Im Zentrum des Albtraums

Piera Sonninos "Die Nacht von Auschwitz"

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wann immer die Überlebenden des Holocausts sprechen, kann eigentlich nur eins passieren: Es überkommen den Zuhörer unaussprechlicher Schmerz, Scham und Unverständnis. Fragen tauchen auf - Fragen, auf die es jedoch keine Antwort gibt, egal wie oft man sie stellt. Und ein Gefühl ist da, was sich über alle anderen erhebt: Wut. Wut ob der Hilflosigkeit der Opfer, der Willkür und des Wahnsinns der Täter. Schließlich auch Wut ob der Stimmen, die diesen unleugbaren Holocaust heute zu leugnen wagen oder "Bombenholocaust" sagen, wenn sie vom alliierten Luftangriff auf deutsche Städte sprechen.

Die Stimme der Überlebenden Italienerin Piera Sonnino, die ihre Familie - Vater, Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern - in deutschen Konzentrationslagern verloren hat, ist eine, die all das Mitgefühl, das Entsetzen und den Zorn zu Tage fördert, intensiver und klarer, als es dem Leser beliebt. Sonnino, im Jahre 1999 gestorben, hat bereits 1960 ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Erst jetzt jedoch, sieben Jahre nach ihrem Tod und über vierzig Jahre nach dem Verfassen, ist "Die Nacht von Auschwitz" veröffentlicht worden. Sonnino erzählt mit ebenso eindrücklichen wie einfachen Worten die Geschichte ihrer Familie bis zur Deportation, der Trennung und der Nachricht von ihrem Tod. Alles scheint normal zu sein, eine Familie, wie viele andere auch: Ein Vater, der sich um seine Familie sorgt, eine Mutter, die um die gute Erziehung ihrer Kinder bemüht ist, große Brüder und kleine Schwestern. Es ist aber nicht das Leben irgendeiner, sondern einer jüdischen Familie im erst faschistischen, dann von den Deutschen besetzten Italien. Kaum ist das passiert, erkennt die Familie, dass sie fliehen muss. In verschiedenen Verstecken harrt sie - immer wieder unterstützt - aus, bis sie am 12. Oktober 1944, verraten von einer Nachbarin, verhaftet und nach Auschwitz gebracht wird. Dort, am 27. Oktober, erlebt die Familie die letzte gemeinsame Nacht, am Morgen des nächsten Tages wird sie für immer getrennt. Vater und Mutter werden noch am 28. Oktober ermordet, Sonninos Brüder sterben im November desselben Jahres. Sie bleibt mit ihren Schwestern Maria Luisa und Bice zusammen, von Auschwitz geht es weiter nach Bergen-Belsen. Bice stirbt in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1945, Maria Luisa im März 1945 in Flossenbürg.

Zu schreiben "Die Nacht von Auschwitz" erzähle, wäre falsch, legte das doch nahe, es handle sich um eine "Erzählung" und nicht um erlebte Geschichte. Aus den realitätsfernen Ereignissen jedoch entsteht ein unbewusster Reflex, der von "erzählen" sprechen will, weil man dadurch all die Grausamkeit ins Reich der Narration, ins Reich perverser Fantasie verbannen könnte. Man befände sich damit nicht einmal im Fahrwasser derer, die wider besseres Wissen leugnen, um ihre hasserfüllten Ansichten zu propagieren. Nein, Fassungslosigkeit wäre der Vater dieses Reflexes. Aber man kann es nicht. Denn man weiß, dass Sonnino nicht erzählt, sondern berichtet: über die Verfolgung, die Deportation, den Massenmord; über die Angst, das Leid, den Tod. Man kann es nicht nur der Opfer, sondern auch der Täter wegen nicht, deren Motivation man, so sehr man es versucht, nicht zu ergründen vermag. Und man kann es wegen all jenen nicht, die heute im Geiste dieses Wahns zuhause sind, die den Hass und die Ablehnung in fast identischem Maße fordern und praktizieren wie ihre verfluchten Ahnen. Sonnino schreibt über die Ankunft ihrer Familie in Auschwitz: "Ich bin nun in einer Dimension, stelle ich fest, in der es nichts menschliches mehr gibt, die allem Menschlichen völlig feindlich gesinnt ist, eine Dimension, die selbst diejenigen, die sie erschaffen haben, absorbiert hat und zu einem eiskalten, schlammigen Mechanismus geworden ist, schicksalhaft und unausweichlich. [...] Wir befinden uns im Zentrum des Albtraums." Die Hoffnung ist schwach, aber sie bleibt, dass die Menschen nie mehr in so einen Schlaf fallen. Zeugnisse wie "Die Nacht von Auschwitz" mahnen daran.


Titelbild

Piera Sonnino: Die Nacht von Auschwitz. Das Schicksal einer italienischen Familie.
Übersetzt aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
123 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3499241358

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch