Getragene Töne

Gottfried Benns Comeback in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit ist wieder erschienen: "Statische Gedichte"

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Falsche Entscheidungen zum falschen Zeitpunkt rächen sich. Zum Beispiel 1933 für die Nazis zu optieren, konnte nach dem Mai 1945 zum empfindlichen Nachteil beim Neustart in die Nachkriegszeit werden. Es sei denn, man war unersetzbarer Spezialist oder befand sich in der Gesellschaft guter Freunde mit besten Verbindungen. Literaten sind aber immer ersetzbar und Eigenbrötler genug, um es sich mit allen möglichen Einflussträgern zu verderben. Gottfried Benn hat solches sogar zum Maßstab gemacht. In seiner großen Verteidigungsschrift, mit der er sich gegen diverse Anfechtungen schon kurz nach der NS-Machtübernahme zu verwahren suchte, nimmt er die Idee vom Künstler als Außenseiter auf, mit der schon die Jahrhundertwende geliebäugelt hatte, und macht ihn zum Asozialen sui generis.

Kunst kann nicht mitgehen, sie ist nur für sich und groß, argumentiert er im "Lebensweg eines Intellektualisten" (1934), und fügt noch einige Unappetitlichkeiten hinzu, von denen er kaum hat annehmen können, dass ihm die fundamentalistischen Nazis das abnehmen würden.

Haben sie auch nicht. Da war's aber für ihn schon zu spät. Merkwürdig übrigens, dass sich die neueren Biographien, was Benns Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer angeht, mit seiner Selbstaussage begnügen, obwohl der Vorgang tatsächlich nachweisbar ist (was bei anderen, angeblich gleichfalls verbotenen Autoren wie Ernst Wiechert etwa deutlich schwieriger ist). 1945 war Benn nach den langen Jahren seiner aristokratischen Form des Exils weitgehend vergessen, nimmt man einige alte Kombattanten und Gegner aus. Alfred Döblin hat ihn wohl nachhaltig nicht gemocht, Klaus Mann aber hat den Bewunderten trotz Benns "Antwort an die literarischen Emigranten" und trotz seines intellektuellen und politischen Blackouts 1933 weiterhin geschätzt. Trotzdem, Benn war nach dem Krieg Persona non grata und unbekannt.

Seine ersten Schritte, wieder publizieren zu können, waren mühsam und bis 1947 erfolglos. Da kam das Interesse des Schweizer Arche-Verlegers Peter Schifferli gerade recht. Schifferli schlug Benn eine Sammlung von etwa 50 Gedichten vor, weitere Projekte wurden zwischen beiden diskutiert, die aber weitgehend scheiterten. Der Gedichtband unter dem Titel "Statische Gedichte" erschien schließlich 1948, im Frühjahr folgte eine deutsche Lizenzausgabe im Limes-Verlag, Wiesbaden, ergänzt um zwei Gedichte. Benn war mit einem Mal wieder da in der deutschsprachigen Literatur, insgesamt mit 5.000 Exemplaren seines Gedichtbands, und er traf genau den Ton, den seine Zeit und seine Landsleute (Facon Lyrikleser) brauchten: Ein wenig elegisch, mit zahlreichen kulturhistorischen Anspielungen, die gegebenenfalls auch politisch zu deuten waren; mit der Sehnsucht nach dem Süden, Arkadien (der alten Liebe der Deutschen, auch wenn das gerade jetzt keiner gerne hört).

Das Ich zog sich hier zurück auf sich selbst und pflegte dabei seine Wunden wie seine Verlorenheit im Universum: "Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären", heißt es in "Verlorenes Ich". In ihrer Art waren das in der Tat "Schlager von Klasse", aber Benn gab sich nicht nur kulturkonservativ. In den späteren Gedichten ließ er seinen hedonistischen Neigungen wieder die Zügel, als ob er signalisieren wolle, dass die Moderne zwar über seine Landsleute hinweggewalzt sei (zudem der Nationalsozialismus und außerdem der Krieg), aber das müsse keinem gefallen. Am besten also, man ziehe sich auf sich selbst zurück. Das könne aber keineswegs als Grund dafür herhalten, gleich jeden Genuss aufzugeben und auf alles zu verzichten, zum Beispiel gute Kriminalromane, einen angenehmen Schwof oder was auch immer.

In den "Statischen Gedichten" aber reflektiert er im Wesentlichen den Status des isolierten Ich, sicher ausgelöst durch seine isolierte Position spätestens seit 1934/35. Benn aber zielt weiter ins Allgemeine, wenn er etwa in "Einsamer nie -" die Position des Subjekts jenseits der Massenvergnügungen verortet, im Dienst des "Gegenglücks", des "Geistes". Ohne an die Qualität der Texte rühren zu wollen, klingt dabei ein Ton von Wehleidigkeit durch, die gelegentlich auch die Rechtfertigungsschriften der Nachkriegszeit prägte. Vor allem aber ist das ein Ton, der die Zeit charakterisieren sollte. Ganz besonders stark macht er sich im abschließenden Gedicht "Statische Gedichte" bemerkbar, das einen beinahe taoistischen Tonfall annimmt: "Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen" beginnt Benn, und so sehr man ihm in den Fünfzigern zugestimmt hätte (ohne ihm zu folgen, übrigens), so wenig entspricht das dem Ton der heutigen Generation, auch der literarischen. Dem Wunsch, sich aus der Moderne auszukoppeln (zu der kulturkonservative Autoren der fünfziger Jahre ja auch den Nationalsozialismus gezählt haben), ist dem Bedürfnis gewichen, sich mit ihr zu synchronisieren. Was das angeht, ist Benn offensichtlich ein Autor, über den die Zeit hinweggegangen ist. Auf der anderen Seite geht von der Statik seines Konzepts und von der Tonalität seiner Texte bis heute eine offensichtliche Attraktivität aus: Überholen, indem man überholt wird?

Der Arche-Verlag hat zu Benns fünfzigstem Todestag sein Eintrittsbillet in die deutschsprachige Nachkriegsliteratur wieder aufgelegt und eine CD mit originalen Benn-Lesungen der Jahre 1948 bis 1956 dazugepackt. Eine schöne Idee, die seit der Publikation der Benn-Lesungen bei 2001 überfällig war. Und auch hier zeigt sich Benn als Kind seiner Zeit, im Übrigen moderner als viele seiner Zeitgenossen. Ihm fehlt der schnarrende Redegestus, der den Politikern, Schauspielern und Autoren der zwanziger Jahre zueigen und noch in den Fünfzigern zu hören war. Benn ist persönlicher, zurückhaltender, wenn auch für heutige Ohren schon wieder arg getragen im Ton. Aber seine Stimmlage passt hervorragend zu den Texten, die er liest.

Kann man also Arche dankbar sein, dass der Verlag hier Leser und Hörer bedient, mag man bemängeln, dass der Verlag den Band mit dem alten Nachwort von Paul Raabe aus dem Jahr 1983 erscheinen lässt. Nichts gegen Paul Raabe, aber die Zeit ist über sein Nachwort hinweg gegangen: Die ersten Nachkriegsjahre: "eine Zeit, die längst zu Recht historische Beachtung findet"? "Wenn nun nach 35 Jahren dieser Gedichtband in ursprünglicher Form" herauskommt? Das mag 1983 gestimmt haben, aber 2006? Das Buch erscheint seit über 20 Jahren wieder in der Ursprungsfassung. Und die Nachkriegszeit ist seit langem Gegenstand intensiver Forschung. Auch Raabes Versuch, Benns Ehrenrettung zu betreiben, ist heute so kaum mehr haltbar. So führt er gegen Benns Kritiker nach dem Krieg an, sie hätten verschwiegen, dass Benn nach seinem Sündenfall "sehr bald auf dem anderen Ufer" gelandet sei, "wo er leidenschaftlich die expressionistische Gefährten seiner Jugend verteidigte". Raabe vernachlässigt (und das hätte er auch 1983 anders einschätzen können), dass Benn versucht hatte, den Expressionismus als deutsche Fassung literarischer Moderne im Faschismus, analog zum Futurismus in Italien, zu etablieren. Vergeblich, wie man weiß, aber den Versuch hat er trotzdem unternommen. Ein neues Nachwort, oder wenigstens eine Bearbeitung hätte also nicht geschadet und hätte dem Verlag auch gut angestanden.


Titelbild

Gottfried Benn: Statische Gedichte. Mit Begleit-CD.
Arche Verlag, Hamburg 2006.
129 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3716023566

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