Zufallsspiele und historischer Ernstfall

Norbert Zähringers wohlkalkulierter Roman "Als ich schlief"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ton ist so kalt wie das Tempo hoch. Am Anfang scheint Willkür das Erzählen zu beherrschen, scheinen Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Berliner Alternativleben der achtziger Jahre recht zusammenhangslos ergänzt durch die Flucht zweier Kindersoldaten aus einem ungenannten Drittweltland und allzu vielem anderen. Dass dazwischen Namen fallen, die noch gar keinen Sinn ergeben, passt ins Bild.

Doch werden auf gerade diese Weise die wichtigsten Figuren eingeführt. Im Rückblick gewinnt fast alles seine Funktion, entsteht eine Welt von Personen, deren Wege sich immer wieder kreuzen, häufig ohne dass sie es überhaupt merken, und in der noch das nebensächliche Detail auf das Ganze verweist. Zähringers zuerst fast anarchistisch scheinender Roman entsteht aus gekonnter Kalkulation - und gleichzeitig hat er einen Erzähler, der früh im Verlauf ins Koma fällt, über Jahrzehnte ans Bett gefesselt ist und die Vorgeschichte in Faschismus und nachkolonialem Bürgerkrieg eigentlich so wenig wissen kann wie das, was sich nach seinem Unglück in anderen Kontinenten ereignet.

Wenig ärgert im Literarischen mehr als das virtuose Spiel mit der Form, das zuletzt darauf beruht, dass der Spieler sich nicht um die Regeln schert. Hier allerdings ist der Fehler im Konzept derart grob, dass Nachlässigkeit ausscheidet. Eher geht es darum, Misstrauen zu wecken - Misstrauen gegen eine Rechnung, die allzu glatt aufgeht, und gegen das, was der Erzähler behauptet oder doch suggeriert. Da gibt es etwa, ungefähr in der Mitte des Romans, eine Episode in einem Irrenhaus am Aralsee, mit einem usbekischen Fischer, der als eine Art Napoleon des Ostens behauptet, Stalin zu sein. Der allerdings lässt in einem Nebensatz ein Wissen erkennen, das aufs erste Romankapitel rückverweist und zur Frage führt, ob nicht in Zähringers Romanwelt 1953 Stalins Genossen einen eleganten Weg fanden, die Gefahr durch immer neue Säuberungen zu beenden. Handelt es sich hier eher um eine erzähltechnische Fingerübung, so stellt der Tod des "Eisteufels" ein zentrales Ereignis dar. Der Eisteufel - und Großvater des Erzählers - ist Wissenschaftler mit denkbar düsterer Karriere: Nach zahllosen Menschenversuchen im Faschismus beginnt er in den USA eine neue Laufbahn in der Militärforschung, ohne seine alten Pläne, Versuchspersonen extremen Kälte- und Druckbedingungen auszusetzen, aufzugeben. Sein wohlverdientes Ende, soviel sei hier verraten, findet er in einer Druckkammer; und alles deutet darauf hin, dass es sich um einen Mord handelt, verübt übrigens durch einen sehr ungewöhnlichen Mörder. Aber Zähringer gibt nur Indizien. Genauso könnte es sich um die Kombination von Zufall und einer geradezu tierischen Dummheit handeln.

Geradezu programmatisch sind in diesem Zusammenhang die Passagen, in denen sich die Figuren über Physik verständigen, und mittels Physik über die Welt. Die Quantenphysik schließt Unschärfen ein und damit, zumindest in der Deutung, die Zähringers Figuren vertreten, dass einander widersprechende Zustände gleichzeitig denkbar sind. Literarisch ist das ein produktives Konzept und ermöglicht ein Formspiel, das den Leser fordert und vergnügt. Doch fragt sich, ob die Anwendung auf Geschichte möglich ist, ohne in völlige Beliebigkeit zu verfallen.

Relativ unproblematisch ist Zähringers Blick auf die Westberliner Kämpfe in der Endphase der Systemkonfrontation. Zwar waren die Auseinandersetzungen nicht so putzig, wie sie sich in seiner Perspektive ausnehmen - dass ein Krieg vermieden wurde, heißt nicht, dass er nicht drohte und etwa die Warnungen der Friedensbewegung damals falsch waren. Doch haben sicher die deutschen Akteure jener Zeit die weltpolitische Bedeutung ihres Handelns überschätzt, was sich heute leicht satirisch nachzeichnen lässt. Bei Zähringer erscheint das Handeln der Geheimdienste im Westen wie im Osten leicht idiotisch; und alternatives WG-Leben dieser Zeit liefert ihm ebenso Stoff für lustig-boshafte Skizzen wie die Beschränktheit dumpfer Antikommunisten im Wachdienst- und Pförtnermilieu.

Das liest man gerne, weil die einzelnen Spitzen meist treffend formuliert sind und man heute weiß, dass diese Leute weder ernsthaft Schaden anzurichten noch Nutzen zu stiften vermochten. Was aber, wenn es um Schlimmeres geht: um den "General" etwa, der im Drittweltland von der Macht vertrieben wurde und nun als Warlord immerhin noch Schrecken und Tod verbreitet und vor dem seine eigenen Kindersoldaten fliehen? Eines der Kinder überlebt extreme Bedingungen im Fahrwerk eines Flugzeugs, um deshalb zum Versuchsobjekt des "Eisteufels" zu werden - wie fasst Zähringer Tun und vor allem Vergangenheit des Naziverbrechers?

Die Möglichkeiten postmodernen Spiels stoßen hier an ihre Grenzen, und tatsächlich und zum Glück werden die Verbrechen aus Vergangenheit und Gegenwart nicht angezweifelt. Auch in der Welt dieses Romans sind sie real und verurteilenswert. Zähringers Schreibweise entwickelt hier sogar eine besondere Qualität. Er ist weit entfernt von psychologisierender Einfühlung in die Verbrecher, wie sie weite Bereiche einer familiär geprägten Erinnerungsprosa der letzten Jahre bestimmt. In "Als ich schlief" wird gerade nicht zum Problem, wie man die Täter verstehen kann und dass man sie nicht verstehen kann; man braucht sie nicht zu verstehen, denn sie sind das Böse. Der "Eisteufel" ist tatsächlich ein Teufel, und er experimentiert nicht nur mit Eis, sondern ist selbst von einer undurchdringlichen Kälte, die es nicht nahe legt, sein Handeln nachzuvollziehen, sondern ihn, zur Genugtuung der Leser, zu vernichten.

Mit dem Täter ist keine Verständigung möglich, mit den Opfern nur unter Schwierigkeiten. Dafür, wie das Schreckliche zu beschreiben ist, findet Zähringer überzeugende Sätze. Paradox genug, ist jene Kälte die Lösung, die das Verbrechen des Mediziners bezeichnet. Möglichst genau zu benennen, was den Opfern widerfuhr, wie auch die Lücken ihrer Erinnerung, die aufs Konto der Täter gehen, ermöglicht eine Empathie, die eine emotional bewegte Klage, von der standardisierten Formulierung bedroht, gerade verhindern würde.

Das kalkulierte Sprechen zwingt zur Parteinahme, ein Engagement im Widerspruch zur gleichfalls kalkulierten Zufallsästhetik der Romanform. Was im Widerspruch bestehen bleibt, sind neben einem außergewöhnlichen Lesevergnügen zahlreiche genaue Beobachtungen, zuweilen ein begründeter Hohn, zuweilen ein sachliches und darum umso wertvolleres Mitempfinden. Doch alle diese Qualitäten deuten auf ein Bild von Geschichte und Gesellschaft, von dem Zähringer wohl wenig wissen will. Mehr noch: In diesem Roman bestehen sie, weil er sich solchen Normen nicht unterwerfen will, sondern lieber seine Zufallsspiele spielt. Was er aus diesem Konflikt gewinnt, werden weitere Bücher zeigen.


Titelbild

Norbert Zähringer: Als ich schlief. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498076655

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