"Oh, Günter, mir graut vor Dir"

Eine Sympathieerklärung für Louis Begleys Essay über Günter Grass' spätes SS-Geständnis

Von Volker WehdekingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Wehdeking

Die panische Angst, die der US-Schriftsteller Louis Begley als kleiner Junge (Jahrgang 1933) in Polen beim Anblick von SS-Uniformen oder Gestapo-Leuten ergriff, gab ihm das Gefühl, dort in Strji ein "Tier" zu sein, "das zur Jagd freigegeben war und umgebracht werden sollte", wie er in seiner Kritik an Günter Grass' SS-Beichte schreibt, die in der FAZ erschienen ist (21. August 2006). Es ließ ihn als US-Infanterist in Deutschland in den 50er Jahren und seit den 80er Jahren als Anwalt und Autor im Umgang mit selbstbekundeten "Männern der Ostfront" auf einen Handshake verzichten, so tief saß diese Erinnerung. Begley zitiert in seinem Artikel Passagen aus Paul Celans "Todesfuge" und verweist auf die vielfach belegten Kriegsgreuel dieser Einheiten, nicht nur in Polen.

Man könnte die Verse der deutschen Jüdin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, gerettet durch Selma Lagerlöf in die schwedische Emigration, hinzufügen, oder jene von Rose Ausländer, und die Prosa von Ruth Klüger und Ilse Aichinger: in jedem Falle sind die Stimmen der Opfer und Verfolgten aus jener Zeit im Themenfeld Auschwitz, Lebenslüge und schriftstellerisches Aufarbeiten (etwa in der Gruppe 47, mit den durchwachsenen Widerstandsbekenntnissen von Richter und Andersch, als jeunes allemands gegen ihren Willen in Uniform gewesen zu sein, in "Die Geschlagenen", 1949, dazu Anderschs und Bölls Desertion), das Gültigste, und das weiß eigentlich auch Günter Grass, der einiges von seinem Literaturnobelpreis den Opfern unter den Sinti und Roma stiftete. Böll sprach von den SS-Verbänden bei Kriegsende als den "Kettenhunden". Ihm war 1945 das Jahr der Befreiung.

Ähnliche Gefühle empfand der siebenjährige Roman Polanski in Krakau (geboren 1933 in Paris), als seine Mutter von solchen Verbänden verhaftet wurde und später in Auschwitz mit vielen anderen Polanskis umkam, während das Kind mehrfach deutschen Soldaten als Zielscheibe für Schießübungen herhalten musste und Gewalt und Verletzungen in Serie erlebte. Auch Polanski hat erst spät dies alles filmisch in Szene gesetzt in dem eindringlichen Film "Der Pianist" (2002) nach authentischen Erinnerungen Vladyslav Szpilmans. Aber seine erschütternden Bilder, die auch einen guten deutschen Offizier zeigen (W. Hosenfelds authentische Einwände gegen das Vorgehen der Landsleute in Warschau spiegelnd) helfen uns heute die moralisch rigorose Haltung der Opfer nachvollziehen.

Das viel zu späte und angesichts der 62 Jahre Doppelstandard zwischen Werkimpetus und Vita allzu vage begründete Zögern von Grass, das den meisten taktisch erscheint, gewinnt auch für Begley seine Anstößigkeit aus der Rolle des hierin eklatant unaufrichtigen, politischen Polemikers. Als ein Generationenvertreter der "Nachgeborenen" aus der Gnade der späten Geburt meine ich dennoch, moralischer Empörung über diesen durchgehaltenen Doppelstandard von Grass im Namen intellektueller Redlichkeit hafte nichts "Tantenhaftes" an (Ijoma Mangold, SZ, 19./20. August 2006). Messen wir Grass an seiner eigenen Polemik: als Oskar Lafontaine ihn durch den abrupten Rückzug enttäuschte, riet er ihm, ab sofort solle er "Rotwein trinken, das Maul halten und sich eine anständige Arbeit suchen". Dem Rotweintrinker Grass auch nur ein wenig neue Nachdenklichkeit anzuempfehlen, ist wohl aussichtslos, da er dies Wochenende in einem Rundfunkinterview schon wieder von "den kriminellen Machenschaften der Treuhand" und ähnlich lohnenden Themen loslegt, während sich seine Leser fragen müssen, ob das Wort "kriminell" angesichts der Einschätzung der Waffen-SS aus seinem Munde nicht neuerdings hohl tönt. Ich würde Grass am liebsten auferlegen, wo schon die Selbstironie fehlt, sich zehnmal Polanskis Film "Der Pianist" anzusehen. Vielleicht hätte er dann weniger Lust zur nächsten Lesetournee. Vielleicht fiele im noch manches Verdrängte aus der Zeit vor Kriegsende, damals immerhin fast schon im Abituralter, ein.