Entwurf einer Poetik des Dichterzimmers

Der Sammelband „Die Werkstatt des Dichters“ von Klaus Kastberger und Stefan Maurer betritt ein neues Forschungsgebiet

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist an der Zeit, sich zu fragen, was die Aura des Dichterzimmers ausmacht und wie der Schreibraum selbst mit dem Verfassen von Literatur verschränkt sein könnte. Kompetente Vorarbeit geleistet hat hierzu eine Tagung, die 2016 in Graz stattfand. In der von Klaus Kastberger neu gegründeten Reihe Literatur und Archiv sind nun, versammelt in einem ersten Band, die Forschungsergebnisse veröffentlicht worden.

Hatte Wilhelm Dilthey einst vehement dafür plädiert, Archive für Literatur einzurichten, so blicken wir heute nicht nur auf zahlreiche renommierte Institutionen, die uns als Dienstleister Autorennachlässe zur Verfügung stellen, sondern haben dank der sich seit rund einem Jahrzehnt bündelnden Forschungen zur Schreibgenese, zur Archivtheorie und zur Kontextualität ein Feld betreten, das uns die Parameter der Literaturproduktion und des Verfassens von poetischem Text mit zuvor nicht zur Verfügung gestanden habenden Mitteln analysieren lässt. Dass sich nun die Forschung weiter hin zur Analyse der Arbeitsstätten der Poeten bewegt, ist ein Glücksfall.

Alle Beiträge des vorliegenden Bandes kreisen um die vom Herausgeber pointiert aufgeworfene Frage: „In welchem Verhältnis stehen real erfahrbare Arbeitsräume und Produktionsweisen mit dem, was die Geisteswissenschaft in ihrem methodischen Kern mit der ‚Werkstatt des Dichters‘ meint?“ Dabei gelingt es den einzelnen Aufsätzen – freilich erst in Ansätzen, denn dieses Arbeitsfeld ist noch viel zu disparat in seiner Methodik – zu zeigen, wie die Umgebung der Schreibenden an der Produktion von Texten mitwirken kann. Das Raumgefüge der ursprünglichen Schreibszene mitzudenken, scheint umso entscheidender, als die von Literaten oft nicht zufällig hergestellte Schreibtisch- und Dichterstubenszene häufig wenige Jahre später in ihrem Ursprungskontext zerstört wird. Materialien wandern zu Nachlassverwaltern und können nicht mehr in ihrer ursprünglichen Anordnung und Zusammenstellung verwaltet werden. Exemplarisch dient Kastberger die Arbeitsweise von Friedrike Mayröcker, bei der das Schreibbüro selbst als Materialspeicher und Arbeitsmagazin ihrer Bücher fungiert. Bis ins Endlose findet man in ihrer Wohnung emporgewachsene Papierberge, „in der sich Materialkonvolute auftürmen und der Schreibenden selbst fast kein Raum mehr bleibt.“ Hier werde „unmittelbar evident, dass genuine Ordnungszusammenhänge der Produktion verloren gehen, sobald die Werkstatt der Dichterin als Nachlass-Bestand in die Ablageformen eines Literaturarchivs eingefügt wird.“

In Kastbergers Sammelband finden sich Aufsätze, die diesen Umstand reflektieren und die sich in ihrer literarhistorischen Spannweite über viele Jahrhunderte erstrecken. Es ist allerdings auch ein wenig das Problem des Bandes, dass die einzelnen Forscherinnen und Forscher ihr Interesse sehr stark ihrem konkreten Gegenstand widmen, dabei aber nur wenig das Dichterzimmer selbst theoretisieren, insofern sie dem Material ihres Einzelfalls verhaftet bleiben. Trotzdem decken die gelungenen Texte ein Spektrum ab, das von Johann Wolfgang Goethe zu Walter Benjamin reicht, widmen sich Georg Büchners schwer rekonstruierbarem Schreibprozess und Arthur Schnitzlers Manuskripten, holen Marie von Ebner-Eschenbach zurück in die Erinnerung und informieren über die Bedeutung von Thomas Manns physischem Schreibtisch.

Besonders der Beitrag von Bodo Plachta (Werkstatt, Showroom, Archiv und Pantheon. Arbeitsräume von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten) bietet einen Rundumblick, der eine Lektüre lohnt. Hervorgehoben sei auch die erfreuliche Erinnerung an die beinahe vergessene Autorin Enrica von Handel-Mazzetti in Petra-Maria Dallingers Aufsatz Adalbert Stifters Arbeitsbibliothek und andere Orte des Schreibens.

Positiv erwähnt werden soll, dass alle Beiträge des Sammelbandes online greifbar sind und der Forschung bequem zur Verfügung stehen.

In Kastbergers eigenem Aufsatz (Chaos des Schreibens. Die Werkstatt der Dichterin und die Gesetze des Archivs) steht über Mayröcker zu lesen, dass das Betreten ihrer Wohnung – was nur geladene Gäste leisten können – und das Lesen ihrer Texte – das allen offensteht – ein Äquivalent bildeten. So radikal verhält es sich wohl nicht bei jeder Autorin und jedem Autor, aber die Forschung begibt sich auf eine ertragsversprechende Fährte, wenn fortan nach den Manuskripten und Schreibwerkzeugen auch die Arbeitsumgebungen und Schreibtische in den Fokus der wissenschaftlichen Reflexion rücken. Mayröckers Chaos bildet dabei einen Spezialfall, denn diese Schriftstellerin „ordnet ihr literarisches Archiv nicht, weil es an einer Ordnung des Vorlasses für sie nichts zu lesen gibt. Wenn Mayröcker sich selbst liest, und das tut sie in fast jedem ihrer Bücher, liest sie sich so, wie es in der Unordnung ihrer Werkstatt vorgegeben ist.“ Nun fehlt noch ein strukturiertes Interpretationsmodell, das uns, ob Unordnung der Werkstatt oder Ordnung im Dichterzimmer, aufzeigt, wie eine Poetik des Dichterzimmers abseits praktischer Beispiele zu theoretisieren wäre.

Titelbild

Klaus Kastberger / Stefan Maurer (Hg.): Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion.
De Gruyter, Berlin 2017.
239 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110464931

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