Suggestive Räume, so groß wie das Ritz

F. Scott Fitzgeralds Fragment "Die Liebe des letzten Tycoon" in einer Neubearbeitung

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ab einem gewissen Alter - so mit 17, ungefähr - sollte es Literaturkritikern verboten sein, über F. Scott Fitzgerald zu schreiben. Hemingway ist gerade noch grenzwertig, Virginia Woolf auch. Hesse sowieso. Aber Fitzgerald? Keine Chance! Denn wer sich diesem Kerl nähern will, muss durch ein Minenfeld aus Klischees: geboren 1896, schon als Teenager Alkoholiker, mit 23 der erste Roman und mit 25, gemeinsam mit Ehefrau Zelda, glamouröser Mittelpunkt der "Roaring Twenties". Dann der Absturz: Weltwirtschaftskrise, kommerzielle Misserfolge, Scheidung. 1937 geht er als Drehbuchautor nach Hollywood; drei Jahre später ist er tot. Fitzgerald hinterlässt vier Romane, mehrere Dutzend Kurzgeschichten, eine psychisch kranke Exfrau in einem Irrenhaus in Asheville, North Carolina, und ein Fragment: "Die Liebe des letzten Tycoon".

Ein solches Leben lässt sich auf zwei Arten aufbereiten, und eine ist schlimmer als die andere. Variante A ist der Pathos: "Fitzgerald schrieb über traurige Männer und abwesende Frauen; er schrieb über unvergessene, in den Perlmuttglanz der Nostalgie getauchte Liebe; und über aufrechte Menschen mit übervollen Herzen, umtost von einer Epoche, so flüchtig wie die Blüte der Jacarandabäume." Wären Kritiker Bäcker, dann käme ihnen bei Fitzgerald immer nur Buttercremetorte in den Sinn, kiloweise.

Variante B wirkt professioneller, ist aber ebenso grausig: "Fitzgerald sezierte Amerika, in all seiner Bigotterie, Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit. Seine Romane sind Seismographen eines kollektiven Alpdrucks, kunstvoll-kühle Landkarten all der sublimen Vernarbungen auf der Oberfläche der Kehrseite einer Medaille, zerkratzt von den sozialen Scheren einer Gesellschaft, die in rauschenden Festen ihren eigenen kollektiven Untergang vorwegnahm." Wären Kritiker Kleriker, dann wäre Fitzgerald so etwas wie Pfingsten: die Standardgelegenheit, um den Teufel der Säkularisierung an die Wand zu malen, "denn wer weiß überhaupt noch, was das heißt: Pfingsten?"

Es fällt viel zu leicht, den Chronisten des "Jazz Age" derart zu reduzieren. Aber was soll man mit diesem Leben, diesen Büchern, sonst noch groß anfangen? Schließlich hatte auch Fitzgerald selbst immer eine gewisse Nähe zum Klischee. Er war ein Handwerker, der stets genau wusste, welche Knöpfe er zu drücken hatte. Selbst banalste Topoi - die geheimnisvolle Schönheit; der einsame Fremde; all die armen, armen reichen Kinder ihrer Zeit - konnte er noch bis knapp unter den Siedepunkt des Kitschs aufheizen oder bis zum Gefrierpunkt kühler Satire herunterkühlen. Bunte, bittersüße, fast triviale Geschichten, deren Stärke nicht in ihrer Form oder ihrem Stil liegt, sondern in ihrer absoluten Gefälligkeit. Genauso gut hätte er Schlagertexte schreiben, Vorabendserien drehen oder Meg-Ryan-Filme produzieren können. Fitzgeralds Kunst liegt nicht in seinem Schreiben begründet, sondern in seinem unfehlbaren Gespür für gute, sehnsuchtsvolle Schmonzetten, seiner Beinahe-Superheldenfähigkeit, sich genau jenen Feenstaub aus dem Ärmel schütteln zu können, der auch Schlagertexte, Vorabendserien und eben auch Meg-Ryan-Filme am Leben erhält.

Auch Monroe Stahr, der "letzte Tycoon" aus Fitzgeralds Fragment, verfügt über diese Fähigkeit. Er ist ein Hollywoodproduzent der alten Garde; der letzte, der den Glamour und das Grandeur der Stummfilmzeit in eine neue Ära herüberrettet: in die 30er-Jahre, gebeutelt von Depression und Zensurbestimmungen. Stahr ist kein Künstler, kein Visionär. Aber er hat ein Gespür für die richtigen Kameraeinstellungen, Werbezeilen, Hauptdarsteller: "Wie viele Ausnahmenaturen war er als Heranwachsender gefühlskalt gewesen. Von seinem zwölften Lebensjahr an hatte er mit der radikalen Abwehrhaltung, wie man sie gerade bei geistig ungewöhnlich begabten Menschen findet, nach dem Motto 'Es stimmt doch hinten und vorne nichts in der Welt, ist doch nur Lüge und Scharlatanerie und ein einziges Schlamassel' alles und jedes negiert, sich dann aber, statt wie die meisten Menschen dieses Typs zu einem ausgewachsenen Ekel zu werden, in der entstandenen Ordnung umgesehen und sich gesagt: 'So geht es nicht!' Und hatte Toleranz, Güte, Schonung, ja sogar Zuneigung gelernt wie ein Schüler seine Lektion."

Die Figur des Stahr basiert auf Irving Thalberg, Mitbegründer der MGM-Studios und Produzent von "Ben Hur" und den Marx Brothers-Filmen. Trotzdem ist der Charakter eine Fantasie, ebenso überlebensgroß, pathetisch und gebrochen wie Fitzgeralds "großer Gatsby" von 1925. Auch Stahr ist ein Emporkömmling, auch er ist von der Vergangenheit (in diesem Fall: dem Tod seiner Frau, einer Filmdiva) gezeichnet, und genau wie Gatsby führt er ein Leben auf der Überholspur, ohne emotional vom Fleck zu kommen. Und wieder brausen schöne Menschen in teuren Autos hübsche Küstenstriche entlang. Und wieder ist der Ausblick aufs Meer von bösen Immobilienmaklern zugebaut worden.

Nur ist es dieses Mal eben nicht der Atlantik, gegen den Fitzgeralds Held anrudern muss - "boats against the current, borne back ceaselessly into the past"-, sondern die US-Westküste. Los Angeles, "a city by the sea / a gentle company / its' hollowness will haunt you". Und so ist auch der Untertitel des Romans zu verstehen: "ein Western", das meint keine Cowboys und Indianer, sondern das Setting, "edge of the world in all the western civilizations." California, Cali-fooornia, here we come!

Doch Monroe Stahrs Kalifornien wirkt - gerade im Gegensatz zu Gatsbys herb-romantischer Long-Island-Szenerie - unangenehm kulissenhaft: Erst wird unser Held in seinem Büro von einem Erdbeben überrascht, dann flutet ein Wasserrohrbruch das Studiogelände und schließlich schwimmt ein Pappmachékopf der Göttin Shiva aus einem Abenteuerfilm-Dschungel-Set hinaus in die Vollmondnacht. Obenauf sitzen zwei junge Herumtreiberinnen, die sich heimlich die Kulissen ansehen wollten; und weil eine von ihnen im fahlen Mondlicht aussieht wie Stahrs tote Gattin, lässt er nichts unversucht, um sie wiederzusehen. Soweit die Prämisse.

"Die Liebe des letzten Tycoon" nimmt sich selbst nicht allzu ernst: Denn immer, wenn der Roman in Richtung Hollywood-Satire schlingert, passiert das auf Kosten der Figuren, der Plausibilität. Das alles ist zu laut, zu grell, zu plump. Und doch nicht plump genug: Ein trauriger Hollywoodproduzent (mit angeborenem Herzfehler, der ihn jederzeit umbringen kann) und sein Aschenputtel auf dem Göttinnenkopf (natürlich mit düsterem Geheimnis, das, einmal ausgesprochen, der jungen Liebe jede Zukunft rauben wird) - das alles könnte wunderbar gaga sein. Wäre es mutiger, subversiver, origineller auch. Doch als ernstgemeintes Charakterstück übersteht "Die Liebe des letzten Tycoon" nicht einmal den Vergleich mit Romanzen wie "Notting Hill".

"Eine mittsommerliche Unruhe lag in der Luft - der August hatte begonnen, mit unbesonnener Liebe und impulsiven Verbrechen. Vom Sommer war nicht mehr viel zu erwarten, man war deshalb ängstlich bemüht, in der Gegenwart zu leben oder, wenn man keine Gegenwart zur Hand hatte, eine zu erfinden", das kann auch vor 60 Jahren nicht weniger pathetisch geklungen haben als heute. Sätze, wie sie Lisa Plenske morgens auf dem Weg zur Arbeit in der S-Bahn lesen würde: "Martha Dodd war vom Land, sie hatte nie ganz begriffen, was mit ihr passiert war, und geblieben war ihr nur ein verwaschener Ausdruck um die Augen. Sie glaubte immer noch, das, was sie kurz gekostet hatte, wäre das wirkliche Leben, und die Gegenwart nur ein langes Warten." Das will nicht, das kämpft nicht, das sucht nicht und fragt nicht. Das ist einfach, und zwar Kitsch - Literatur jedenfalls fühlt sich anders an.

Noch dazu holpert auch die Perspektive gewaltig. Denn Erzählerin und heimliche Hauptfigur ist Cecilia Brady, halbwüchsige Tochter von Stahrs Geschäftspartner und verwöhntes It-Girl (Tori Spelling, anyone?). Cecilia hegt selbst Gefühle für Stahr, flüchtet sich in flapsigen Zynismus und ergeht sich in latent antisemitischer Küchentischpsychologie: "Stahr, wie die meisten Angehörigen seiner Rasse [...]". Eine spannende Konstellation - würde sie denn funktionieren. Doch immer, wenn Cecilias Rollenprosa an ihre Grenzen gerät, bricht sie einfach ab - und ein allwissender Erzähler gibt uns Informationen, die Cecilia unmöglich wissen kann. Wozu dieser Eiertanz?

Das Perfide (oder, je nach Sichtweise, Grandiose) an "Die Liebe des letzten Tycoons" aber ist, dass Ungereimtheiten, Kitsch und kompositorischen Mängel überhaupt keine Rolle spielen. Denn der 200-Seiten-Text ist, wie gesagt, nur ein Fragment. Bis zu seinem Tod hatte Fitzgerald erst etwa die Hälfte der Handlung ausformuliert. Die vorliegende Neuausgabe basiert auf der Veröffentlichung durch Edmund Wilson (1941), die vor allem auf Geschlossenheit abzielte, wurde aber, durch Abgleich mit Notizen aus Fitzgeralds Nachlass und einer später erschienenen kommentierten Ausgabe, von sämtlichem Fremdeinfluss bereinigt. Doch würde ohne die redaktionelle Aufbearbeitung überhaupt klar, dass der Roman nicht abgeschlossen ist? Das Herzstück des "letzten Tycoon", die Liebesgeschichte zwischen Stahr und seiner Zufallsbekanntschaft, ist jedenfalls ordentlich auserzählt. Und die verbleibenden Handlungsfäden (vor allem Stahrs Machtkämpfe mit der Writer's Guild und Differenzen in der Studiopolitik) lesen sich wie Beiwerk, das - in dieser Form - sicher keine ungeschriebene "zweite Hälfte" hätte tragen können.

Ab einem gewissen Alter - so mit 17, ungefähr - sollten Leser in der Lage sein, nicht gleich loszubrüllen, wenn ein Buch nach Klassiker aussieht, aber doch vor allem massentaugliche Unterhaltung bietet. F. Scott Fitzgerald jedenfalls hat ständig, während all den Auf und Abs seiner Karriere, über seine Verhältnisse gelebt - und deshalb war ihm sein erzählerisches Talent in erster Linie Kapital. Seine Geschichten wurden allesamt im Hinblick auf maximale Lesbarkeit und größtmöglichen Erfolg verfasst. "Wird Zeit, dass wir einen Film machen, mit dem wir in die roten Zahlen kommen", grinst Monroe Stahr in einer Szene, während er einen obskuren Russland-Film plant. "Wir können es als eine Geste des guten Willens abschreiben, so was erschließt uns neue Zuschauerkreise." Fitzgerald selbst hat eine solche Geste nie gemacht. Das einzige Buch, das zu seinen Lebzeiten floppte, "Der große Gatsby", begründet zwar heute Fitzgeralds Klassiker-Status, doch der Misserfolg war ganz und gar unerwartet. Und deshalb ist es nicht sehr überraschend, dass "Die Liebe des letzten Tycoon" alle "Gatsby"-Topoi noch einmal aufbrüht, dieses Mal in einem bunterem, gefälligeren Ambiente. Und dass jeder zweite Satz danach schreit, von Backfischen in Kansas oder Sekretärinnen in Detroit mit "hach - traurig, aber wahr!" kommentiert zu werden. All das ist Kalkül.

Nur der größte - und effektivste - Kunstgriff dieser Geschichte ist ganz und gar unbeabsichtigt: ihre Unfertigkeit. Und erst dieser Fragmentcharakter macht "Die Liebe des letzten Tycoon" vom ephemeren California-Klump zur ernstzunehmenden und lohnenden Lektüre. Monroe Stahrs Geschichte ist ein Do-it-Yourself-Roman, der genügend zerrissene Figuren und intelligente Konflikte anreißt, um das Kopfkino der Leserschaft anzukurbeln. Ein Buch, das ständig suggestive Räume öffnet, das durch seine schiere Unfertigkeit mit jeder Zeile über sich selbst hinausweist. So lange kein einziger Satz dieses Konvoluts von seinem Autor abgesegnet wurde, ist auch keiner von ihnen wirklich gültig. Und so springt man als Leser immerzu selbst ein: nimmt Umbesetzungen vor, Kürzungen, ersetzt die Shiva-Statue durch King Kongs Kopf, lackiert das Auto um und beseitigt die schlimmsten Herzschmerz-Floskeln.

Und dann gibt es ein, zwei Stellen, an denen man gar nichts tut: Hollywoods Jet-Set in der Wartehalle eines Provinzflughafens, morgens um halb drei; oder Sex auf dem Fußboden eines völlig unmöblierten Strandhauses, während draußen der Regen tobt - da möchte man einfach aufspringen und "Cut!" schreien. Und rübergehen zu Fitz, ihm auf die Schultern klopfen, dass alle Eiswürfel aus seinem Cocktail klirren, und sagen: "Danke, Mann - das ist perfekt. Das übernehmen wir, eins zu eins. Großes Kino, Buddy!" All diese grellen, lauten Sätze eben, die man nur in Hollywood aussprechen darf.


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F. Scott Fitzgerald: Die Liebe des letzten Tycoon. Ein Western. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
234 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3257861311

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