Nur Erde und Tote

Ceija Stojka über ihre Befreiung aus Bergen-Belsen

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Nationalsozialisten in ihrem Wahn nicht nur Juden verfolgten, wird oft vergessen. In den Konzentrationslagern litten und starben auch Oppositionelle aus Politik und Kirche, Homosexuelle, Behinderte, Sinti und Roma. Dabei unterschieden die Nazis kaum zwischen Juden und den übrigen Verfolgten. Alle, die in KZs kamen, mussten die menschenverachtende Kaltblütigkeit der Nazis erdulden, und nur ein verschwindend geringer Teil überlebte. Gerade deswegen sind Zeugnisse von Überlebenden so wichtig.

Ceija Stojka, eine österreichische Rom, hat niedergeschrieben, was sie erlebte, als sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im KZ Bergen-Belsen war. Das Bemerkenswerte ist, dass die 72-jährige Autorin mit der Stimme der Elfjährigen, die sie damals war, erzählt. Durch die kaum oder nur kindlich reflektierte Erzählung entsteht eine Direktheit, die dem Leser den Atem verschlägt. Wie sie von den Nazis ist man unversehens von der Geschichte gefangen genommen und wagt kaum zu hoffen, es handele sich nur um eine schreckliche, nicht aber um eine tatsächliche Geschichte.

Doch man schleicht mit Stojka um die Haufen der Toten und verkriecht sich darin, um sich an ihnen zu wärmen. Man isst Blätter, Gras und sogar Stofffetzen, um nicht zu verhungern. Und man fürchtet sich vor der Willkür der Wärter, blickt sie nicht an, um ihnen keinen Grund zu geben, einen zu erschießen. Und als der erste englische Soldat vor einem steht, denkt man nur, er will, dass man sich umdreht, damit er einem ins Genick schießen kann. Woher soll man auch wissen, dass er tatsächlich Befreier ist? Von England hat man ja noch nichts gehört. Also bangt man mit Stojka noch ein letztes Mal, doch der Soldat gibt einem Speck, Wurst, Nüsse und Brot. Als man dann aber vor der Mutter steht, hat sie Angst, man habe all das von den Wärtern gestohlen und gleich komme jemand, der einen erschießt.

In Geschichtsbüchern stehen die Fakten, die - obwohl man sie kaum zu glauben wagt - nicht zu rühren vermögen. Zumindest nicht so, wie die Wortgewalt, die sich durch Stojkas Art der Erzählung entfaltet. Die ist so unbeschreiblich, dass es dem Leser nach kurzer Zeit nicht nur den Atem verschlägt, sondern ihm auch die Fähigkeit nimmt, zu glauben, was er liest. Und die Frage, die sich im Zusammenhang mit dem Holocaust immer stellt, taucht auch hier wieder auf: Wie können Menschen zu so etwas fähig sein? Welcher Zorn, welche Angst trieb sie? Und was bringt die Opfer, wie Stojkas Mutter, dazu, Verständnis für die Täter aufzubringen, weil sie "auch Menschen" sind? Fragen, die wohl nie zu beantworten sein werden. Es bleibt nur festzuhalten, was geschehen ist, damit sich genau das nicht wiederholt. Stimmen, die eine so eindringliche Intensität besitzen, und solche, die so distinkt und plastisch grausame Realität abbilden, tragen dazu bei. Stimmen, wie die der Rom Ceija Stojka.


Titelbild

Ceija Stojka: Träume ich, dass ich lebe? Befreit aus Bergen-Belsen.
Picus Verlag, Wien 2005.
120 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3854524927

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