Lesen hilft

Über Helmuth Kiesels materialreiche Neuausgabe von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Neuausgabe von Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen bietet neben dem Text der Erzählung die wesentlichen zeitgenössischen Rezensionen aus dem In- und Ausland, eine Auswahl wichtiger Äußerungen deutscher Intellektueller aus der Nachkriegszeit, Äußerungen von Jünger selbst sowie ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Helmuth Kiesel zu „Voraussetzungen, Entstehung, Rezeption und Deutung“ jenes ersten von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen belletristischen Werkes aus der Feder des Autors der Stahlgewitter und des Arbeiters. Variantenverzeichnis und Erläuterungen sind zwei weitere Bestandteile des Bandes, die die intensive kritische Auseinandersetzung des Lesers mit den Marmorklippen unterstützen können.

Die ausländischen Rezensionen sowie die hier ebenfalls wiedergegebenen brieflichen oder anderweitig privaten Äußerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs von Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Andersch, Carl Schmitt und Jean Cocteau sowie aus dem Umfeld der Weißen Rose belegen, dass die Marmorklippen im Wesentlichen als ein Buch des Widerstands wahrgenommen wurden. Kiesel zeichnet überzeugend nach, warum die Schlüsselfiguren des literarischen Feldes das freilich nicht zugeben durften: Die nationalsozialistischen Machthaber konnten symbolisch überformte Passagen nicht auf sich beziehen, ohne ihre Schuld an Gewalttaten einzugestehen; der Autor Ernst Jünger hätte sich in noch größere Gefahr gebracht als ohnehin schon, wenn er seine Kritik noch expliziter gemacht hätte. Für die Rezensenten in Deutschland erscheinender Blätter gilt dasselbe, sowohl in Bezug auf Jünger als auch auf sie selbst. Daher gehört zur von Kiesel diagnostizierten „verdeckten Schreibweise“, dass sie „auf ihrer unverfänglichen Eindeutigkeit und Harmlosigkeit besteht“.

Kiesel hebt mit besonderem Scharfblick hervor, dass Rezensenten und andere Kommentatoren stets sowohl die allegorischen Dimensionen der Erzählung als auch deren Relevanz für die Gegenwart betonten, ohne jedoch diesen Gegenwartsbezug je auch nur ansatzweise zu erläutern. Diese Ambivalenz stellt auch für die heutige Literaturwissenschaft eine Herausforderung dar, die, ungeachtet wichtiger Arbeiten, nicht zuletzt von Kiesel selbst, einer konzeptionell mutigen Lösung harrt. Analysen, die sich damit zufrieden geben zu betonen, die Erzählung sei „einerseits dies und zugleich andererseits das“, werden einer fundamentalen Eigenschaft des Textes nicht gerecht, nämlich seinem Werkcharakter.

Überzeugend zeichnet Kiesel nach, dass die Marmorklippen zu jener über 60 Jahre umspannenden Werkphase gehören, in der Jünger sich intensiv mit dem menschlichen Leiden beschäftigte, und mit Überlegungen dazu, wie sich der Einzelne gegenüber Ideologie und Gewaltherrschaft einen Freiraum erobern kann. Von durchaus akuter Relevanz ist Kiesels Beobachtung, dass „ein ethischer Neueinsatz, eine politische Neuordnung und eine kulturelle Neubegründung Europas oder auch nur Deutschlands mehr verlangt als nur die Beseitigung Hitlers und des NS-Regimes.“ Jünger wird diese Haltung und diese Praxis – beides! – in seinem Essay Der Waldgang 1951 schließlich „Dichtertum“ nennen. Kiesel zufolge rückt sich Jünger, wie auch mehrere zeitgenössische Rezensenten vermuteten, damit in die Nähe Stefan Georges, den Jünger freilich nur selten und dann äußerst abschätzig erwähnte.

Kiesel setzt sich besonders mit drei namhaften Kritikern Jüngers auseinander: Gerhart Hauptmann, Alfred Döblin und Thomas Mann. Durchaus süffisant kommentiert er Manns Vorwürfe mit dem Hinweis, „die Lektüre“ von Jüngers Werken hätte ihn „zu einem differenzierteren Urteil führen können“.

Die vorliegende Ausgabe reiht sich zwar nicht in die Reihe der kritischen Ausgaben Jüngers ein, die Helmuth Kiesel in den letzten Jahren mit einer bewundernswerten Kombination aus editorischer Virtuosität, Sorgfalt und Tatkraft vorlegte, geht aber durch die zahlreichen Materialien und das analytische Nachwort über die reinen Textausgaben hinaus, die der Verlag Klett-Cotta ebenfalls im Lauf der letzten Jahre publizierte. Es ist freilich kein fauler Kompromiss, sondern, im Gegenteil, eine gelungene Kombination der Eigenschaften von Text- und Studienausgaben.

Titelbild

Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. Roman.
Mit Materialien zu Entstehung, Hintergründen und Debatte. Herausgegeben von Helmuth Kiesel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
369 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783608961782

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch