Genialer Künstler und großer Skeptiker des Wortes

Mark Rothko und sein wiedergefundenes Manuskript

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mark Rothko gehört zu den bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Er ist einer der Hauptvertreter des abstrakten Expressionismus. Seine großformatigen Bilder sind von einer faszinierenden Rätselhaftigkeit und in vielen Kunstsammlungen zu finden.

Geboren wurde er als Marcus Rothkowitz 1903 in Daugavpils (Dünaburg), im damaligen Russland und heutigen Litauen. 1913 emigrierten seine Eltern mit ihm in die USA.

Zu malen begonnen hatte er in den zwanziger Jahren. Bis 1939 widmete er sich figürlicher Malerei. Um 1940 ließ er sich vom Surrealismus inspirieren. Daneben beschäftigte er sich mit Philosophie, mythologischer Literatur und der Bedeutung des Unbewussten für das Kunstschaffen. Was nicht auf die Verwirklichung höchster Ideale abzielte, hatte vor Rothkos Urteil keinen Bestand. Obwohl er erklärter Sozialist war, hegte er tiefes Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen und meinte, es sei "stets aufs neue ein riskantes, ja herzloses Unterfangen, ein Bild in die Welt zu schicken." Stets war er von der Angst besessen, seine Malerei könne missverstanden werden oder durch ein gleichgültiges Publikum Schaden nehmen. Seine Bilder sollten eine eigene Wirklichkeit konstituieren und keineswegs die wahrnehmbare Umwelt nachahmen.

Er selbst - ein wortkarger Misanthrop - bezog zu seinen Werken nur selten öffentlich Stellung. In den Augen seiner Mit- und Nachwelt war er ein "schweigender Mystiker der Kunstgeschichte" und galt als der "große Skeptiker des Wortes". Umso größer war das Erstaunen von Freunden und Kunstkennern, als zwanzig Jahre nach seinem Freitod im Jahr 1970 ein Manuskript von ihm in einem alten Ordner auftauchte. Es sollten noch einmal vierzehn Jahre vergehen, ehe es Rothkos Sohn Christopher zu Gesicht bekam. Das außergewöhnliche Schriftstück mit dem Originaltitel "The Artist's Reality", das unvollendet geblieben und offensichtlich um 1940/41 entstanden war, hat der Sohn (er ist Schriftsteller, Psychologe, Verwalter des Nachlasses seines Vaters und lebt in New York City) dann sorgfältig für den Druck vorbereitet und mit einem Vorwort versehen. Vor einigen Jahren erschien der Band in Amerika und liegt jetzt auch in deutscher Übersetzung vor, illustriert mit Reproduktionen der Originalseiten des Manuskripts sowie mit einer Auswahl wichtiger Werke aus seiner Entstehungszeit. Während Christopher Rothko ausführlich auf die Entdeckung des Manuskripts eingeht und die Gedankengänge seines Vaters sachkundig kommentiert, äußert sich Peter J. Schneemann, Ordinarius für Kunstgeschichte der Gegenwart und Direktor des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Bern, kompetent über die Bedeutung der Schrift.

Es ist ein wichtiges Zeitdokument, das die Selbstdefinition der amerikanischen Moderne widerspiegelt und einen detaillierten Einblick in die Weltsicht eines bildenden Künstlers sowie in Rothkos Auseinandersetzung mit zentralen Themen der Kunst gewährt. Doch kommt der Autor an keiner Stelle direkt auf sein eigenes Werk zu sprechen. Der Text selbst ist mitunter etwas schwer verständlich, ja geradezu widerspenstig und daher nicht immer leicht zu lesen. Er gliedert sich in einen polemischen und in einen philosophischen Teil.

Rothko beklagt das Manko zahlreicher Kunstausstellungen, die oft "erst bei Monets Impressionismus angekommen sind". Er polemisiert gegen dekorative und populäre Kunst, volkstümliche Malerei und politische Propaganda und zeigt sich irritiert vom Kunstbetrieb im Allgemeinen.

Ihm selbst geht es um die Autonomie der abstrakten Kunst, um die Frage, warum nur sie imstande sei, "Wahrheit" in Form zeitloser, metaphysischer Ideen zu präsentieren. Wichtig sind Rothko überzeitliche ästhetische Kategorien in der Kunst. Seine historischen Gewährsmänner sind Michelangelo, Rembrandt, Leonardo, Cezanne, die Romantiker sowie die Kunst und die Philosophie der Antike. In den Essays ist ferner von der Tätigkeit des Künstlers die Rede, von der Bedeutung der Bilder, der Bedeutung des Mythos für Kunst und Gesellschaft, vom "Dilemma des Künstlers" und vom irrationalen Wesen der Inspiration, die in dem "Bereich zwischen kindlicher Unschuld und Wahnsinn für den durchschnittlichen Menschen auf ewig verborgene Wahrheit entdeckt." Deutlich wird ebenfalls, dass für Rothko der Maler dem Philosophen näher steht als dem Wissenschaftler. Wie in der Musik gehe es auch in seinem Werk darum, das nicht Mitteilbare zum Ausdruck zu bringen.

Vor allem die Geschlossenheit des antiken Weltbildes und seine klar strukturierte Ordnung zogen den Künstler Mark Rothko stark in ihren Bann. Die frühchristliche Welt übte auf ihn zwar keinen so starken Reiz aus, gleichwohl schien er die Künstler jener Jahrhunderte darum zu beneiden, dass sie gleichfalls in einer durch eine klare innere Logik gegliederten Welt zu Hause waren.


Titelbild

Mark Rothko: Die Wirklichkeit des Künstlers. Texte zur Malerei.
Herausgegeben von Christopher Rothko. Mit einem Nachwort von Peter J. Schneemann.
Übersetzt aus dem Englischen von Christian Quatmann.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
239 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406528805

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