Wellen im Meer der Unerträglichkeit

Dietmar Daths "Dirac" hilft, schützt und rettet

Von Christian WerthschulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Werthschulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1933 teilen sich zwei Pioniere der Quantenmechanik den Nobelpreis für Physik: Erwin Schrödinger und Paul Dirac. Für den öffentlichkeitsscheuen Dirac ist die Preisverleihung eine Aneinanderreihung von Ärgernissen: die weite Reise, die Begleitung seiner Mutter und die weltweite Aufmerksamkeit der Presse. Beim Bankett geschieht dann das Unausweichliche. Zur Langeweile des schwedischen Königs und zur Bestürzung seiner Mutter erklärt er: "Und wir wissen, daß die Welt sich in den tiefsten Tiefen ökonomischen Elends befindet. Sehen Sie sich die Arbeitslosen an, auf den Straßen. Lesen Sie die Zeitungen. Als mathematischer Physiker muss ich Ihnen... will ich Ihnen sagen, daß ich glaube, daß ich... gar nicht anders kann, als fest davon überzeugt zu sein, daß alles was mit Zahlen zu tun hat, theoretisch lösbar sein soll."

Anfang der 90er bricht David Dalek, Ich-Erzähler von "Dirac", sein Studium der Physik und Sprachwissenschaft ab. Betroffen von der eigenen Unfähigkeit zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis und beseelt durch die Worte des Genossen Stalin, "daß, wenn die Sprache materielle Güter erzeugen könnte, die Schwätzer die reichsten Menschen der Welt wären", entschließt er sich, sein Glück als Schreiber zu versuchen.

Man ahnt es bereits - nach SciFi-, Kriminal-, Schlüssel- und Briefroman unterzieht Dath ein neues Genre seiner Bearbeitung: den Bildungsroman. Ausgehend von der Jugend im süddeutschen Sonnenthal, hormonell geprägt durch Metalkonzerte im nahegelegenen Lörrach und die unerfüllte Liebe zur unscheinbaren Sonja (genau, die Empfängerin der Briefe aus "Die Salzweißen Augen"), intellektuell durch die Besuche im nahe gelegenen Freiburg und die dabei entstehenden Kontakte zur praktizierenden Marxisten, verkehrt er das Prinzip des bürgerlichsten aller Romangenres in sein Gegenteil: "Ich wollte mal was Lustiges, Trauriges und Wahres darüber schreiben, daß man sich ganz schön anstrengen muß, wenn man im modernen Alltag nicht spätestens mit Fünfunddreißig alles verraten haben will, was man mit Fünfzehn darüber gewußt hat, wie grundverkehrt das Leben läuft", charakterisiert "F. A. Z."-Journalist Dath den Konflikt, der das Leben seiner Figuren prägt.

Paul, Anführer der Heavy-Metal Clique und Mathe-Genie, verdient sein Geld mit der Berechnung eines Zellulären Automaten für eine obskure amerikanische Firma, während er gleichzeitig für seine schizophrene Frau Nicole und ihr gemeinsames Kind Cathrin Sorge tragen muss. Johannas ungebrochener Wille, ihr Leben lieber als Künstlerin denn als prekär Beschäftigte zu verbringen, wird mit Wutanfällen über die ignorante Verwandtschaft belohnt, während Christof als Psychiater so viel Energie auf die Behandlung von Nicole verwendet, dass er damit seine Praxis ruiniert und - befördert durch seine eigene amyotrophe Lateralsklerose - schließlich Selbstmord begeht. Und David macht sich neben seiner Tätigkeit als Journalist bei einer großen deutschen Tageszeitung schließlich daran, einen Roman über Paul Dirac zu verfassen.

Den metafiktionalen Erwartungen zum Trotz erweist sich eben dieses Buch in seiner vorliegenden Form nicht als das Spiel mit Autofiktion und prosapografischer Identität, das sich bei der Konstellation "Autor schreibt Roman über die Fertigung eines Romans und lässt alle seine Freunde und Leidenschaften darin einen Gastauftritt haben" anbieten würde. Auch wenn Dath an einer Stelle die Rezension seines Romans "Für immer in Honig" durch einen bekannten Mainzer Musikjournalisten eher unverhüllt abfertigt, ist "Dirac" doch Science Fiction im besten Sinne: die Ausführung einer möglichen und wünschenswerten Welt auf der Basis wissenschaftlicher Weltanschauung. Nahe liegenderweise findet diese ihre Grundlage in den Theorien Paul Diracs. Nur zur Auffrischung noch nicht vorhandenen Wissens: Diracs Beitrag zur modernen Physik war die Herleitung eines neuen Teilchens, des Positrons aus der Postulation eines mit Teilchen negativer Energie gefüllten Raums, den Laien das Vakuum, Quantenphysiker jedoch das "Dirac-Meer" nennen. Positrone entstehen, wenn man dem negativen geladenen Teilchen so viel Energie zufügt, dass es sich aus dem Meer negativer Teilchen lösen kann. Diesen Vorgang nutzt Geoffrey A. Landis in seiner Kurzgeschichte "Untiefen im Meer der Zeit" zur Entdeckung der Möglichkeit von Zeitreisen, indem er seinen Protagonisten Wellen im Dirac-Meer erzeugen lässt. Da Zeitreisen jedoch die Gesetze von Kausalität und Energieerhaltung befolgen müssen, ist eine nachträgliche Veränderung der Gegenwart unmöglich. Ein Gebot, dass sich Dath zu Herzen genommen hat, so dass die Zeitreise-Episoden in "Dirac" lediglich den Wunsch einer besseren Welt zum Ausdruck bringen, in der Ayn Rand anstatt Ronald Reagan Präsidentin der USA geworden wäre. Von allen Gedanken Diracs scheint jedoch der von der Irreduzibilität der Phänomene der entscheidende zu sein, ein Abgesang auf eine bestimmte Form der theoretischen Kontemplation und den Irrweg des Determinismus, kurzum: ein Bekenntnis zum Marx der 'Thesen über Feuerbach'. "Die Welt, früher für uns ein Schlachtfeld des gerechten Krieges, wird zur Gelegenheit für Abstraktionstheater - dir wird sie zur Rechnung, mir zur Erzählung, Johanna zum Arrangement von Bildern. Aber das ist sie alles nicht: Die Welt ist die Welt des Menschen, in der man handelt", sagt David kurz vor Ende des Romans zu Paul. "Irreduzibel. Nicht auf Theorie zu bringen."

Und so sind es letztlich auch die handelnden Charaktere, denen man Herzschmerz und Hirnschmalz bei der Lektüre widmet. Auf der Beerdigung von Christof ist man den Tränen nah, und wenn Dath schließlich im Nachwort offen legt, dass diese Szene eins zu eins aus "Buffy-The Vampire Slayer" übernommen ist, bringt einen die Erinnerung an den Tod von Buffys Mutter gleich ein zweites Mal dem Zustand des heulenden Schlosshunds näher. Pauls Gewissensbisse, den zweifelhaften Auftrag zur Berechnung des Zellulären Automaten anzunehmen, sorgen für eine Revue der eigenen beschissenen Jobs vor dem inneren Auge. Und wenn Johanna ihre ekelhafte und besserwisserische Tante am Telefon runterputzt, ist man versucht, sich ihre Sätze für die nächste Familienfeier auf die Handfläche zu schreiben. "Dirac" ist ein Buch voller anständiger und liebenswerter Menschen, solche, die sich morgens beim Rasieren nicht so häufig schneiden, weil ihnen der eigene Anblick im Spiegel kein Unbehagen bereiten kann - also genau die, die man gerne im Freundeskreis hat.

Alle diese wunderschönen Dinge machen "Dirac" zu einem Buch, von dem man sich wünscht, es würde dem Meer der langsam unerträglicher werdenden Gegenwart soviel Energie zufügen, dass die dabei entstehenden Wellen uns endlich dorthin transportieren, wo wir schon längst sein könnten: zur Sonne, zur Freiheit und zum Lichte empor.


Titelbild

Dietmar Dath: Dirac. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
383 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518418637

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