„…thaz ir find kind mit tuochon biuuvntanaz…“

Gerald Kapfhammer ermöglicht in der Überarbeitung seiner Dissertationsschrift neue Zugänge zur ‚Evangelienharmonie Tatian‘

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der jüngeren und nicht mehr ganz so jungen Vergangenheit hatte die mediävistische Germanistik mit nicht unerheblichen Problemen zu kämpfen, die zum Teil äußeren Einflüssen, zum Teil auch ‚innerdisziplinären‘ Diskussionen beziehungsweise den daraus folgenden Entwicklungen zu verdanken sind. Und auch wenn es sich wie das Lamentieren eines von der ‚guten alten Zeit‘ Träumenden anhört, ist Folgendes eher eine Art Bestandsschau und kein ‚vorwärts in die Vergangenheit‘. Denn mittlerweile wird eben vieles von dem, was ‚früher‘ im Kontext deutscher Literatur- und Sprachgeschichte zur ‚gymnasialen Grundausstattung‘ gehörte, selbst in den verbliebenen humanistischen Gymnasien nicht mehr behandelt. Und das wirkt sich für die Beschäftigung mit frühen deutschen Sprach- und Literaturdenkmälern nicht unbedingt positiv aus. Vielleicht im Gefolge dieser Entwicklungen wurde etwa im Zuge der Bildungsreformdiskussionen der ‚wilden Siebziger ‘gelegentlich ernsthaft darüber diskutiert, ob es für die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur nicht ausreichend sei, gute Übersetzungen heranzuziehen – eine Position, die sich übrigens nicht durchsetzen konnte.

Vieles ist also nicht mehr so selbstverständlich und bereitet damit Studierenden durchaus Probleme. Gilt dies bereits für das Mittelhochdeutsche, sieht es für die davor liegende Epoche noch problematischer aus. Wenn sich nun eine Dissertation explizit mit einem althochdeutschen Texte befasst, ist dies besonders bemerkens- und anerkennenswert. Und das gilt nicht nur wegen der (im Übrigen keineswegs durchgängig) ‚guten alten Zeiten‘, sondern vor allem deswegen, weil vorliegendes Buch dazu angelegt ist (oder zumindest sein kann), ‚Exotisches‘ aus frühmittelalterlicher Literatur und Geisteskultur näherzubringen. Gerade auf dem Feld der Theologie und Kirche ergeben sich für eine postaufklärerische Gesellschaft wie die unsere nicht geringe Zugangsprobleme, die durch entsprechende Handreichungen zumindest verringert werden können.

Dass Gerald Kapfhammer sich dabei des ‚Tatian‘ angenommen hat, weist darauf hin, dass er nicht nur dem Althochdeutschen im Allgemeinen zugeneigt, sondern an einem Text interessiert ist, der als eindringlicher Beleg dafür angesehen werden kann, wie – lange nach der Taufe Chlodwigs und selbst der Zwangsmissionierung der Sachsen – Exponenten einer Art ‚inneren Mission‘ biblische Inhalte zu ‚portionieren‘ und damit letztlich den weitgehend illiteraten Gläubigen nahebringen suchte. Diese Art des Vorgehens ist heutzutage allein aufgrund der Alphabetisierung der Gesellschaft, die es potentiell zumindest ermöglicht, die gesamte Bibel zu lesen und zu verstehen schwer nachvollziehbar. Vielleicht ließen sich Evangelistare, zu denen die ‚Tatian-Harmonie‘ gehört, am ehesten mit rezenten Büchern für den Religionsunterricht vergleichen, in denen einzelne Bibelstellen herangezogen werden, um ein kirchlich-biblisches Thema zu beleuchten.

In diesem Kontext soll übrigens darauf verwiesen sein, dass Kapfhammer im ‚Hauptberuf‘ Religionslehrer ist. Daher entspricht sein Vorgehen durchaus ‚religiöser Unterweisung‘, sein Verdienst besteht nicht zuletzt auch darin, den ‚Tatian‘ einer gegenwärtigen Leserschaft näherzubringen.

Zunächst stellt der Autor die lateinische Tatianfassung des Codex Bonifatianus der althochdeutschen handschriftlichen Überlieferung im Codex Sankt Gallensis gegenüber und liefert in diesem Zusammenhang auch einen knappen Überblick zur Forschungslage. Interessanter noch ist dann allerdings der zweite Großabschnitt, der sich explizit mit der althochdeutschen Tatianübersetzung befasst. Hier werden mehrere interessante Sub-Themen in den Blick genommen und so neben etwa der ‚Mehrsprachigkeit in althochdeutscher Zeit‘auch die Tatsache früher Volkssprachlichkeit von biblischen Texten betont. Die dann untersuchten stilistischen Eigenheiten des ‚Tatian‘ zeigen die Vielfalt der Möglichkeiten und Umsetzungen biblischer Übersetzung im Althochdeutschen auf.

Mit dem Fokus auf dem ‚Tatian als Erzählwerk‘ schließlich zeigt Kapfhammer das intensive Ringen frühmittelalterlicher Kleriker um die ‚eine Wahrheit‘ auf, was allein anhand von Überlieferungsunterschieden in den Evangelien eine Herausforderung war. Dies nämlich, das Überwindern von oft nur scheinbaren Widersprüchen war eines der Hauptanliegen derer, die eine Evangelienharmonie verfassten. Dies gilt, wie der Verfasser zwar sicherlich nicht als erster, aber doch auf eindrückliche Weise belegt, selbstverständlich auch für den ‚Tatian‘, den der Autor wieder ein wenig aus der ‚Versenkung‘ zu holen trachtet.

Das schwindende Interessen am Althochdeutschen also, aber eben nicht zuletzt auch der Tatian als Sujet, machen vorliegende Publikation als ‚Kontrafaktur‘ aktueller Tendenzen in der Germanistik so interessant, ist die Zahl thematisch vergleichbarer Monographien der jüngeren Vergangenheit doch recht überschaubar. Kapfhammer bietet auf diesem Wege eine zugegebenermaßen nicht immer bequeme Orientierung und Zugangsmöglichkeit insbesondere auch für diejenigen, die über den Grundkanon modularisierter Germanistik hinaus Neugier und Interesse an ihrem Fach aufweisen. Dies gilt umso mehr, als Querverweise, so etwa zu Otfrids Evangelienharmonie, andere althochdeutsche Texte zumindest knapp einbeziehen und damit den Betrachtungshorizont erweitern.

Der Weg dorthin ist dabei recht breit angelegt: Der Verfasser geht auf stilistische Eigentümlichkeiten ein, die auch gedeutet werden, beschreibt daneben aber auch Motivationen, in jedem Fall aber die Erzählstränge des ‚Tatian‘ und ermöglicht hier einen ersten und auch ‚zweiten‘ Zugang zu dieser Kompilation biblischer Texte (und letztlich verwandter Textquellen der Zeit). Es werden Stringenzen, aber auch Brüche des Werks dargestellt und nachgewiesen, und allein über die Erzählstrukturen scheint ein zumindest ein vorsichtiger Zugang zur Welt des frühen Mittelalters möglich zu sein. Allerdings sollte, um die vorliegende Veröffentlichung wirklich vollumfänglich nutzen zu können, zumindest eine der ‚Tatian‘-Ausgaben herangezogen werden. Die im Werk eingearbeiteten Textbeispiele sowie längere Auszüge im Anhang bieten viel, für eine Gesamtschau aber doch zu wenig, so dass dankenswerter in der Bibliographie gängige ‚Tatian‘-Editionen aufgeführt sind. Dass diese im Übrigen verhältnismäßig viele alte und sehr alte Veröffentlichungen nachweist, liegt nicht an der Bequemlichkeit des Verfassers, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass – wohl auch aufgrund der eingangs erwähnten Situation – die Zahl jüngerer Publikationen zum Althochdeutschen grundsätzlich überschaubar ist.

Das Buch ist ein weiteres Beispiel für die hohe Qualität der Veröffentlichungen des Wiesbadener Reichert-Verlages. Der ansprechende Leineneinband und vor allem das hochwertige Papier sind nicht nur in der gegenwärtigen Phase kurzlebiger Produkte ein Positivum, sondern waren dies auch in ‚analogeren‘ Zeiten. Gleiches gilt für die insgesamt 30 farbigen, oft ganzseitigen Faksimiles aus den Handschriften, die eine ansonsten schwer darzustellende Unmittelbarkeit ermöglichen. Das alles jedoch kostet; und der Anschaffungspreis wird vermutlich eine entscheidende Hürde bei der Verbreitung dieser Publikation sein. Gemessen an handwerklich weitaus schlechteren Produkten, die dennoch nicht eben günstig zu haben sind, ist das im vorliegenden Falle zwar nachvollziehbar, die knapp 120 Euro werden dennoch oft genug eine Entscheidung gegen eine Anschaffung des ‚Tatian‘ nach sich ziehen. Gleichwohl soll dieser uneingeschränkt empfohlen werden, denn gemessen etwa an den Anschaffungskosten für ein in spätestens einem halben Jahr bereits veralteten ‚Smartphones‘, das dann wieder zu ersetzen ist, bietet vorliegendes Buch einen bleibenden Wert – und das ist letztlich doch das Wesentliche.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Gerald Kapfhammer: Die Evangelienharmonie Tatian. Studien zum Codex Sangallensis 56.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2016.
304 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-13: 9783954901470

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