Römische Gedichte

Jelena Schwarz und Olga Martynova schreiben am russischen Rom-Text

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rom war nicht nur für deutsche Literaten wie Goethe ein Ort der Sehnsucht, der Inbegriff des Südens, den man der Heimat gegenüber stellen konnte, ein Ort aber auch der klassischen Bildung, der Inspiration und nicht zuletzt des glücklichen Liebeserlebens. Auch manche russische Schriftsteller haben hier Station gemacht und die Ewige Stadt in ihr Leben wie auch in ihr literarisches Werk eingeschrieben. Von 1837 bis 1839 lebte Nikolaj Gogol hier, und rund 150 Jahre später wurde Josif Brodskij in Italien zu Gedichtzyklen über Rom und Venedig inspiriert.

Auf diesen Spuren sind nun auch Olga Martynova und Jelena Schwarz gewandelt. Die Dichterinnen sind sich vor Weihnachten 2001 in Rom begegnet, wo Schwarz sich als Gast der Brodskij-Stiftung aufhielt. Sie beschlossen damals, die in Rom und Italien entstandenen Gedichte später in einem gemeinsamen Buch zu veröffentlichen. Dieses liegt nun unter dem programmatischen Titel "Rom liegt irgendwo in Russland" vor. Der Band vereinigt je einen römischen Zyklus von Schwarz und Martynova.

Jelena Schwarz, 1948 in Leningrad geboren, hat Theater, Musik und Kinematographie studiert. Da ihre Gedichte nur im Untergrund erscheinen konnten, war sie auch in der Sowjetunion für viele Lyrikleserinnen und -leser lange eine Unbekannte. Ihr erster offiziell gedruckter Gedichtband wurde jedoch 1989 zu einem literarischen Ereignis. Seit damals hat Schwarz ein gutes Dutzend Bücher veröffentlicht; auf Deutsch liegen jetzt drei Gedichtsammlungen von ihr vor.

Olga Martynova ist etwas jünger als Schwarz. Geboren 1962 in der Region Krasnojarsk, wuchs sie in Leningrad auf. Seit 1991 lebt und arbeitet sie in Deutschland. Martynova ist zwar ebenfalls als Lyrikerin hervorgetreten, ist aber im deutschsprachigen Raum vielleicht eher als Rezensentin ein Begriff. Sie schreibt unter anderem für die "Zeit" und die "N.Z.Z." - nicht nur über russische, sondern auch über deutsche oder polnische Literatur sowie über die kulturellen Entwicklungen im heutigen Russland.

Dass beide Dichterinnen einen engen Bezug zu Leningrad haben, dürfte sich im vorliegenden Band in zweierlei Hinsicht ausgewirkt haben. Zum einen gibt es kaum einen Ort in der russischen Kulturgeschichte, der dermaßen "vertextet" wurde wie St. Petersburg/Leningrad: Die Literaturwissenschaft hat hierfür eigens den Begriff des "Petersburg-Texts" geprägt. An ihm haben Alexander Puschkin, Nikolaj Gogol, Andrej Belyj, Anna Achmatova und viele andere mitgewirkt. Wenn Schwarz und Martynova also nun römische Gedichte vorlegen, so schreiben die beiden Dichterinnen in gewissem Sinne auch auf diesem Hintergrund, in Anlehnung an diesen Text, aber auch in Absetzung von ihm, an einem russischen Rom-Text (weiter). Zum anderen wird St. Petersburg als "Nördliche Hauptstadt" oder als "Palmyra des Nordens" traditionell mit Attributen des Nördlichen belegt. Rom kann deshalb gerade als südlicher Fluchtpunkt, als Ort des Lichts und der Wärme, in einen Dialog mit der Stadt an der Newa treten.

Elena Schwarz' "Römisches Heft" besteht aus insgesamt elf Gedichten, Martynovas "Verse von Rom" aus neun. Es ist für die Lektüre ein großer Gewinn und überaus reizvoll, wenn man die beiden Zyklen einander gegenüber stellt: Dadurch treten sie in ein Zwiegespräch miteinander, sie ergänzen sich, sie bestätigen oder widersprechen sich mitunter. Auch tritt dabei die jeweilige stilistische und "philosophische" Eigenart der beiden Zyklen deutlicher hervor. So ist Elena Schwarz' Beitrag etwa in formaler Hinsicht noch stärker den traditionellen Versformen verhaftet. Dies gilt übrigens allgemein für ihr dichterisches Werk und - im Vergleich mit der deutschen - überhaupt für die zeitgenössische russische Lyrik. Martynovas Rhythmen hingegen sind freier: Möglicherweise kommt hier der Einfluss der deutschen Lyrik zum Tragen. Die Länge ihrer Verszeilen variiert zudem beträchtlich. Martynova setzt zwar ebenfalls Reime ein, doch noch wichtiger scheinen bei ihr die klanglich nah verwandten Wörter, die sie nebeneinander stellt - und damit einander aussetzt.

Elena Schwarz greift vielfach auf Josif Brodskijs berühmten Gedichtzyklus "Römische Elegien" (1981) zurück und schreibt damit den russischen Rom-Text bewusst voran. Manches Motiv, wie etwa der Schädel aus ihrem ersten Gedicht, das Thema des Nordens, aber auch das Licht und die Metapher vom Himmel als einem großen Fisch mit Schuppen scheinen unmittelbar auf Brodskij Bezug zu nehmen. Die "Piazza dei cavalieri di Malta" (Platz der Malteserritter) wiederum ist für sie Anlass, um an den russischen Zaren Paul I. zu erinnern, der selbst zum Großmeister des Malteserordens ernannt worden ist.

In Martynovas Versen nehmen Elemente der ihr natürlich vertrauten deutschen Kultur und Wirklichkeit einen größeren Raum ein: Marlene Dietrich tritt hier auf, die deutsche Eisenbahn findet Erwähnung. Martynova ist Rom gegenüber reservierter eingestellt als Schwarz. Aber als Spaziergängerin durch die Stadt ist sie gleichwohl äußerst konzentriert, sie hört zu, sieht hin und knüpft vielfältige gedankliche Verbindungen: "Inmitten von Zuckerbarock, / von Hufen, Nüstern, Gelock, / von altem wie Glimmer blättrigem Blut - / leckt die Sonne an den Krusten der verwilderten Zeit. / Fetzen von den Kalendern, die einander zerrissen haben, / greift sich der Wind."

Zusammen entwerfen Schwarz und Martynova eine Topografie des heutigen Rom mit seinen Brunnen, Plätzen und Palästen, einer Stadt, die freilich auch mit Menschen bevölkert ist. Besonders Elena Schwarz ruft aber auch die antike Vergangenheit an, den Circus Maximus, das Pantheon; sie zieht die Kunst mit ein, die Fresken Fra Angelicos, nennt Pirandesi oder Barberini und rekurriert auf biblische Stoffe. Das lyrische Ich wird von der Stadt wortwörtlich gefangen genommen: Es wird unvermittelt selbst zu einer Gladiatorin, der Rom eine Stahlkette überwirft. Das durch die Dichterinnen evozierte Rom ist mehr als nur eine touristische Sehenswürdigkeit, es ist ein mit vielen kulturellen Ablagerungen angereicherter Ort, nicht zuletzt eben auch mit russischen Elementen, so dass Martynova im Vorwort zurecht ver-"dichten" kann: "Rom liegt irgendwo in Russland".

Goethe hatte in seinen "Römischen Elegien" das alte Palindrom ROMA - AMOR vielfach durchgespielt. In der russischen Sprache ist ein anderes Wortspiel angelegt: RIM (Rom) kann hier mit MIR (Welt; Frieden) in einen Dialog treten (und nimmt damit das alte lateinische urbs / orbs wieder auf). Und tatsächlich treffen sich Martynovas und Schwarz' Gedichte an dieser Stelle: Die Villa Medici wird für Schwarz zum "Zentrum Roms, Zentrum der Welt"; Martynova bringt die Stadt und die Welt mehrmals im selben Vers zusammen.

Die beiden römischen Gedichtzyklen sind im typografisch schön gestalteten Bändchen russisch und deutsch abgedruckt. Die Übersetzungen ins Deutsche haben Olga Martynova und Elke Erb gemeinsam besorgt. Die beiden sind ein eingespieltes Duo und haben beispielsweise bereits den Band "Brief an die Zypressen" (2001) von Olga Martynova übertragen. Elke Erb gehört zweifelsohne zu den besten Übersetzerinnen von russischer Lyrik ins Deutsche.


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Olga Martynova / Jelena Schwarz: Rom liegt irgendwo in Russland. Zwei russische Dichterinnen im lyrischen Dialog über Rom. Gedichte. Russisch/Deutsch.
Übersetzt aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova.
edition per procura, Wien 2006.
80 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3901118578

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