Finster ist die Hoffnung

In Ismail Kadares Roman „Die Verbannte“ schwankt ein Schriftsteller zwischen Opportunismus und Widerstand gegen eine Diktatur

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die albanische „Diktatur des Proletariats“ hat sich ganz spezielle Grausamkeiten ausgedacht, um seine vermuteten Gegner zu quälen und die eigene Angst vor Kontrollverlust zu bannen. In Ungnade gefallene Parteigänger oder Angehörige alter Eliten wurden in Sippenhaft genommen und mitsamt ihrer Familien ins Landesinnere verbannt. Eine solche Internierung war zeitlich nicht begrenzt, sodass diesen Menschen keinerlei Aussicht auf Freiheit blieb. Ohne eigene Schuld davon betroffen ist auch die Titelheldin im Roman Die Verbannte, den Ismail Kadare 2008 bis 2009 schrieb.

Linda B., eine begabte, hübsche junge Frau, begeht Selbstmord. Unter ihren Hinterlassenschaften findet sich ein Buch, das die Widmung des Schriftstellers Rudian Stefa trägt: „Linda B. zur Erinnerung“. Es versteht sich, dass sich der Geheimdienst der Sache annimmt und den Autor vorlädt. Dabei stellt sich schnell heraus, dass Linda B. das Buch über ihre Freundin Migena erhalten hat. Kontakte zu Verbannten sind heikel in einem repressiven System wie dem albanischen, dem vom „Führer“ geschätzten Dramatiker widerfährt allerdings eine glimpfliche Behandlung. Diesen besorgt ohnehin weit mehr, dass seine Geliebte Migena seit der Vorladung schweigt. Hat sie etwas zu verbergen? Will sie nichts mehr von ihm wissen? Im Zweifel nimmt er ausgerechnet Kontakt mit seinem „Ermittler“ auf, um Gewissheit zu erlangen.

Ismail Kadare stellt seinen Protagonisten Rudian Stefa in ein zwiespältiges Licht. Dass dieser mit dem jüngsten Theaterstück nicht weiterkommt, hat ästhetische Gründe. Das spürt er genau. Hartnäckig sucht er nach einer Sprache, mit der er Missstände kenntlich machen kann, ohne dafür persönlich belangt zu werden. In der Mühle zwischen Anpassung und Kritik klingen seine Entwürfe aber hilflos und unehrlich. Zwischen Schreibstau und sexuellem Begehren macht er sich selbst lächerlich: ein Opportunist in der Gnade eines Systems, das ihn am langen Gängelband führt.

Ismail Kadare hat sein Buch „den albanischen Mädchen“ gewidmet, denen einst alle Hoffnung und Zukunft geraubt wurde, damit sie auf dem Lande in Vergessenheit gerieten. Linda B. hat dieses Unrecht mit Hunderttausenden geteilt. Es braucht aber die Hartnäckigkeit von Migena, damit Rudian Stefa deren Geschichte tatsächlich wahrnimmt. Von ihm ständig unterbrochen, erzählt sie in Raten, wie einst Scheherazade. Während Migena am Unglück ihrer Freundin mitleidet, wird Rudian Stefas Interesse erst geweckt, als er erfährt, dass er für die Verbannte so etwas wie eine ferne Projektion von Liebe und Freiheit war.

Das Schicksal von Linda B. überblendet Ismail Kadare mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike. War dieser mythische Versuch der Rettung nicht bloß „eine heimtückische Finte“ und Eurydike nie auf dem Weg an die Oberwelt? Orpheus weiß es nicht, er kann nur verlieren, egal ob er zurückschaut oder nicht.

In einem vergleichbaren Dilemma befindet sich Rudian Stefa. Freilich ist er kein Orpheus, wenn wir dem hymnischen Bild des Dichter-Sängers glauben wollen. Und er ist auch nicht Ismail Kadare, dafür fehlt es ihm, wie Proben seiner dramatischen Arbeit andeuten, an erzählerischer Kraft, wie sie auch in diesem Buch Kadares aufblitzen. Insgeheim lässt Stefa dennoch den immer wieder genährten Verdacht anklingen, der Kadare selbst anhaftet: dass er zu Zeiten von Enver Hodscha dessen Protektion genossen habe, obwohl etliche seiner Bücher auch verboten wurden. Sein Leben und Werk demonstriert, legte Piet de Moor vor Jahren in einem Buch über Kadare dar, „wie kompliziert die Verflechtungen von Literatur und Politik in einer Diktatur sein können“.

Die Verbannte ist vielleicht nicht Kadares schillerndstes, kantigstes Buch, es stellt aber ganz direkt die für den Autor brisante Frage nach den diffusen Grenzen zwischen Selbstschutz und Eigennutz sowie etwas weiter ausgreifend nach den (politischen) Möglichkeiten der Kunst.

Zwar trägt Migena das Rätsel im Namen, denn Migena ist ein Anagramm von Enigma. Weit mehr ist Rudian Stefa die undurchschaubare Sphinx. Vor allem die weinerliche Kumpanei mit „seinem Ermittler“ bleibt schwer verständlich. Im Zwiegespräch der beiden demonstriert Kadare seine stupende Meisterschaft für die schalen Zwischentöne.

„Die schlimmsten Verluste verschulden wir selbst“, gesteht sich Rudian Stefa ein. Fünf Jahre später kollabiert das System, das Standbild des Führers wird unter ohrenbetäubendem Geschrei geschleift, und danach endlich gelangt Stefas Stück auf die Bühne. Es ist eine Befreiung, die die alten Geister nochmals zum Leben erweckt.

Titelbild

Ismail Kadare: Die Verbannte. Roman.
Übersetzt aus dem Albanischen und mit einer Nachbemerkung von Joachim Röhm.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100384164

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