Tod im chinesischen Supermarkt

In „Richtig hohe Absätze“ vermittelt Federico Jeanmaire Einblicke in das Milieu chinesischer Gastarbeiter in Argentinien

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

China dehnt seinen Einfluss seit der Jahrtausendwende unaufhaltsam in Lateinamerika aus. Riesige Trassen, erbaut von chinesischen Firmen, durchziehen den Kontinent – Teilstücke der geplanten „lateinamerikanischen Seidenstraße“. Häfen und Flughäfen werden ausgebaut, neue Eisenbahnlinien und gewaltige Infrastrukturprojekte schießen wie Pilze aus dem Boden. China gewährt großzügig Kredite, wurde zu einem der größten Gläubiger vieler Länder. Argentinien zählt zu seinen begehrten Handelspartnern, denn es liefert u.a. Soja, das im Nordosten, vor allem in der Provinz Jujuy, in riesigen Monoplantagen angebaut wird. Dieses „grüne Gift“ sorgt aber auch für soziale Unruhen und ist offensichtlich verantwortlich für zunehmende Missbildungen und verstörende Krankheiten, eine Folge des massiven Einsatzes der Pflanzengifte. Der argentinische Filmemacher Fernando E. Solanas drehte 2017 einen erschütternden Dokumentarfilm über diese Umweltverbrechen: „Viaje a los pueblos fumigados“ (Reise in die verseuchten Dörfer).

Mit den chinesischen Firmen kommen viele Arbeiter, die im Allgemeinen nach ein paar Jahren das Land wieder verlassen. Andere hingegen emigrieren, und dies geschieht schon seit etwa 100 Jahren. Sie kamen in drei großen Wellen, nämlich zwischen den beiden Weltkriegen, danach in den achtziger Jahren (vorwiegend aus Taiwan) und schließlich seit den 90er Jahren aus den ärmeren Provinzen wie Fujian. Schätzungen zufolge leben heute ca. 120.000 bis 150.000 Chinesen in Argentinien, die Mehrzahl im Großraum Buenos Aires, wo sie kleine Läden und Lokale betreiben.

Davon erzählt der Roman des 1957 geborenen Autors Federico Jeanmaire, Richtig hohe Absätze. Die fünfzehnjährige Protagonistin Su Nuam, die in Buenos Aires aufwuchs und sich als Argentinierin fühlte, musste mit ihrer Mutter zurück nach China, nachdem der Vater in seinem Lebensmittelladen „La Plaza“ von einer jugendlichen Gang überfallen und umgebracht wurde. Nun lebt sie mit den Großeltern in einem Land, das ihr völlig fremd ist. Um ihr Spanisch nicht zu verlernen, schreibt sie ihre Gedanken und Sorgen, Wünsche und Erinnerungen in ein Spanischheft, aber sie hat Probleme mit der Grammatik: „Mit der Vergangenheit tue ich mich schwer. Und mit der Zukunft auch. Aber ich bin Chinesin, ich weiß mir immer zu helfen“. Sie hat als Heranwachsende noch andere Probleme, möchte herausfinden, wer sie ist. Bislang weiß sie nicht, „ob ich schon eine Frau bin, oder ob das noch ein Weilchen dauert, wie mein Großvater erklärt“.

Ihr Leben ändert sich plötzlich, als sie eine Stellenanzeige findet: Eine Firma sucht eine junge Frau, die gut Spanisch spricht, um eine Handelsdelegation nach Buenos Aires zu begleiten. Sie hat Glück, wird genommen, erhält neue Garderobe und Schuhe mit hohen Absätzen, damit sie älter wirkt. Mit dem Großvater tritt sie die große Reise an, denn er möchte seinem Sohn die letzten Ehren auf dem Friedhof nach chinesischer Tradition erweisen, damit der Verstorbene seine Ruhe findet. Sie hingegen sehnt sich zurück nach ihrer Kindheit, nach alten Freundinnen. Aber auch der schlimme Moment, als der Laden des Vaters in Brand gesetzt wurde, kommt machtvoll in die Erinnerung zurück. Die Täter wurden nie gefunden, aber es gab Vermutungen. Muss Su Nuam versuchen, Klarheit über das Verbrechen zu gewinnen? Das beschäftigt sie in ihren wenigen Tagen in Buenos Aires immer obsessiver, hat nicht auch sie eine Verpflichtung gegenüber ihrem toten Vater?

Der Roman von Jeanmaire entwickelt sich nun auf wenigen Seiten zu einem Thriller. Während der Großvater das Grab des Sohnes aufsucht und sein Ritual durchführen kann, erfährt Su Nuam beim Besuch einer Freundin neue Einzelheiten über den Tod ihres Vaters und seine Mörder. Und sie beschließt zu handeln…

Nach dem gelungenen Ende der Verhandlungen reist sie mit der Delegation zurück. In nur einer Woche ist sie erwachsen geworden, hat ihre Aufgabe als Übersetzerin ausgezeichnet erledigt und traf darüber hinaus eine wichtige Entscheidung. „Die Ordnung der Welt ist wiederhergestellt (…). In mir herrscht Frieden. Ich bin, wer ich bin“.

Damit endet dieser schmale Roman, der viele Einblicke in das Leben und Denken der chinesischen Protagonistin in Buenos Aires und Suzhou ermöglicht. Der Autor hat sich hineinversetzt in Su Nuam, zeigt ihr Hin und Her zwischen den beiden so unterschiedlichen Kulturen, denen sie sich zugehörig fühlt. Sie hätte sich gerne in Argentinien integriert und es vermutlich auch geschafft, aber die Umstände verhinderten das. Alle Vorurteile gegenüber diesen so fremden Menschen brachen in den Jahren nach der großen Wirtschaftskrise von 2001 machtvoll auf, viele Geschäfte von Chinesen wurden damals geplündert, die Besitzer waren bloß unerwünschte Eindringlinge.

Der argentinische Autor Ariel Magnus hat sich schon 2010 in seinem Roman Ein Chinese auf dem Fahrrad mit diesem schwierigen kulturellen Zusammenleben, mit Klischees und Vorurteilen beschäftigt. Inzwischen ist ein kleines Chinatown mit dem traditionellen Eingangstor in Buenos Aires entstanden, ein beliebtes Restaurant-Viertel für das Wochenende. Neue Immigranten kommen. Wie Argentinier und Chinesen in den nächsten Jahren miteinander oder nebeneinander leben werden, bleibt die offene Frage.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Federico Jeanmaire: Richtig hohe Absätze.
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2018.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005303

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