Angst, Schweiß, Fisch

Claire Keegans Storys aus der irischen, englischen und amerikanischen Provinz

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzählungsband, mit dem sich die Irin Claire Keegan dem deutschen Publikum vorstellt, heißt "Wo das Wasser am tiefsten ist". Es ist schwer, bei diesem Titel nicht an die Ländlichkeit Irlands zu denken, doch diese Assoziation führt gleich doppelt in die Irre. Erstens spielt die Story, der dieser Titel entnommen ist, in Amerika, und zweitens heißt der Band im englischen Original nach einer anderen Geschichte, nämlich "Antarktis". Unter der sprachlich unprätentiösen, oft schlichten Oberfläche lauern in der Tat eisige Schroffheiten. Kalt geht es vor allem überall da zu, wo die Figuren in Beziehung zueinander treten. Selbst da, wo wirkliche oder metaphorische Feuer brennen, ist der Schweiß, der ausbricht, meistens ein kalter: der von Wut und Angst. Die Angst sieht und hört man nicht, selten wird sie in Worten ausgedrückt, doch sie ist präsent, ja buchstäblich zu riechen.

Der Mensch ist bekanntlich ein Augenmensch, der sich vornehmlich durch Sprache verständigt, darum lesen wir in den Erzählungen Claire Keegans genaue Beschreibungen dessen, was zu sehen ist, und hören den oft etwas kurzangebundenen Gesprächen zu. Auf ebenso unaufdringliche wie kunstvolle Weise gibt die Autorin uns freilich gleichzeitig zu verstehen, dass unter der Oberfläche dieser Beschreibungen und Dialoge etwas lauert, das sich nicht artikuliert, eine vage Drohung, eine latente Gewalt, ein nah-ferner Tod. Es liegt etwas in der kalten Luft.

Nachspüren lässt sich solchen unartikulierten Dingen vielleicht am besten, indem man bei der Lektüre auf die Gerüche achtet, die mitgeteilt werden - in jeder Geschichte sind es gleich mehrere. Meist sind sie naturalistischer Natur und unterstreichen, in welcher Welt die Figuren sich bewegen. Nach Fisch riecht es viel, das kann vom Wasser kommen, aber auch aus der Küche. Andere Küchen riechen nach "gekochten Steckrüben", nach "Salmiakgeist und Suppe", "nach angebranntem Schweineschmalz, nach Kohlenrauch und Lampenöl." Uns schlägt der "Gestank des Nachttopfs" entgegen; "ein warmer, erdiger Geruch, wie das Innere eines feuchten Blumentopfs" geht von einer Stute aus; "ein dumpfiger Geruch" durchdringt die meisten Häuser, weil sie "alt und muffig" und schlecht gelüftet sind. In einem Auto riecht es nach Schafscheiße, im Freien "nach Kiefern", an einsamen und unfruchtbaren Orten am Meer "nach Algen".

Natürlich riechen auch die Menschen: uns begegnen "kleine, ausgesprochen unattraktive Männer, die nach Dünger riechen und ihre Gummistiefel flicken"; ein lüsterner Briefträger ist ein "fieser Stinker"; ein Holzfäller hat "den Geruch von Holz auf seiner Brust". Diese Ausdünstungen der Figuren stehen immer auch für die Art und Weise, wie sie miteinander in Kontakt treten. Sie versuchen, die unausgesprochenen Gefühle der anderen zu wittern. Ein junger Mann, der "den Zigarrenqualm in seiner Kleidung" schnuppert, riecht durch den Tabaksgeruch hindurch den verhassten Stiefvater, deswegen zieht er sich aus und steigt ins nächtliche Meer, was beinahe ein fatales Ende nimmt. Ein Vater, dessen kleine Tochter spurlos verschwunden ist, "riecht unter der Achsel eines gelben Pullovers: nichts" - das ist der schlimmste aller Gerüche. Eine pubertierende Halbwüchsige, die weiß, dass sie "aus den letzten Spermaresten meines Vaters gemacht" ist, erlebt während der Menstruation, dass niemand neben ihr sitzen will, "weil ich wie eine Nachgeburt stinke." Gerade die Körpergerüche können abstoßend und anziehend zugleich sein, besonders dann, wenn Schuld oder Angst ins Spiel kommen: "Ich hab geschwitzt, und er auch. Das hab ich gerochen. Mich selber hab ich auch gerochen."

Gerüche sind immer konkret, aber nie recht fassbar, sie können etwas vermitteln, was unentschiedener ist als die Sprache. Ein "Geruch nach Moder und Vieh" steht für etwas, was nicht ausgesprochen wird, aber um so heftiger auf dem Geschehen lastet. In den "Geruch nach verbranntem Laub" mischt sich der "nach etwas anderem, wie nach verbranntem Fleisch", und das ist in diesem Fall der "Geruch von Winter": so führt uns selbst ein Feuer, das wir nicht sehen, zur untergründigen Kälte dieser Erzählungen zurück.

Es sind allesamt Erzählungen, die von Überlebenden berichten und einen Tod verschweigen, der hinter dem Horizont der Worte lauert. Die Perspektive ist oft die von Kindern und Jugendlichen, die auf die Welt der Erwachsenen blicken, oder aber von Erwachsenen, die gefährliche Spiele spielen. Ein Frau probiert einen Seitensprung, fast aus Prinzip: "Sie wollte es tun, bevor sie zu alt wurde. Sie war überzeugt, daß sie enttäuscht sein würde." Ein alternde Jungfer kämpft für ihr Alleinsein: "Für den Fall, daß sie einmal krank wird, hält sie immer gute Bettwäsche bereit". Die Figuren leben in Irland, England oder Amerika, aber ihre Lebensräume haben eine stickige Enge gemein. Kinder erleben nie, dass die Eltern einander berühren. Sex findet selten ohne Betäubung durch Alkohol statt; über die Frage, wer aus dem Auto steigen muss, um ein Gatter zu öffnen, können Ehen zerbrechen.

Die Hauptfiguren bleiben oft namenlos, und das ist folgerichtig, denn das, was wichtig ist, benennt Claire Keegan nicht: sie suggeriert es. "Und sie hatte nicht einmal das Bedürfnis, ihn zu schlagen": ein solcher Satz sagt entschieden mehr aus als das, was er in Worte fasst. "Ein Großteil des Bestecks in den Schubladen ist verrostet": das ist nur eine sachliche Feststellung, die einer ganzen Story freilich ihre Richtung vorgeben kann. "So ist es überhaupt bei uns: Jeder weiß gewisse Dinge, tut aber so, als wüßte er sie nicht." Bei der Lektüre dieser auf unauffällige Weise virtuosen Erzählungen packt uns fast immer eine Ahnung, dass sie schlimm enden - fast immer enden sie dann doch etwas anders, als vorauszusehen war, allerdings nicht unbedingt besser. Ein junger Mann "stellt sich vor, wie die erste Spezies aus dem Meer gekrochen ist, welchen Mut es gebraucht hat, um das Leben an Land auszuhalten": etwas von diesem Mut steckt auch in Claire Keegans Erzählweise.


Titelbild

Claire Keegan: Wo das Wasser am tiefsten ist. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Inge Leipold und Hans Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2005.
237 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3865211704

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