Strom der Erzählung, liquidierte Magie

Über Dominik Finkeldes Dissertation "Benjamin liest Proust. Mimesislehre - Sprachtheorie - Poetologie"

Von Justus FetscherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Justus Fetscher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die schwierigsten Themen sind in der Literaturwissenschaft die zugleich undankbarsten und dankbarsten. Gerade weil sie sich nicht erschöpfen lassen, provozieren sie immer wieder auf neue Weise augenöffnende Deutungen. Wer sie durchführt, wird belohnt, indem ihre Komplexität theoretisch und heuristisch auf seine Deutungsfähigkeit zurückwirkt. Unerreichbare Texte und Konzepte (etwa: Diderots, Goethes, der Frühromantiker) begünstigen intelligente Befassungen. Nicht immer, aber doch oft.

Eines dieser Themen ist die Dimension, die Prousts Schreiben für das Werk Walter Benjamins hatte. Man könnte sagen: Hier traf die subtilste Autofiktion des 20. Jahrhunderts auf einen herausragenden divinatorischen Physiognomiker der geschichtlich-kulturellen Zeichenwelt. Es geht aber auch ohne Superlative. Zu Benjamin und Proust gab es schon mindestens drei ertragreiche Bücher: die Dissertation von Barbara Kleiner (1980), eine im Kontext der deutschsprachigen Germanistik frühe Aufnahme Derrida'scher Sprachphilosophie, das geradezu spannende, mikrologisch und kontextuell-vernetzend lesende Buch des französischen Komparatisten Robert Kahn (1998) und eine an etwas verborgener Stelle erschienene Schrift von Ursula Link-Heer (1997), einer der wichtigsten Stimmen (nicht nur) in der deutschen Proust-Forschung - ihr ist auch der Artikel über Benjamins "Zum Bilde Proust" im gerade erschienenen "Benjamin-Handbuch" zu verdanken. Schließlich die Arbeit von Dominik Finkelde: "Benjamin liest Proust. Mimesislehre - Sprachtheorie - Poetologie". Sie ist ebenso dicht wie klug.

Eingereicht als Dissertation an der vom Jesuiten-Orden betriebenen Philosophischen Hochschule in München, geschrieben von einem jungen Autor, der auch mit Essays und Theaterstücken sowie zuletzt mit einem Aufsatz über die Attitüde des Sammelns nicht nur bei Benjamin an die Öffentlichkeit getreten ist, hält diese Arbeit, was schon ihre äußeren Daten versprechen. Zurückhaltend formuliert, aber weitreichend ist ihr Programm: "sich an die Modifikationen heranzutasten, die Benjamins philosophisches Werk aufgrund seiner Proust-Lektüre im Bereich der Mimesis, Erfahrungs- und Sprachtheorie erfahren hat". Hierbei erwiesen sich sowohl Prousts Poetologie wie Benjamins ihr verwandte Lehre vom Mimetisch-Ähnlichen als Theorien eines Vermögens, dasjenige, was nachahmen, als Erinnertes zurückzuholen ist, in Gestalt seiner nachträglichen zeichenhaften (überzeichnenden) sprachlichen Entstellung hervorzubringen. An der Instabilität der Sprache sollten beide Autoren die Instabilität der Moderne sowohl erleiden wie darstellen.

Damit deutet sich der zeitdiagnostische Aspekt dieser Arbeit an. Prousts Romanwelt, bald als snobistische verschrien, erscheine in der Darstellung durch die "Recherche" "als Enttarnung einer selbstzerstörerisch gewordenen mimetischen Kultur". Dominik Finkelde liest das Werk im Lichte der geschichtsphilosophischen Formanalysen, die Lukács' "Theorie des Romans" und Benjamins Essay über den Erzähler entwickelt haben. Bis ins "Passagen-Werk" hinein reichen die Reflexionen, welche das Schneckenhaushafte der Proust'schen Intérieurs mit dem von Benjamin entdeckten Wohnrausch des bürgerlichen 19. Jahrhunderts vermitteln. Zum Glück werden die Vorstellungswelten dieser beiden jedoch nicht schlichtweg in eins gesetzt. So habe sich Benjamin das Konzept der mémoire involontaire (unwillkürlichen Erinnerung) nur insofern zueigen gemacht, als er es sich im Sinne der Freudschen Aufgabelung von reizschützendem Bewusstsein einerseits und einer psycho-somatischen Gedächtnisspur andererseits zurechtlegen konnte.

Heimat aller Erinnerung und Repräsentation mag die Kindheit sein. Für beide Autoren "ist das Kind der Mensch, der sich", wie Benjamin schrieb, "vom 'Sinn' nicht zensieren" lässt. Wie der historische Materialist Benjamin'scher Observanz, der bekanntlich als Lumpensammler agiert, erfasst es die Dinge und Geschehnisse nicht nach einer materiellen Wertigkeitshierarchie, sondern im Modus intensiver Korrespondenzen. Sein unreglementiertes mimetisches Vermögen erkennt an den Namen ihre Darstellungsqualität, bringt die "implizite Sprachlichkeit der Dinge" zur Sprache, seiner und ihrer, und "liest sich (bei Proust und Benjamin) in den Text" ein - nämlich in den der "Recherche" und in den der "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert". "Der Leser bekommt den Eindruck, als wäre Proust für die Rückbesinnung Benjamins auf die eigenen Erinnerungen wichtiger als das gelebte Leben des Autors Benjamin selbst und würde seine Texte präformieren." Zu betonen ist hier auch der Irrealis. Denn ohne die Einschnitte seiner Biografie zwischen 1925 (Zurückweisung der Habilitationsschrift) und 1933 (Exilierung) ist Benjamins autobiografische Retrospektion nicht vorstellbar.

Die anschließenden Kapitel III-V führen Prousts und Benjamins poetologische Positionen eng. Etwa ihre Fokussierung auf den Stil als Signatur eines Weltverhältnisses, als Bedeutendes und Bedeutetes oder, in Benjamins vielzitiertem Bild des eingerollten Strumpfs, Hülle und Verhülltes der sprachlichen Darstellung zugleich und das osmotisch-übergängige Verhältnis, das für beide, bei beiden zwischen Sprache und Übersetzung gegeben war. Dann auch ihre Präferenz für die Darstellungsmodi der Arabeske, der metamorphotischen Metapher, des Palimpsests und der Allegorie. Weiter aufgefächert erscheint dabei der Benjamin'sche Mimesisbegriff, der genetisch (auch) in der Mimikry der pflanzlich-tierischen Natur wurzele, theoriegeschichtlich in Michel Foucaults "Les mots et les choses" als Geschichte vom Erlöschung analogischer Taxinomien nacherzählt worden sei. Überhaupt rückt hier das philosophisch-philosophiehistorische Interesse der Arbeit in den Vordergrund. Sie offeriert Beiträge zu dem, was man in Variation eines einschüchternden Worts von Anselm Haverkamp die Metakinetik theoretischer Horizonte nennen könnte. Filiationen führen von Husserls Phänomenologie und Heideggers Fundamentalontologie zu Benjamins Theorie der Mimesis, von dieser selbst zu der Derridas, von dessen Figur der Fältelung (des pli) zurück zur Benjamin'schen des in sich eingeschlagenen Strumpfs, von Merleau-Pontys Philosophie des Sehen-Denkens zu Benjamins Blick auf die Proust'sche Bildwelt.

Zum Glück erfolgen diese Verbindungen nie schnurstracks. Vielmehr sind sie Digressionen, gedankliche Umschreibungen auf der Suche nach dem richtigen Blick auf die Dinge. Ähnlich wie Robert Kahn, aber durchaus eigenständig hebt Dominik Finkelde hervor, dass Benjamins Literaturtheorie avancierte Einsichten der neueren Proust-Deutung präfiguriert. Benjamin habe das "Moment der Dissemination, der Zerstreuung in der Poetologie der 'Recherche' lange vor der modernen Proust-Rezeption (de Man, Genette, Warning) erkannt und als Quelle seiner Sprach- und Mimesistheorie benutzt". Diese erscheint als Derridistisch avant la lettre. Die von Prousts Erzähler vorgeführte "Nachahmung, (...) Nacherzählung des gelebten Lebens, die Suche nach der Geschichte des eigenen Ich erweist sich als ein Akt der Repräsentation, in dessen Vollzug es zwangsläufig zu einer permanenten, nicht mehr Einhalt gebietenden Modellierung des Gegenstandes kommt." Plastisch heißt es an späterer Stelle, Marcels schriftliche Erinnerungen erzeuge diesen Gegenstand (seine Vergangenheit) allererst "in einem endlosen Veränderungszusammenhang von Iteraturen".

In nuce und vielleicht am klarsten zeichnet diese mise-en-abîme ein Unterabschnitt nach, der darlegt, dass Prousts Metaphernbildung keine einsinnig ausgerichteten Prozesse (der Übertragung eines Bildspenders auf einen Bildempfänger) darstellt, sondern eine osmotische Vermittlung zweier Bereiche. Geometrisch-choreographisch erscheint diese Vermittlung als sowohl vertikale wie horizontale. Als horizontale partizipiert sie an der nicht aufzuhaltenden Dynamik eines Textes, der ob der Vergeblichkeit seines Vorsatzes (Wiederholen der unwiederholbaren, in der Wiederholung konstituierten Vergangenheit) nicht abbricht, sondern immer neu ansetzt, immer weitermacht. Als vertikale entspricht sie nicht nur der üblichen Definition, wonach die Metapher etwas an der Textoberfläche für etwas darunter Verdecktes einsetze, sondern vor allem auch dem Bild von den transparenten Schichten der Überlieferung, mit dem Benjamin die Erzählung als Nacherzählung beschreibt.

Beide Leserichtungen des Proust'schen Metaphorisierens sind auch darin Benjaminisch zu verstehen, als in der horizontalen sein Allegorisches im Sinne des "Trauerspiel"-Buchs, in der vertikalen "Überblendung" sein Filmisches zu erkennen wäre. Proust selbst beschrieb das Ich quasi-filmisch: "Notre moi est fait de la superposition de nos états successifs". Und Benjamin hat 1932 in seiner kleinen Rede auf Proust betont, das Bild, das die unwillkürliche Erinnerung freigibt, sei das niegesehene eines Niegewesenen, vielmehr ein Traumbild, intensiviert und hochbeschleunigt nach Art der Vorstellungen, die das Daumen- (und in seiner technischen Weiterentwicklung das richtige) Kino vermittle. Daher scheint gerade hiermit die Korrektur, die Benjamin am Konzept der mémoire involontaire vornimmt, durch Prousts eigene Praxis gerechtfertigt. Wenn erzählerische Erinnerung allemal auch Herstellung, mithin auch Zurichtung, Verstellung, Auslöschung - eben des in der Erinnerung Vergessenen - ist, dann bleibt das unverändert in der Zeittiefe liegende Frühe, das zufällig-unwillkürlich heraufbrechen könnte, Illusion.

Das Schlusskapitel verfolgt die Interferenzen der beiden Schriftdenker noch einmal - nachdem im IV. die Proust'sche Perspektive dominiert hatte - von Benjamin aus. Es stellt seinen Allegorie-Begriff vor und wendet ihn zurück auf Proust, von dessen Darlegung über die Caritas des Giotto der Autor des Moskauer Tagebuch schrieb, "daß Proust an ihr [nämlich der Caritas-Figuration] eine Auffassung entwickelt, die sich mit allem dem deckt, was unter dem Begriff der Allegorie ich selbst zu fassen suchte". Diese Auffassung rekapituliert Dominik Finkelde an der Blickpraxis des "Recherche"-Erzählers. Die Teilnehmer am Gesellschaftstheater der Pariser Haute Volée erstarren unter den Augen (und unter der schreibenden Hand) Marcels zu Figuranten eines aus allen Lebenszusammenhängen herausgebrochenen toten Tableau: "zu menschlichen Ruinen, (...) Ausstellungsgegenständen".

Die Arbeit unternimmt hier etwas, was sie in den vorherigen beiden Kapiteln ausdrücklich nur versucht hat bei der Entwicklung einer Proustschen Erhabenheit, nämlich: ihre dekonstruktiv-semiologische Perspektive mit ihrer zeitdiagnostisch-geschichtsphilosophischen zusammen zu denken. Sie liest die Proust'sche Allegorie mit ihrer Ausrichtung auf das Verworfene-Zerstörerische, Benjaminisch, als Hohlform der Rettung. Die "Neigung der Recherche zur Apotheose" habe ihren Quellpunkt in der Selbstdarstellung von Marcels schriftstellerischer Berufung: "Eschatologisches Moment ist nicht die Ankunft des Messias, noch Jüngstes Gericht, sondern Eröffnung und Erweiterung des Schriftraums auf dem Feld der Kunst, die Zelebrierung einer unendlichen Suche nach Sinn". Die verlorene Heilsgewissheit der barocken Allegorie verwandele sich bei Proust zur erlitten-erstrebten Unerfüllbarkeit des erzählerischen Begehrens. Nur als auf ein unerreichbares, jedenfalls unerreichtes Objekt gerichtete scheint Marcels Liebe literarisch-episch verwendbar. "Und so wäre zu vermuten, dass er Albertine nie geliebt hat oder lieben kann aus einer mit seiner Identität als Autor verbundenen Freude an der Eifersucht und der daraus sich so produktiv erweisenden Suche nach dem letzten Referenten".

Zu den Vorzügen dieser Arbeit gehört zuletzt auch, dass die unabschließbare Suche nach dem letzten Referenten hier nicht das letzte Wort hat. Zum Schluss fragt sie, "ob die Autoren [Proust und Benjamin] nicht die Bedingungen der Möglichkeit, so zu denken, wie es ihre Werke [...] nahelegen, untergraben, wenn die Medialität der Sprache als freischwebende Signifikantenbewegung angeblich jeder Wahrheit immer schon vorausgeht. "Hier müsste - muss - man weiterfragen, und zwar am besten von einem trans-dekonstruktiven Punkt aus. Etwa, indem man dieses 'immer schon' einerseits gegen die Ewigkeitsansprüche religiöser Doktrinen hält, andererseits mit den zeitbeschränkten Einsichten der historischen Forschung abgleicht.

Einwände? Eher formale. Und Fragen, die kühne Wünsche sein mögen und daher offen bleiben müssen. Das Buch hätte mehr Aufmerksamkeit von Seiten eines Lektors oder Korrektors verdient gehabt. Es mag am vergleichsweise engen Fokus legen, dass sein zweites Kapitel (über die Kindheit als besonderen Ort der Erfahrung und das mimetische Vermögen des Kindes) sein, konventionell gesehen, rundestes, geschlossenstes, geglücktestes ist. Irritierend ist die Zahl der Druckfehler, nicht ohne Alternative der Haupttitel des Buches. "Benjamin liest Proust" - so hieß schon der sechs Jahre zuvor erschienene Essay von Ursula Link-Heer.

Wichtiger sind jedoch zwei fundamentale Aspekte der Benjamin-Interpretation, die hier mit im Spiel sind. Vorsichtig deutet Dominik Finkelde an, dass sich bei der Berührung mit Prousts "Recherche" die Benjaminsche Sprachphilosophie gewandelt habe - eben von einer mystisch zu einer semiologisch orientierten. Wiederholt zitiert er dafür eine Wendung aus der "Lehre vom Ähnlichen", wonach die Sprache ein Medium sei, "in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die Magie zu liquidieren". Doch das ließe sich auch anders verstehen, nämlich - gewagt - dialektischer. Dann hätte das Liquidieren, von dem Benjamin hier spricht, die dreifache Bedeutung der Hegel'schen Aufhebung: Zerstörung, Transposition, Hinüberrettung. Im Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeiten, die als und in der Sprache auf die moderne Menschheit gekommen sind, wären die magischen Potenziale der Sprache demnach ebenso vernichtet wie transformiert wie geborgen, nämlich als gleichermaßen aufgelöste wie fortwirkende. Der Entsinnlichungsprozess der von der gebietenden Magie über die spielerische Mimesis zur arbiträren Terminologisierung zu führen scheint, ließe sich dann verfolgen als einer, der die Gewalt des Sinnlichen ebenso restlos depotenziert wie restlos tradiert. Der Dissens zwischen einer Benjamin-Auffassung, die auf einem Frühwerk/Spätwerk-Bruch im Denken dieses Autors besteht, und einer, die seinen Schriften Kontinuität als eine Art Dauer im Wechsel unterstellt, ist nicht zu schlichten. Ein Anderes sieht, wer jene, ein Anderes, wer diese Prämisse verficht. Dominik Finkelde steht insgesamt dieser zweiten, zuletzt mit starken Argumenten von Uwe Steiner behaupteten, Position nähe. Er hält es mit Benjamins Definition, wonach die Übersetzung zwischen zwei Sprachen (Texten) "Kontinua der Verwandlung" durchmesse - eine Formel, die mindestens auch auf dem ersten Begriff betont werden darf.

Keine Hilfe, aber doch ein Glück ist indessen, dass Benjamins Begriffe bekanntlich im Fluss, sozusagen ihrerseits liquidierte magische Vokabeln sind. Was nahe legt, dass man mit der vielberufenen Untrennbarkeit von Objekt- und Metasprache auch bei dem Kritiker und Übersetzer Benjamin spielerisch Ernst machen sollte. Wenn Benjamin Proust für die "Literarische Welt" portraitiert, seinen Roman ins Deutsche überträgt, dann lädt sich seine - die Benjaminsche - Sprache mit dem Idiom der Proustischen auf und vermittelt von hier aus eine - eben die Benjaminsche - Auffassung der Proust'schen Poetologie. Die rhetorisch-lexikalisch-syntaktischen Mittel des Schriftstellers Benjamin jedoch scheinen noch nicht erschlossen. Ihre Implikationen und Effekte wird nur verstehen, wer beherzigt, dass "Benjamin und Proust [...] von einer Ordnung auf der Rückseite der Sprache [ausgehen]". Dominik Finkelde ist ihnen darin gefolgt, und er ist damit sehr weit gekommen.

Anmerkung der Redaktion: Justus Fetscher ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Dominik Finkelde: Benjamin liest Proust. Mimesislehre - Sprachtheorie - Poetologie.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
196 Seiten, 31,90 EUR.
ISBN-10: 377053932X

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