Wer am Patriotismus verdient

Brechts Version einer fernöstlichen Judith

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die biblische Judith verbrachte die Nacht beim feindlichen Feldherren Holofernes, um ihm den Hals abzuschneiden. Die "Judith von Shimoda", die Japanerin Okichi, wird Bedienstete beim amerikanischen Konsol Harris, der Mitte des 19. Jahrhunderts Japan zwingt, sich für den westlichen Handel zu öffnen. In der entscheidenden Nacht rettet Okichi ihre Heimatstadt - indem sie dem kranken Konsul Milch verschafft und ihn so in die Laune versetzt, die eigentlich schon beschlossene Beschießung zugunsten weiterer Erpressungen aufzugeben.

Alttestamentarische Härte gegen fernöstliche Milde also? Als Brecht sich 1940 im finnischen Exil mit dem Stoff beschäftigte, interessierte ihn nichts weniger als exotistische Völkerpsychologie. Seine "Judith von Shimoda" ist ein Lehrstück von allgemeiner Geltung über den Patriotismus und seine Folgen. Gerade die Folgen - besonders für die Patriotin - interessieren hier mehr als die Tat selbst. Fast zwei Drittel des Stücks beschreiben die Nachgeschichte: "Es muß ähnlich sein, als ob ich selber einen 'Wilhelm Tell' schriebe und den Tell noch 20 Jahre nach dem Geßlermord weiterleben ließe", notierte Brecht in sein Journal.

Okichi hat nur auf staatliches Drängen ihre Arbeit übernommen und wird, nachdem sie Shimoda gerettet hat, vom Staat bedroht: es ist nämlich verboten, Kuhmilch zu melken und zu trinken. Sie kann noch froh sein, ein wenig Bezahlung für ihre Dienste zu bekommen. Ekel vor dem Kontakt mit den Ausländern, mehr noch aber die Verachtung ihrer Landsleute gegen eine "Ausländerhure" lassen sie zur Trinkerin werden. Ihre Ehe geht in die Brüche, und sie verarmt immer mehr. Nach zwanzig Jahren bekommt sie mit, wie aus ihrer Tat ein Mythos wurde: Straßensänger loben eine reine, heldenhafte Okichi, die es so nie gab, während das Publikum die wirkliche Okichi als lästige Störerin verjagt. Währenddessen ist in Japan eine neue Führungsschicht aufgestiegen, die von den gewandelten Verhältnissen profitiert. Patriotismus, wird schon früh in einem Zwischenspiel kommentiert, "ist kein Geschäft - für die Patrioten. Er ist ein Geschäft für andere Leute."

Ein interessantes und lehrreiches Stück - aber handelt es sich wirklich um einen neuentdeckten Brecht-Text? Auf dem Umschlag jedenfalls findet sich allein sein Name als Autor. Hans Peter Neureuter, der aus verschiedenen Quellen die nun vorliegende Spielfassung erstellt hat, ist hingegen in seinem Nachwort vorsichtiger. Tatsächlich sind an der Entstehung dessen, was nun vorliegt, zahlreiche Personen beteiligt. Das Stück "Nyonin Aishi, Tojin Okichi Monogatari" (1929) des japanischen Schriftstellers Yamamoto Yuzo lag seit 1935 in einer englischen Übersetzung vor. Diese Fassung war es, die das Interesse von Hella Wuolijoki, von der wenig zuvor Brecht die Hauptidee für "Herr Puntila und sein Knecht Matti" übernommen hatte, weckte. Sie entwickelte den Plan, zusammen mit Brecht eine Bearbeitung in finnischer und deutscher Sprache herzustellen.

Auf Deutsch liegen neben einer völlig neu konzipierten Rahmenhandlung nebst Zwischenspielen die Auftritte eins bis vier und zehn des auf elf Szenen konzipierten Stücks vor, erstmals 1997 in dem Band Stückfragmente und Stückprojekte der neuen Brecht-Ausgabe veröffentlicht. War dort der Inhalt der sechs fehlenden Szenen noch nach Wuolijokis kompletter finnischer Fassung zusammengefasst, so wagt Neureuter eine Übersetzung dieser Teile aus dem Finnischen. Legitimiert ist das dadurch, dass Wuolijoki und Brecht für diese Szenen - mit Ausnahme wohl der fünften, von der Neureuter vermutet, die deutsche Fassung sei verloren gegangen - gegenüber dem Englischen keine einschneidenden Veränderungen planten. Jedenfalls folgt Wuolijoki der Übersetzung hier ziemlich treu.

Gegen dieses Verfahren lassen sich zwei Argumente anführen - und es spricht für Neureuters Arbeit, dass er sie nicht verschweigt. Zum einen sind selbst die deutschen Szenen sprachlich nicht bis ins Detail durchgearbeitet. Vor einer Publikation hätte Brecht sicher noch vieles verbessert. Zum anderen aber stimmten die Theaterkonzepte von Wuolijoki und Brecht nicht überein. Die Heldentat der japanischen Judith findet sich schon in der vierten Szene, und der lange Rest schildert ihren Verfall. Was Brecht als Vertreter eines epischen Theaters formal anzog, irritierte Wuolijoki zunächst. Im Ganzen ist Brechts Ansatz nicht nur gewahrt, sondern durch die illusionsbrechenden Zwischenspiele noch verstärkt. Doch gibt es in der Haupthandlung, und zwar nicht nur in den allein bei Wuolijoki vorliegenden Teilen, identifikationsfördernde Momente, die Mitleid mit der Hauptfigur nahe legen. Zudem verweisen die Verfallslogik wie Spuren von Milieuschilderungen auf den naturalistischen Ursprung des Stücks. Wie Brecht auf einer weiteren Bearbeitungsstufe damit umgegangen wäre, ist fraglich.

Was es also gibt, ist eine Gesamtanlage, teilweise ausgeführt, teilweise zu erschließen. Zwar ist darum der Erkenntnisgewinn gegenüber der Werkausgabe, die solche notwendigen Informationen schon bereitstellte, gering. Doch ist nun für Leser und Theaterpraktiker eine übersichtliche Vorlage geschaffen. Der Gesamtverlauf ist nun szenisch darstellbar; und die Zwischenspiele, die die eng an der Überlieferung orientierte Werkausgabe in einem Block abdruckte, sind nun an ihren Platz gerückt.

Freilich fehlen gerade von den Zwischenspielen Versionen, die Neureuter, wohl zu Recht, als frühere, verworfene Fassungen ansieht. Der sonst brauchbare Anhang seiner Edition hätte für Leser, die auf den Fragmentband der Werkausgabe nicht zugreifen können, diese Passagen erschließen sollen, zumal gerade die Zwischenspiele Brechts Eigenes im vorliegenden Material darstellen. Erst sie schaffen die epische Distanz, die die Vorlage allein in nur geringem Maße erlaubte: Ein japanischer "Zeitungskönig und Politiker" - Neureuter zieht eine Parallele zu Alfred Hugenberg - will westlichen Besuchern zeigen, dass der Patriotismus in seinem Land nicht nur "eine Angelegenheit der oberen Schichten" sei. Zu diesem Zweck lässt er Yamamotos Stück aufführen - doch nur die ersten Szenen, die sein Geschichtsbild zu belegen scheinen. Die Gäste, unter ihnen auch ein oppositioneller japanischer Schriftsteller, dessen Anwesenheit handlungslogisch nur schwer zu erklären ist, kommentieren schon diesen Anfang sarkastisch. Dann geben sie sich nicht mit der Erklärung zufrieden, Okichi habe ihre Heldentat vollbracht und verschwinde "einfach in der Masse, aus der sie gekommen ist". Szene für Szene erzwingen sie, dass die Handlung fortgesetzt und die Wahrheit über Okichis Schicksal gezeigt wird.

Es ist diese Auseinandersetzung über Geschichtsdeutung und Geschichtspolitik, die erst eine produktive Konstellation ergibt. Auch sprachlich sind diese Zwischenszenen schärfer gefasst als die Teile, in denen Brecht sich mit einer englischen Vorlage, die er selbst für schwach hielt, auseinandersetzen musste. Nachdem 1997 eine Aufführung des Stücks auf Grundlage der in der Werkausgabe gedruckten Fragmente bei der Kritik keinen Erfolg hatte, lässt Neureuters Rekonstruktion einen zweiten Versuch lohnend erscheinen. Auf der Höhe der bedeutenderen, etablierten Theaterstücke Brechts steht der Text allerdings bei weitem nicht. Zu unterschiedlich sind Vorlage, Bearbeitungstendenzen und sprachliche Ausformung, als dass sich schon ein Ganzes ergäbe. "Die Judith von Shimoda" blieb, mag man auch den Verlauf lückenlos rekonstruieren, ein Projekt.


Titelbild

Bertolt Brecht: Die Judith von Shimoda.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
158 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3518124706

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