Best of Grass

Ein kleiner Streifzug durch Günters Tierleben

Von Stefan WirnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Wirner

Es ist ein Irrtum sondergleichen, wenn manche der unflätigen Kritiker von Günter Grass derzeit die These verbreiten, sein literarisches Werk müsse einer Revision unterzogen werden. Seine schriftstellererische Leistung kann durch das vielleicht etwas späte Bekenntnis, dass er als junger Mann zur Waffen-SS befehligt worden war, selbstverständlich nicht gemindert werden. Die Pluralität der Formspiele in seinem Werk, die grüblerische Originalität, das Mythische und Archetypische, das Grotesk-Absurde und das tierhaft Tiernahe, die fantasievollen Reisen durch die Fabelwelt werden Grass für alle Zeit einen Platz neben den Großen der deutschen Dichtung, also neben Goethe, den Manns, aber auch neben Dichtern wie Josef Weinheber und Hans Carossa sichern.

Dabei ist nicht nur an seine berühmten Tier-Werke zu denken, wie etwa "Katz und Maus", "Der Butt", "Die Rättin", "Unkenrufe", "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" und "Im Krebsgang". Nein, auch die weniger bekannten Bücher verschaffen Grass einen würdigen Sitz im Olymp der deutschen Dichtung und lohnen der Lektüre. Etwa die große Erzählung "Unterm Maulwurfshügel". Darin geht es um eine deutsche Familie, Vater Heinz, Mutter Erna, Sohn Fridolin und Tochter Maike, die sich am Ende des Krieges auf der Flucht vor den russischen Truppen befinden. In höchster Gefahr, als sie die mongolischen Kämpfer direkt hinter sich wähnen und "Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh" singen, um die Angst vertreiben, finden sie Unterschlupf in einem Maulwurfshügel. Hier lernen die beiden Kinder den Kartoffelkäfer Karl kennen, und eine bizarre Reise durch das Seelenleben der Generation der Kriegskinder beginnt. Unvergessen der Ausspruch des Kartoffelkäfers, der bereits anzeigt, wie sehr sich Grass für die Aussöhnung zwischen Ost und West, zwischen Oben und Unten einsetzen wird: "Das Schlimme ist nicht nur, dass die Russen euch euer Spielzeug wegnehmen. Das Schlimme ist auch, dass mit den Amerikanern die Heuschrecken übers Land kommen."

Vom Kartoffelkäfer Karl ermutigt, zieht die Familie schließlich weiter gen Westen, und mit den letzten versprengten Truppen der Wehrmacht gelangen die Flüchtenden gerade noch rechtzeitig heim ins Reich. Die Mutter trifft ihre verloren geglaubte Schwester wieder, die lange Zeit für die Nationalsozialisten im "Bund Deutscher Mädel" hatte Dienst tun müssen - gegen ihren Willen. "Seht ihr, Kinder", sagt der Kartoffelkäfer Karl am Ende, "oft weiß man nicht, wohin die Wege führen. Aber im Vaterland geht niemand verloren." Hier kommt die Poetik des Günter Grass zu ihrer vollen Entfaltung. Der Kartoffelkäfer Karl wird schließlich in die Freiheit entlassen, sein Abflug ist gleichsam eine Metapher für den Aufbruch der Deutschen in die Nachkriegszeit. Ein Stück Utopie in finsterer Zeit. Ein Stück Versöhnung.

Erwähnt werden muss selbstverständlich auch Grassens fast als experimentell zu bezeichnender Gesprächsroman "Bussard und Fink", fiktive Unterhaltungen von Thomas Mann und Arno Breker, ein Parforceritt durch die deutsche Kunsttheorie, ein Meilenstein der Nachkriegsdichtung. Und wer erinnert sich nicht an "Vermächtnis eines Bibers", in dem Grass den Franz Biberkopf von Alfred Döblin - dieser bekanntermaßen eines der großen Vorbilder von Grass - wieder auferstehen und durch das moderne Darmstadt streifen lässt: auf der Suche nach Arbeit und einem Heim. Hervorragend ausgearbeitet und zum feinsten Realismus geformt ist hier der hessische Dialekt, den Grass in einem Kunstgriff den Biberkopf sprechen lässt, wohl in Anklang an den großen Dichterkollegen Büchner. In größter Verzweiflung, ohne Aussicht auf eine Anstellung, sagt Biberkopf einmal: "Mit der SPD wär' des nett bassiert."

All diese tiefen Werke werden durch einige winzige Details in der Biografie eines Nobelpreisträgers nicht entwertet. Gerade durch seine zähe Streitbarkeit gewinnen sie noch an Farbe und Bedeutung für uns alle, die wir uns damals nicht in der schwierigen Lage befanden, uns entscheiden zu müssen: "Zwischen Gutem und weniger Gutem, zwischen Leichtem und weniger Leichtem", wie es der Kartoffelkäfer Karl in "Unterm Maulwurfshügel" treffend fasst.

So bleibt uns am Ende nur eins: uns zu freuen auf den zweiten Teil der Autobiografie von Günter Grass. Wie der Verlag bereits angekündigt hat, soll dieser nun schneller als gedacht geschrieben werden und schon im Frühjahr erscheinen, und zwar unter dem Titel: "Beim Rupfen eines Gänseblümchens - Sag' ich's oder sag' ich's nicht."