Auf der Suche nach dem Teflon-Ich

Über Raffael Kalischs Buch „Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie.“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, Jürgen Vietor hat einiges hinter sich: Vor vierzig Jahren war er als Co-Pilot an Bord der entführten Lufthansamaschine „Landshut“; wie die Passagiere musste auch er fünf endlose Tage ohne Schlaf und in ständiger Todesangst überstehen. Um ein Haar wäre er erschossen worden, nur weil den palästinensischen Terroristen seine Uhr „jüdisch“ vorkam. Als am vierten Tag der Flugkapitän Jürgen Schumann ermordet wurde, war nur noch Jürgen Vietor für das Flugzeug verantwortlich. Ganz allein musste er die inzwischen schwer beschädigte Maschine nach Mogadischu fliegen, wo dann die Befreiung gelang.

Man sollte meinen, dass Vietor nach diesen Erlebnissen nie wieder ein Flugzeug betrat. Dass er noch Jahre später von Flashbacks heimgesucht wurde, nachts schweißgebadet aufwachte und Erinnerungen an die Entführung möglichst zu vermeiden suchte. Dass er, kurz gesagt, die Symptome einer PTBS, einer posttraumatischen Belastungsstörung, entwickelte. Stattdessen saß Vietor schon sechs Wochen nach der Entführung wieder im Cockpit, und zwar in dem der „Landshut“. Bis zu seiner Pensionierung war Jürgen Vietor noch 22 Jahre lang Pilot; in Prozessen oder TV-Dokus trat er bereitwillig als Zeuge auf. Heute, im Alter von 75 Jahren, reist er im Wohnmobil um die Welt. 

Für den Mainzer Hirnforscher Raffael Kalisch ist Vietor das Musterbeispiel für Resilienz. Damit ist jenes Phänomen gemeint, dass es manchen Menschen gelingt, trotz erlebter Widrigkeiten, Traumata oder Stresserfahrungen psychisch gesund zu bleiben. Der Begriff machte in den letzten Jahren in Psychologie und Sozialwissenschaft eine steile Karriere, auch auf dem Buchmarkt. Logisch, wer möchte nicht endlich „das Geheimnis der inneren Widerstandskraft“ erfahren oder die „Fähigkeit“ lernen, „am Leid zu wachsen“, wie einschlägige Buchtitel versprechen? Wer hätte nicht gerne ein „Teflon-Ich“, zumal in einer Zeit, in der beruflicher oder privater Stress immer mehr Menschen an Burn-out erkranken lässt und Terroristen schon Bummelzüge oder Weihnachtsmärkte heimsuchen?

Raffael Kalischs Buch fällt aber aus der Reihe, stammt es doch von einem Neurowissenschaftler und nicht von einem selbsternannten „Resilienzcoach“. Ihm geht es um Demystifizierung und empirische Forschung, weshalb er gleich eingangs die Erwartungen dämpft: Ein wirksames „Resilienz-Training“ gebe es noch gar nicht, und wer immer hofft, von ihm den „Weg zum Lebensglück“ zu erfahren, sei an der falschen Adresse. Doch keine Sorge, die Lektüre von Kalischs gut lesbarer Einführung in die Resilienz-Forschung lohnt sich trotzdem, denn wie sich zeigt, ist Resilienz durchaus keine geheimnisvolle Kraft.

 „Resiliente Mäuse“ zum Beispiel – jawohl, die gibt es! – mögen zwar äußerlich unbeeindruckt bleiben, wenn sie im Labor sozial gestresst werden, etwa durch die Anwesenheit einer dominanten Maus. Auf neuronaler Ebene zeige sich jedoch, so Kalisch, dass sie mindestens so stark reagieren wie die „nicht-resilienten“ – dass sich aber in ihren Mäusehirnen das neuronale Gleichgewicht rasch wiederherstellt. Daraus folgert der Forscher, dass Resilienz – definiert als Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit trotz Stresserfahrungen – keine feststehende Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines dynamischen Prozesses der Anpassung.

Freilich ist damit noch offen, warum sich die eine Maus rasch anpassen kann, während die andere vor einer dominanten Maus in depressive Starre verfällt. Auf menschlicher Ebene jedenfalls, so vermutet Kalisch, sei der „Bewertungsstil“ einer Person entscheidend: also die Frage, wie man traumatische Erlebnisse nachträglich bewertet. Oder ob man in ungewissen Situationen eher die Chancen oder die Risiken sieht, und vor allem, wie realistisch man jeweils deren Eintreten bewertet. Bestes Beispiel dafür ist Jürgen Vietor, der trotz seiner schrecklichen Erlebnisse zu einer eher gelassenen Haltung fand: „Man gewinnt nur einmal im Lotto“, verriet Vietor dem Forscher scherzend sein Geheimnis. Es sei ihm einfach unwahrscheinlich erschienen, noch einmal Opfer einer Entführung zu werden, also weshalb bitteschön hätte er nie wieder fliegen sollen? Raffael Kalisch empfiehlt seinen Lesern nachdrücklich, sich diese Einstellung zum Vorbild zu nehmen, und wer weiß, vielleicht zeigt er sich hier ja ganz überraschend doch noch, der „Weg zum Lebensglück“ …

Titelbild

Raffael Kalisch: Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013507

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