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Uwe Steiner und der "Cambridge Companion" führen in das Werk Walter Benjamins ein

Von Karlheinz BarckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karlheinz Barck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint, als öffne sich für Benjamin und sein Œuvre ein neuer Horizont an Wirkungsmöglichkeiten, als sähe man in der Folge der Übersetzung seiner wichtigen Texte in fast alle europäischen Hauptsprachen (jüngst sogar des Passagenwerks ins Koreanische) überall Spuren und Zeichen eines neuen Jetzt der Erkennbarkeit, das die exegetischen und kanonisierenden Lektüreweisen hinter sich lässt. Mit der sechsbändigen Edition seiner Briefe durch den Suhrkamp-Verlag haben sich auch die Voraussetzungen für eine bessere Kenntnis und Aufklärung biografischer sowie werk- und zeitgeschichtlicher Zusammenhänge des Benjamin'schen Denkens wesentlich verbessert. Das von Burkhardt Lindner koordinierte neue "Benjamin-Handbuch" des Metzler-Verlages (2006) will nun sogar "das ganze Spektrum von Benjamins Einzelschriften" in der "Radikalität seines Denkens" in die aktuelle Diskussion stellen. Nimmt man dieses Handbuch als einen Versuch, dafür aus den Analysen im Einzelnen den state of the arts in Sachen Benjamin für die nächste Zeit zu gewinnen und zu präsentieren, dann gehören die beiden anzuzeigenden Bände als zwei Wendemarken in der internationalen Debatte über die Aktualität Benjamin'schen Denkens fraglos dazu.

Uwe Steiners Einführung. Das Politische im Denken Benjamins

Uwe Steiner, Germanist und Politologe aus Berlin, der heute an der Rice University in Houston/Texas lehrt, ist selbst mit drei Beiträgen in dem Benjamin-Handbuch vertreten. Seine Einführung in die Schriften und das Universum Benjamins ist in der Konstruktion und in der Darstellung eine der besten Gesamtdarstellungen überhaupt. Steiner folgt der Chronologie der Schriften in sieben Abschnitten, von den Frühen Schriften 1914-1918 bis zur Urgeschichte der Moderne 1931-1940, die mit der Passagenarbeit und den geschichtsphilosophischen Thesen über den Begriff der Geschichte endet. Vor- und nachgestellt sind jeweils knappe Resümees über Leben und Werk und posthume Wirkung und Stationen der Rezeption. Eine Zeittafel, eine umfangreiche Auswahlbibliographie (20 S.) sowie ein Namen- und Werkregister erhöhen Informationswert und Nutzbarkeit des Buchs.

Als besondere Empfehlung an künftige Leser sei gleich hingewiesen auf den in deutschen akademischen Texten noch immer seltenen, die Lesbarkeit fördernden Darstellungsstil, der das Buch gerade auch für interessierte Neulinge und Dilettanten zu einer höchst spannenden Lektüre macht. Steiner versteht sich als kritischer Partner aller Benjaminianer, auf deren Erkenntnissen und Ergebnissen seine Darstellung aufbauen kann und die er in einer für den Leser nützlichen und eleganten Geste jeweils am Schluss eines Abschnittes nennt.

In einer in der bisherigen Benjamin-Diskussion umstrittenen Frage, ob sich Benjamins Œuvre in ein "metaphysisch-theologisches Früh- und ein marxistisch orientiertes Spätwerk" trennen ließe, bezieht Steiner die klare Position, dass man den Prozess Benjamin'schen Denkens und die Arbeit am Begriff in wechselnden geschichtlichen Konstellationen beachten müsse. Dann kommt, wie Steiners Einführung brillant vorführt, auch die theologische Unruhe in Benjamins Auseinandersetzungen mit den Marxismen seiner Zeit (aber auch mit Heidegger) in ihrer Bedeutung für den Ausbau seiner alternativen Kultur- und Geschichtskonzeption in den Blick.

Den eigentlichen Fluchtpunkt von Steiners Einführung bildet Benjamins Begriff der Politik (besser: des Politischen) in allen seinen Arbeiten. Steiner hat als einer der ersten darin die Triebfeder von Benjamins sokratischem Denken erkannt und darüber schon 2000 in einem großen Aufsatz (Der wahre Politiker. W.B.'s Begriff des Politischen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 2/2000) gezeigt, dass Benjamins politische Philosophie "um eine eigentümliche Metaphysik des Leibes und der Technik zentriert ist". Was Benjamin nach seiner durch einen coup de foudre gezündeten Begegnung mit der lettischen Regisseurin Asja Lacis seine "Wendung zum politischen Denken" nannte und im Brief an Scholem als seine Absicht präzisierte, "die aktualen und politischen Momente in meinen Gedanken nicht wie bisher altfränkisch zu maskieren, sondern zu entwickeln, und das, versuchsweise, extrem", das zeigt Steiner als das Leitmotiv Benjamin'schen Denkens, gleich wo und gleich woran es sich entzündet. Benjamins verstreute Reflexionen zu einer Theorie des Politischen, an die er zeitlebens dachte, die er aber nicht (mehr) schreiben konnte, legt Steiner zu einem Mosaik zusammen, auf dem diese Theorie als eine Denkfigur im Œuvre Benjamins erscheint, die dieser sich als Drehscheibe eines anthropologischen Materialismus vorstellte. Steiner rekonstruiert sie als die Gestalt einer Ordnung des Profanen: "<Profan> nennt Benjamin diese Ordnung zum einen, weil sie sich eben nicht auf das Messianische als ihr Telos bezieht, sondern sich an der 'Idee des Glücks' aufrichtet. In dieser Bestimmung ist sie [...] mit dem Politischen identisch." Es ist dieser von Steiner rekonstruierte Bauplan Benjamins, der seine Einführung für den Leser zu einem Schlüsseltext macht, weil er uns an das erinnert, was lange unter den Verdikten Adornos stand und nicht beachtet wurde, dass nämlich Benjamin "mit seinem Hinweis auf das Glück den Schlüsselbegriff des anthropologischen Materialismus und damit seiner Politik aufgreift".

Benjamins Denken aus anglo-amerikanischer Sicht

Ganz anders als Steiners Gesamtansicht ist die Einführung konzipiert, die David S. Ferris als Herausgeber für die Reihe der renommierten "Cambridge Companions to Literature" koordiniert hat. Elf Autoren, allesamt beste und ausgewiesene Kenner des Benjamin'schen Œuvres, wurden gebeten, mit einem auf eine englischsprachige Leserschaft zugeschnittenen Text beizutragen zu einer "comprehensive introduction to the thought of the highly influential twentieth-century critic and theorist Walter Benjamin". Die unter solcher Zielstellung versammelten elf Autoren konnten damit rechnen, dass die wichtigsten Texte Benjamins seit den 70er Jahren sukzessive in englischen Übersetzungen vorgelegt wurden, dass auch die Biografien von Bernd Witte (1991) und Momme Broderson (1996) übersetzt sind. So war es die Absicht, wie der Herausgeber in seiner Einleitung schreibt, für das Denken des als schwierig geltenden Autors Walter Benjamin Leseweisen und Lesehilfen zu präsentieren, die zu weiterer Lektüre und Beschäftigung anregen mögen. Reading Benjamin, so fasst der Herausgeber das Anliegen des Companions zusammen, wäre nicht lediglich ein Spezialseminar, sondern ein Grundkurs in zeitgemäßem kritischem Denken. Ist doch Benjamin in den letzten Jahren ein unumgänglicher Bezugspunkt in den Kämpfen um eine zwischen Künsten und Wissenschaften vermittelnde Kulturkritik geworden. In diesem Sinne wurde der Appell des Herausgebers von den elf Autoren vernommen, so dass sich für den Leser ihrer Beiträge ein einigermaßen kohärentes Bild von Benjamin als einem Denker erschließt, der als Grenzgänger zwischen verschiedenen Gebieten des Wissens besonders aktuell ist.

Drei Perspektiven auf Benjamin

Man kann dieses Bild (oder diese Figur) des Benjamin'schen Denkens drei aus den Beiträgen des Companions erkennbaren Perspektiven und Themen zuordnen. Erstens steht Benjamins Position als Autor und Kritiker auf dem Schauplatz der europäischen Kunst- und Wissenschaftsavantgarden zur Debatte (Michael Jennings). Die An- und Umbauten im Material und in den Hinterlassenschaften der deutschen Romantik werden in Benjamins Absetzbewegung von zeitgenössischen neokantianischen Theorien und in seiner singulären Sprach- und Übersetzungstheorie gezeigt (Rebecca Comay, Beatrice Hanssen, Jan Mieskowsk). Eine zweite Perspektive behandeln fünf Beiträge, die Benjamin als Kulturhistoriker und Geschichtstheoretiker darstellen, der die beiden zu seiner Zeit in Fehde miteinander liegenden Denksysteme der hegelianisierenden Geschichtsphilosophie und des "anschauungslosen" Materialismus in die Krise bringt. Hier können die Beobachtungen zum Konzept der dialektischen Bilder und zum anthropologischen Materialismus als synchron und komplementär zu denen Steiners gelesen werden (Howard Caygill, Andrew Benjamin, Rainer Nägele, Max Pensky, Margaret Cohen). In diesen Beiträgen spüre ich auch eine implizite Auseinandersetzung der Autoren mit Modellen und Methoden der anglo-amerikanischen Cultural Studies. Benjamins "dialectical cultural history", fundiert, wie Howard Caygill schreibt, in einem "theological anti-humanism", wäre eine weiter reichende und unsere Gegenwart eher und direkter betreffende Perspektive. Caygill erläutert das (was bisher noch nicht unternommen wurde) an einem Vergleich der kulturgeschichtlichen Konzepte Aby Warburgs und Benjamins: "Warburg and Benjamin's opposed views of art as therapeutic liberation and act of witness and mourning are carried over into their concepts of cultural history. Warburg's cultural history attempts to perform the very act of human liberation from the forces of melancholy and the cosmos that is its object. The work of knowledge and of culture consists in rediscovering and conveying to the future the consoling vision of a balance between freedom and destiny or Jove and Saturn. Knowledge and art are thus dedicated to the human transfiguration of the forces of nature. Yet, from the point of view of Benjamin, this understanding of cultural history as the affirmation of life and human freedom over death and natural destiny remains a document of barbarism, since such affirmation in history and in art does not bear witness to the price of this affirmation in natural, creaturely and human suffering."

Die dritte, in dem Band singuläre Perspektive, eröffnet Gerhard Richter mit seinem Beitrag über Benjamin als autobiografischen Autor und als Poeten und Sonetteschreiber. Neben den von Giorgio Agamben 1981 entdeckten siebzig (70!) Sonetten für Fritz Heinle analysiert R. die drei autobiografischen Texte Benjamins - Das "Moskauer Tagebuch", die "Berliner Chronik", und die "Berliner Kindheit um 1900" - als "archäologische Montagen" im Medium einer räumlichen Textstruktur. Peter Szondi nannte die "Berliner Kindheit" einmal "die schönste Prosadichtung unserer Zeit" und Benjamin selbst bezeichnete sie im Brief an Scholem als "Bilderatlas der Geheimgeschichte des Nationalsozialismus". Was Richter in seinem den Band krönenden Essay zur Sprache bringt, indem er an Marcel Proust als den geheimen intertextuellen Geist der "Berliner Kindheit" erinnert, das ist die thanatographische Dimension dieser Texte, die das Schreiben als Trauer (und Trauma) über Verluste und Abwesende inszenieren, als "a gesture of mourning an absence". Die "Einbahnstraße" und die Denk- und Städtebilder gehören zu diesem Teil eines literarischen Benjamin und seiner "belletristic production", mit der ihm geglückt sei, was Benjamin selbst als Maxime seiner Arbeit als Historiker und Kritiker verstanden hat: "Ja, in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken."

Anmerkung der Redaktion: Karlheinz Barck ist Ko-Direktor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung.

Titelbild

David S. Ferris (Hg.): Cambridge Companion to Walter Benjamin.
Cambridge University Press, Cambridge 2004.
247 Seiten, 24,79 EUR.
ISBN-10: 0521797241

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Titelbild

Uwe Steiner: Walter Benjamin.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
219 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3476103501

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