankenschema: Gottes Tod, verursacht durch den Triumph der Aufklärung und der Wissenschaft, hat die einst mythisch beseelte Welt zur öden Faktenwelt verkümmern lassen und die Menschen zu flachen Nützlichkeitsidioten gemacht. Doch in den Tiefenschichten der Seele schlummert noch die mythische Vergangenheit und kann in Traum und Rausch wieder aufsteigen. Und sie ist auch das schöpferische und visionäre Potential der Kunst.

Die Dominanz dieses Gedankenschemas hat dazu geführt, dass die an die frühen Rönne-Novellen anschließenden Prosastücke wie "Der Geburtstag", "Der Garten von Arles", "Das letzte Ich" und "Urgesicht" ziemlich flach und monoton wirken. Obwohl es sich nach Benns Vorstellungen um absolute Prosa handelt, fehlt ihnen das über alles Inhaltliche hinausgehende Plus eines Formzwangs, der jedem Gedicht seine individuelle Gestalt gibt. Umso mehr spürt man, dass es in diesen Texten keine Schritte ins Unabsehbare, keine offene Entwicklung gibt, sondern nur ein sich wiederholendes Stereotyp. Immer wieder steht im Mittelpunkt ein einsamer sensibler Mann, der sich durch seine sachliche, nüchterne Umgebung von Seelenlähmung und Wirklichkeitsverlust bedroht fühlt, bis er in einen halluzinatorischen Zustand abdriftet, der ihm als Offenbarung des wahren Lebens erscheint. Mythisches taucht auf, archaische Landschaften, aber es ist ein Repertoire, dessen offensichtliche Begrenztheit die dahinterstehende These vom Überschwang des "Provozierten Lebens" und der sich in der Dichtung offenbarenden Unerschöpflichkeit der tiefen Seelenschichten in Frage stellt. Mehr und mehr kehren sich die Verhältnisse um. Die spontane Phantasieproduktion wird von thesenhaftem Räsonieren durchbrochen. Die Ideologieproduktion dominiert, und zwar mit einer Lautstärke und Emphase, die in meinen Ohren predigerhaft klingt. Da spricht ein Bußprediger alten Stils, der der gottverlassenen Welt ihre Verderbtheit vorhält, die Menschen zur Umkehr aufruft, sie verurteilt, verdammt und mit schwerer Strafe bedroht. Ich will Ihn mit einigen charakteristischen Zitaten zu Wort kommen lassen. In dem Prosastück "Das moderne Ich" aus dem Jahre 1920 tritt er in der fiktiven Gestalt eines Redners auf, der sich mit dem moralischen Appell an die akademische Jugend wendet, sich nicht von der gottfernen Denkungsart der wissenschaftlichen Welt verführen zu lassen: "Meine Herrn Kollegen, die Sie jetzt Medizin studieren wollen, Kommilitonen, die Sie sich anschicken, die wissenschaftlichen Fächer zu beforschen, junge Leute, die Teubners 'Aus Natur und Geisteswelt' in ihren Freistunden ergriffen lesen und die kleinen Göschenbücher, meine Damen und Herren und alle Jugend, die antritt, in Laboratorien und Instituten die Binde von Sais zu lüften, ich will Misstrauen säen in Ihre Herzen gegen Ihrer Lehrer Wort und Werk, Verachtung für das Geschwätz vollbärtiger Fünfziger, deren Wort der Staat lohnt und schützt, und Ekel vor einem Handwerk, das nie an eine Schöpfung glaubte."

Es hört sich wie ein Argument an, wenn der folgende Text mit einem Blick auf den Ersten Weltkrieg beginnt. Aber noch im selben Satz verliert sich der Text wieder in polemische Karikaturen der schöpfungsfernen materialistischen Wissenschaft: "Da war es versammelt, dies Jahrhundert des Wirklichen und des Erkennens, in dem der Geist Statistik schuf und Urinkontrolle, wo die Tabelle hochging und die Schöpfung sank, wo man Ordinarius wurde, wenn man die Nebenhöhlen der Nase beherrschte, und Vorsitzender von Kongressen, wenn man drei Pickel gesehen hatte und der Nebenmann nur zwei, wo kein Haus in keiner Strasse war, wo nicht ein Zahnklempner wohnte und ein Patentanwalt, ein Harnarzt oder ein Geodäte - zur Eroberung der Erde und zur Beherrschung der Welt."

Mit anderen Worten, der von Benn so benannte "Mittelmensch, das kleine Format, das Stehaufmännchen des Behagens, der Barabasschreier, der bon und propre leben will", oder, in einer anderen rhetorischen Sequenz, "der materialistisch organisierte Gebrauchstyp, der Montagetyp, optimistisch und flachschichtig, jeder Vorstellung von menschlicher Schicksalhaftigkeit zynisch entwachsen" hat Gott in die Transzendenz abgeschoben und pensioniert, um nach dem Motto "möglichst wenig Leid für den einzelnen und möglichst viel Behaglichkeit für alle" eine Welt einzurichten, in der Menschen ohne das Erlösungsversprechen der Religion menschlich leben können. Als Ergebnis diese Prozesses ist eine verdinglichte Faktenwelt entstanden, die in der Sprache von Obduktionsberichten ihre konsequente Schlussformel gefunden hat. Für den Bußprediger ist ein solches Denken die Sünde schlechthin. Er verweigert ihm jede praktische Solidarität: "Hatte es für das menschliche Problem irgendeinen erfüllteren Sinn, das rationalisierte Einzelwesen vielleicht drei Tage oder drei Wochen oder selbst drei Monate länger in körperlichem Unverfall zu bewahren, wenn die Epoche doch nichts weiter hinter ihm erblickte, nichts weiter aus ihm machte als Pferdekräfte, Brauchbarkeiten, Arbeitskalorien, Kaldaunenreflexe, Drüsengenuss. Hatte es überhaupt noch irgendeine historische Bedeutung, den Abendländer mit Spritzen, Salben, Bruchbändern und nun auch noch mit Suggestionsmethoden körperlich zu sanieren, wenn sein Hintergrund doch nur dieselbe verrottete Ideologie des Nützlichkeitspositivismus, dieselbe abgetakelte, hilflose, leergelaufene Hymnologie auf den von der Wiege bis zur Bahre mit Nasenduschen und Nährklistieren hochgepäppelten Fortschrittsfavoriten immer blieb?"

Ein Bußprediger wird auf diese rhetorische Frage nicht nur mit Nein antworten, sondern die gegeißelte Gesinnung mit einem alttestamentarischen Fluch beantworten: "Schmerz, Faustschlag gegen das Pamphlet des Lebens aus dem ausgefransten Maule hedonistischer Demokratien". "Über sie das Chaos, der Sturz, das tiefe Verhängnis und alle Panik der Agonie."

Früher und ganz anders als gedacht hat sich das Verhängnis dann ereignet: als Nazidiktatur und als Zweiter Weltkrieg, der mit weltweit über 56 Millionen Toten und dem industriell organisierten Massenmord, mit den Flächenbombardements und dem ersten Abwurf von Atombomben ein so apokalyptisches Ausmaß angenommen hat, dass man Benns Fluch als nahezu erfüllt ansehen konnte. Dass er sich anfangs im Unterschied zu vielen anderen zeitgenössische Schriftstellern in das Geschehen verstrickte, hatte viele, auch individuelle Gründe, war aber zweifellos ein Ausdruck seine Irrationalismus und seiner Verachtung der modernen materialistischen Zivilisation. Er glaubte und redete sich das ein, die Stunde einer grundlegenden Veränderung aller Werte sei gekommen, ein unerwartet aus völkischer Tiefe aufgestiegener politischer Expressionismus, dem er sich anschließen müsse, letzten Endes auch dann, wenn er opportunistische Motive nicht verleugnen könne: Ihm bleiben dann etwa 12 Jahre der Isolation, um sich neu zu orientieren. Er änderte keineswegs alle seine Positionen, aber fast alles klang anders, auch wenn es formal ähnlich war, wie zum Beispiel das summarische Überblicken, das eine rhetorisch bevorzugte Ausdrucksform blieb, jetzt aber als artistische Spielform einer prinzipiellen Indifferenz. Der Bußprediger wurde - vielleicht als erster in Deutschland - ein postmoderner Autor, der erklärt: "der interindividuelle Konflikt ist ausgestorben." "Heute ist das Nebeneinander der Dinge zu ertragen und zum Ausdruck zu bringen auftragsgemäßer und seinserfüllter." "Zugegeben: Panoptikum, von meinen Fragen koloriert." "Wenn man wie ich seitlich in die Dinge hineinsieht, sieht man jedenfalls Buntes." "Gesamtschau, Totalitätsbetreuung, Lebenseinheit, Harmonie - das lehnte ich ab. Wir alle leben etwas anderes als wir sind. Dort wie hier Bruchstücke, Reflexe: Wer Synthese sagt, ist schon gebrochen. Auftauchen, nur im Akt vorhanden sein und wieder versinken."

Das hört sich - wie ein emotionales Umspringbild - mal leichtfertig, mal skeptisch an. Es gibt aber noch eine andere Fassung dieses Gedankens. Sie steht am Schluss des szenischen Lesestücks "Die Stimme hinter dem Vorhang", in dem der unsichtbar hinter dem Vorhang verborgene alte Gott sich aus dem Dialog mit den Menschen anscheinend für immer zurückzieht und ihnen zum Nachdenken den pathetischen Satz hinterlässt: "Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können." Über sich selbst allerdings sagt er etwas ganz anderes, etwas, das vielleicht der Lyriker Gottfried Benn in ihm erweckt hat: "Ich will einen Garten im Sommer sehen und will sehen, wie Schnee fällt, weiter gar nichts."

Leben - was sonst?

Der Vortrag wurde gehalten am 20. Mai 2006 bei einer Gedenkveranstaltung für den Mediziner und Dichter Gottfried Benn in den DRK-Kliniken in Berlin Westend.