Harte Jungs

Anmerkungen zu Arno Schmidts Kritik an Gottfried Benn

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

"Dieser Herr Arno Schmidt ist eine Potenz, keine ganz angenehme, aber entschieden originell u. kühn."
Gottfried Benn am 27. Februar 55 an Ursula Ziebarth

Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte ein stilistisches Phänomen seinen Höhepunkt, das Theodor W. Adorno in seiner Polemik gegen Martin Heidegger untersucht. In seiner Schrift mit dem Titel "Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie" (1964) kritisiert Adorno die Vergötzung raunender Literatur und 'führender' Geistesheroen als Belege dafür, dass man das Gedankengut des Nationalsozialismus in verdeckter Weise fortwesen ließ. Adorno erklärt den Zusammenhang zwischen Faschismus und Jargon so: "Der Faschismus war nicht bloß die Verschwörung, die er auch war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die Sprache gewährt ihm Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil."

Laut Adorno erreichte dieser sakralisierende Sprachgestus erst nach 1945 den Zenit seiner Wirkung. Denn "freilich gab es wohl schon vor 1933 einschlägige Modelle, nur ist erst nach dem Krieg, als die NS-Sprache unerwünscht ward, der Jargon allgegenwärtig geworden." Für Adorno ist das deshalb so bezeichnend, weil er in der "Negativen Dialektik" (1966) - seinem Hauptwerk, aus dem seine Heidegger-Polemik vorab ausgegliedert worden war - apodiktisch schreibt: "Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht". Abgesehen von einsamen Mahnern wie Adorno oder auch Paul Celan bedachte jedoch kaum jemand nach dem Krieg, was George Steiner bemerkte: "Benutzt man eine Sprache dazu, um [Bergen-] Belsen zu organisieren, zu ersinnen und zu rechtfertigen, benutzt man sie dazu, um den Menschen in zwöfjähriger wohlüberlegter Bestialität zu entmenschen, passiert etwas mit ihr. Man macht aus den Worten, was Hitler, Goebbels und hunderttausend Untersturmführer aus ihnen gemacht haben: Übermittler von Unwahrheit und Terror - und mit den Worten passiert etwas. Etwas von der Lüge und dem Sadismus setzt sich in der Sprache fest. Unmerklich zunächst, so wie radioaktive Ausstrahlungen sich stillschweigend im Knochenmark festsetzen. [...] Im Jahre 1940 äußerte Klaus Mann in einer gequälten Tagebuchnotiz, er lese keine zeitgenössischen deutschen Bücher mehr: 'Ob wohl die Sprache Hölderlins und Nietzsches durch Hitler geschändet worden ist?' Sie ist es." Die hier von Steiner implizit problematisierte Fortschreibung jener diffus überhöhten Wörter und Begriffe der nach Auschwitz 'kontaminierten' deutschen Sprache fungiert laut Adorno als metaphysisches Feigenblatt, indem sie die Darstellung sachlicher Wahrheiten verhindert: Der Jargon wird zur "Wurlitzer-Orgel des Geistes", wie der Doyen der "Frankfurter Schule" vor allem im Blick auf Heidegger spottet.

Vergleichbare Befunde liest man überraschenderweise auch in Arno Schmidts Essay über Gottfried Benn, in dem Schmidt seinem Kollegen 1959 unter der Überschrift "Muß das künstlerische Material kalt gehalten werden?" allerlei 'eigentliches' Wortgetön unter die Nase rieb: "Wer anläßlich einer Frage, die die 'zweite Säule' unseres Berufes - nämlich das Handwerklich=Mitteilbare - betrifft, mit Wendungen wie 'siderische Vereinigung'; 'phallische Kongestion' oder 'Vor=Ure' auf den Plan tritt, bietet dem Belehrung Suchenden nur nichtswürdig=aparte Hülsen: es ist unglaublich, wie leer die artigen Büchschen sind!"

Was soll, fragt deshalb auch Schmidt seinen Kontrahenten Benn, "bei einer ernstzunehmenden theoretischen Erörterung dergleichen unredliches Ge=Metafere?" Die polternde Antwort lautet: "Wenn ich ebenfalls zum Schmuggel mit antiken Altmaterialien tendierte, würde ich BENN's Thesen etwas vom 'mystelnden Gemurmel eines verkantet=gestürzten Saturn vindizieren' - so aber sage ich einfach: BENN schwatzt."

Wenn man allerdings bedenkt, wie emphatisch sich Schmidt selbst seit Anbeginn auf die Tradition des Expressionismus berufen hatte, stimmt es allemal misstrauisch, wie er dem Phänomen des Jargons ausgerechnet am Beispiel Benns eine ähnlich klare Absage erteilt wie Adorno seinem Kollegen Heidegger. Schmidt nennt das "Satz=Gelee" solcher "schwammiger Zeilen", wie er sie bei Benn gefunden zu haben glaubt, schlicht "Wortschutt", "reine[n] Silbenwind und unfruchtbare Zungengaukelei."

Gewiss: Beliebig numinos aufladbare Begriffe als "bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter" (Adorno) sind dem Jargon, der diese "völlig irrelevante[n] Verlegenheits=, Verlogenheits=Ausdrücke" (Schmidt) zur tönenden Hülse seiner Ideologie macht, heilig - und insofern hat Schmidts Kritik an Benns maniriertem Fremdwörter- und Elite-Stil ihr Treffendes. Adorno erläutert weiter: "Eigentlichkeit selbst ist dabei nicht das vordringlichste; eher beleuchtet es den Äther, in dem der Jargon gedeiht, und die Gesinnung, die latent ihn speist. Als Modell reichen fürs erste existentiell, 'in der Entscheidung', Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung aus; der Liste ließen nicht wenige unterminologische Termini verwandten Tones sich hinzufügen. [...] Edelsubstantive sind durchaus nicht all seine Worte; zuweilen greift er auch banale auf, hält sie in die Höhe und bronziert sie, nach dem faschistischen Brauch, der das Plebiszitäre und Elitäre mixt. [...] Bestandstücke der empirischen Sprache werden in ihrer Starrheit manipuliert, als wären sie solche einer wahren und geoffenbarten; die empirische Umgänglichkeit der sakralen Worte täuscht dem Sprecher und dem Hörer Leibesnähe vor. Der Äther wird mechanisch verspritzt; die atomistischen Worte, ohne daß sie verändert wären, aufgeputzt."

Was Schmidt in seiner polemischen Auseinandersetzung mit Benn zitiert, könnte frappierenderweise genauso gut in Adornos Argumentation passen: "Der 'Beauftragte der Formvernunft'..... abgesehen von dem schon wieder hierin angebrachten metafysischen Falltürchen einer 'Beauftragung': von WEM wohl, möcht' ich wissen! - wie schlecht schmeckt das im Munde, dieser vom Hitlertum sieghaft angekränkelte Wortschatz! Es fehlt nur ein 'Reichs=' davor!", ruft Schmidt Benn nach - und wäre sein Text nicht vor Adornos Analyse erschienen, so könnte man fast zur Vermutung veranlasst sein, Schmidt habe den Frankfurter Philosophen aufmerksam gelesen, um sich mittels Adornos fulminanter Heidegger-Attacke für die eigene gegen Benn zu wappnen.

Schmidts zeitgenössische Benn-Standpauke scheint jedoch bei Lichte besehen eher der persönlichen Scham zu entspringen, sich ähnlich wie der Angegriffene als Mitläufer durch den Nationalsozialismus hindurchlaviert zu haben - wenn auch noch nicht als 1933 bereits berühmter Schriftsteller, ja gar in zeitweiser offener Anbiederung an die nationalsozialistische Diktatur, wie dies bei Benn der Fall war. Doch das, was der dezidierte Prosaautor Schmidt dem in den 50er-Jahren in der BRD endgültig etablierten Lyriker Benn so lautstark vorhält, gilt wahrscheinlich mehr für den Kritiker selbst, als er es sich jemals eingestanden hat: "Der 'Kunstträger... weiß kaum etwas von vor ihm und nach ihm, lebt nur mit seinem inneren Material'", zitiert Schmidt Benn, um abwinkend fortzufahren: "Das wäre freilich ein leichter Beruf, wo man sich nur um so eine reduzierteste Ein=Mann=Welt zu kümmern brauchte, und sein Hätschelseelchen Monologe girren zu lassen! Etwas von 'nach ihm' zu wissen, wie BENN sich geistreich ausdrückt, verlangt wohl Niemand; aber daß er nun auch kaum etwas von vor sich wissen dürfe? Und wenn 'draußen' ein Hitler auftaucht, dann ist es nicht nur meine verdammte Pflicht & Schuldigkeit als Künstler, sondern sogar reiner Selbsterhaltungstrieb, das Affen=Monstrum derart zu erläutern, daß dem BENN'schen 'Kulturträger' der Wahlzettel in der Hand wackelt. Wer nach BENN'schem Rezept nur 'mit seinem inneren Material lebt', ist nicht der 'Kunstträger', sondern der Drückeberger!"

"Guck mal, wer da spricht", möchte man da sagen. Ob nämlich das, was Schmidt hier an der Poetologie Benns kritisiert, der Literatur des Angegriffenen gerecht wird oder vielmehr der polemischen Abwehr eines 'zu ähnlichen' Konkurrenten, ja sogar als recht treffende Umschreibung einstigen eigenen 'Drückebergertums' sowie ureigener literarischer Marotten zu werten ist, steht nun wirklich auf einem anderen Blatt. Wilhelm Berentelg hat in seinem 2001 in einem Sammelband zu Schmidt publizierten Beitrag "'Völliger Gegensatz zu Schifferkreisen'. Zu Arno Schmidt und Gottfried Benn" anhand einer Reihe vergleichener Text- und Motivbelege aus den Werken beider Autoren sogar die These aufgestellt, das Werk Benns und Schmidts beruhe "auf einem Fundament gemeinsamer Überzeugungen, welche in der Summe eine größere Nähe beider Autoren zeigt, als sie jeder einzelne mit einem anderen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts haben könnte."

So gesehen käme Schmidts Polemik tatsächlich einer unfreiwilligen Selbstkritik gleich. Und wenn Helmut Lethen in seinem aktuellen Buch "Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit" den thematisierten Dichter "in die Galerie der männlichen Überbietungsvirtuosen und Duellsubjekte" einordnet, "zu denen er Carl Schmitt und Ernst Jünger ebenso zählt wie Bertolt Brecht", wie Ulrike Baureithel in der "taz" referiert - so könnte man hier auch Schmidt zu jenen Schriftstellern rechnen, von denen die Rezensentin schreibt: "Noch dem 'neurasthenischen' Zeitalter entstammend, stählen sich diese Spezialisten der Entscheidung kalten Blicks gegen den Modernisierungsschmerz in einer Zeit ohne Sicherheiten."

Einmal mehr zeigt sich auch im Fall einer Parallellektüre Gottfried Benns und Arno Schmidts, wie sehr der Vergleich zeitgenössischer Schriftsteller dazu verhelfen kann, ihre Selbstinszenierungen von Autorschaft zu hinterfragen und zu präziseren literarhistorischen Einordnungen ihrer Werke zu gelangen.