'Potenzierte' Intensität

Martin Walsers Lesung seines Romans "Angstblüte" trifft den richtigen Sound

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Anlageberater Karl von Kahn ist in Martin Walsers Roman "Angstblüte" die Galionsfigur, die den Hörer durch die wechselhaften Tiden der Geschichte führt. Literarische Klippen werden dabei elegant umschifft, in der Saragossasee der Wörter bleibt er nicht hängen, auf Flauten folgen linde Lüftchen, stürmische Wogen werden geglättet: Martin Walser und damit Karl von Kahn bleiben immer souverän.

Bei seinem steten bugwärts gerichteten Blick bemerkt Karl es manchmal zu spät, was am Heck gegen ihn ausgeheckt wird. Er weiß, dass er nicht zum Kapitän taugt und es war auch nie sein Ziel. Diesen Platz überläst er lieber seinem besten und einzigen Freund Lambert. Ausgerechnet Lambert läutet jedoch seine Demontage ein und betrügt ihn um mehrere Millionen Euro. Aus der Galions- wird in der Branche eine Witzfigur. Sein Lebenskonstrukt beginnt zusammenzubrechen. Er gerät in eine geringfügig verspätete Midlifecrisis - feierte er doch kürzlich seinen siebzigsten Geburtstag.

Gnadenlos karikiert Martin Walser die Vertriebsstrategien und Geldanlagekonzepte der Finanzbranche. Karl von Kahn und seine Klienten gehören nicht zur Marketing konformen "Generation 50 plus", sondern zur "Generation 70 - 80 - 90 plus" mit einem Faible für langfristige, renditestarke Anlagekonzepte - und er vermittelt diese. Als ehemaliger Bankangestellter verfügt er über das hierzu nötige Know-how. Seine Zugehörigkeit zur gleichen Altersklasse verleiht ihm Glaubwürdigkeit und sein feines Gespür für Gewinnchancen lässt ihn nie im Stich, wovon alle Beteiligten profitieren. Mit Lamberts Verrat bricht sein ganzes Lebenskonzept zusammen. Er wird sich seiner Vergänglichkeit bewusst und fragt sich: "Soll das alles sein?" Obwohl glücklich mit der Ehe-Therapeutin Helen verheiratet, erliegt er den Reizen der ehrgeizigen Nachwuchsschauspielerin Joni Jetter. Hofft er zunächst, dass diese seine pennälerhaft übersteigerte Liebe erwidert, wird ihm nach der ersten gemeinsamen Liebesnacht bewusst, dass Loni sich ihm nur teuer verkauft hat: zur Finanzierung ihres nächsten Films fehlen noch 2 Millionen Euro, die Karl zugesagt hat.

Die Liebesszene im Hotel gehört zu den herausragendsten Szenen des Hörbuches. Von explizitem Vokabular geprägt, ist sie soweit von Erotik entfernt wie der Nordpol vom Südpol. Karl von Kahns Traurigkeit bündelt sich hier wie nirgends sonst im Hörbuch und wird in ihrer emotionalen Dichte nicht einmal von dem Abschiedsbrief seines Bruders erreicht. Nichts als Leere, Mechanik, Trauer und Versagensängste sprechen aus dieser Episode. Dabei ist er sich unterschwellig durchaus bewusst, dass Loni mit ihm nicht Liebe vollzieht, sondern Überzeugungsarbeit leistet: Für die Finanzierung ihres Films fehlen ihr noch 2 Millionen Euro, die Karl beisteuern soll.

Furcht ist eines der beherrschenden Themen in "Angstblüte" - und ihre Kompensierung durch Ersatzbefriedigungen. Karl von Kahns Klienten verstecken sie hinter der Illusion, Zinseszinseffekte verlängerten das Leben. Karl von Kahns Angst, etwas verpasst zu haben, gipfelt in sexuellen Ausschweifungen, die seine Existenz zerstören. Sein Bruder Erewein sieht nur einen Ausweg aus seiner Angst: in dem er selber den Zeitpunkt des Ablebens bestimmt und Selbstmord begeht. Als Gegensatz präsentiert Martin Walser scharfsinnig und böse die Liebe - und hier in erster Linie zu Geld, Zinseszins und Rendite. Das archaische Lebensmotto ("Haus bauen - Baum pflanzen - Sohn zeugen") ist dem modernen Geldscheffeln gewichen; Definition des Lebensglücks über das Bankkonto.

Mit "Angstblüte" beweist Martin Walser erneut, dass seine Fabulierkunst ungebrochen, seine ironische Sicht auf soziologische Entwicklungen ungetrübt und seine anrührenden Momente weder seine Figuren der Lächerlichkeit preisgeben noch kitschig oder stereotyp wirken. Sein Mut, auch vor expliziten Sex-Beschreibungen nicht zurückzuschrecken, verstärken und festigen seinen Ruf eines Autors von internationalem Rang. Dass diese radikalen Ausdrucksformen kein Deutsches Phänomen, ja zeitgemäß und angebracht sind, zeigen auch andere Autoren von internationaler Bedeutung. Erinnert sei hier nur an John Updikes "Landleben" oder Philip Roth' "Das sterbende Tier".

Häufig ist der Tonfall des Geschriebenen wichtiger, als das Gesagte schlechthin. Herausragende Sprecher von Hörbüchern erkennen diesen Sound intuitiv und lassen den Rhythmus, die Satzmelodie in ihren Vortrag einfließen. So erschaffen sie ein Gesamtkunstwerk, das weit über die Eigenlektüre des Buchs hinausgeht. Aus verschiedensten Gründen zeitigen auch Autorenlesungen, bei denen es sich der Schriftsteller nicht nehmen lässt, sein Werk selber vorzutragen, nicht selten katastrophale Folgen für das Ergebnis: nicht jeder brillante Schriftsteller ist auch ein begnadeter Vorleser.

Glücklicherweise potenziert Martin Walsers Lesung die Intensität seines Romans jedoch um ein Vielfaches. Die vom Leser angestellten Vermutungen über die Bedeutung einzelner Episoden, Sätze oder Wörter fegt Walser einfach mit einer simplen Änderung der Modulation, einer Beschleunigung bzw. Verlangsamung der Sprechgeschwindigkeit sowie Ergänzen respektive Weglassen vermeintlich als sicher angenommener Untertöne hinweg. Geriet der Roman stellenweise etwas unübersichtlich durch die Kombination von Traumsequenzen, Rückblenden und verschwenderischer Detailvielfalt, so ist Martin Walsers Stimme der Ariadnefaden, der den Hörer sicher durch den Roman navigiert.

Die Antworten auf die elementaren Fragen, die Walser in seinem Roman aufwirft, fallen dem Hörer nicht einfach in den Schoss. Man hält die Antwort darauf für einfach, die Einordnung in den Kontext vergnüglich. Ein Walser-Roman war und ist immer auch eine intellektuelle Herausforderung. Wer diese nicht bereit ist, anzunehmen, beraubt sich selbst eines der angenehmsten Hörvergnügen des diesjährigen Herbstes. Martin Walser: Angstblüte. 6 CDs. Ungekürzte Lesung.


Titelbild

Martin Walser: Angstblüte. 6 CDs. Ungekürzte Lesung.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
468 Seiten, 28,95 EUR.
ISBN-10: 3455300928

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