Die Winterkönigin

Daniel Kehlmann kehrt mit „Tyll“ zum historischen Roman zurück

Von Philipp JakobRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Jakob

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Roman nach seiner Hauptfigur zu benennen, ist ein einfacher und oft wirkungsmächtiger Schritt. Er deutet die namensgebende Figur, denkt man etwa an Effi Briest oder Anna Karenina, als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte an. Handelt es sich, wie bei Till Eulenspiegel, auch noch um eine bekannte Person, bekommt der geneigte Leser den Eindruck, er könne schon ungefähr erahnen, was ihn erwartet. Nun ist Tyll aber kein Schelmenroman geworden, der sich um das lustige Treiben des Narren Till Eulenspiegel dreht, welcher der Legende nach im 14. Jahrhundert gewirkt haben soll. Die Handlung spielt 200 Jahre später zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs und auf den meisten Seiten des Romans kommt der Gaukler nicht einmal vor.

Ständig präsent ist dagegen der Krieg. Auf 480 Seiten entwirft Kehlmann ein eindrucksvolles wie auch schauderhaftes Bild der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich der Mensch in einer ständigen Gefährdung befindet. Ganz Europa ist im Ausnahmezustand, überall sind Menschen auf der Flucht, die Pest treibt immer wieder ihr Unwesen. Aberglaube ist in allen Bevölkerungsschichten präsent, die Wissenschaft befindet sich in den allmächtigen Händen religiöser Gelehrter und der Einzelne muss aufpassen, nicht aus der Reihe zu fallen, um nicht den Argwohn der Inquisition auf sich zu ziehen.

Gekonnt hat Kehlmann sein Werk in acht einzelne Episoden angeordnet, deren Verbindungen sich erst im Laufe des Romans aufschlüsseln. Diese folgen keiner zeitlichen Chronologie, sondern springen mal an den Anfang, mal an das Ende des Kriegsgeschehens. Dabei werden meist historische Persönlichkeiten in fiktive, aber auch historische Situationen montiert und in die Handlung verwoben. Der Autor präsentiert ein großes Spektrum von Figuren aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten, die er in den Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Episoden gerückt hat und von denen jede in ihrer Ausarbeitung auch als Hauptfigur eines eigenen Romans in Frage käme.  Das Ganze funktioniert ohne allzu große Verwirrung zu stiften, da sich die Episoden durchaus auch einzeln, vom Werk losgelöst lesen lassen. Als Verbindungselement hat Kehlmann neben dem Kriegszustand noch ein Ass im Ärmel – seinen Narren.

Dieser kann als Teil des fahrenden Volkes mühelos in allen Gesellschaftsschichten agieren. Und so tritt der bei Kehlmann Tyll Uhlenspiegel genannte Narr überall auf, sorgt für Unruhe, spricht Wahrheiten aus, jongliert, tanzt auf dem Seil und verschwindet dann oft ebenso schnell wieder, wie er aufgetaucht ist. Dabei hat der Autor den Narren mit einer vom Schicksal schwer geprägten Geschichte versehen, die der Figur durchaus eine psychologische Tiefe gibt und sie oft von ihrer Funktion als Spaßmacher entbindet. Das Versetzen des Eulenspiegels in eine andere Zeit funktioniert, denn ein Unruhe stiftender Narr passt einerseits in diese turbulente Epoche, in der jeder Anstoß zum Konflikt wird. Andererseits hebt sich der Gaukler ab und wird zum Mittel der Reflexion, denn, der Tradition der Figur folgend, hält er den Menschen den Spiegel vor und ist dank seiner Narrenfreiheit wohl der einzige, dem das in dieser Zeit gestattet wird. Eine titelgebende Rolle hat er sich damit nun absolut verdient, wenn die Figur auch nicht die eindrucksvollste in diesem Buch ist.

Trotz seines düsteren Hintergrunds ist der Roman an vielen Stellen durchaus humorvoll, etwa wenn in einer Episode geschildert wird, wie die historische Figur Athanasius Kircher, zur damaligen Zeit eine Art Superstar der Wissenschaften, sich im Auftrag des Papstes auf die Suche nach einem Drachen begibt, in der Überzeugung, mit dessen Blut die Pest heilen zu können. Mit einer verblüffenden Logik führt er auf, weshalb er den Drachen gerade im Gebiet um Holstein vermutet: „Denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist. […] In dieser Gegend ist offensichtlich überhaupt noch nie ein Drache bezeugt worden. Somit habe ich die Zuversicht, dass einer da sein muss.“

Wenige Augenblicke später wird der Leser aber damit konfrontiert, dass diese Irrwege der Wissenschaft nicht nur als bloße Spinnereien der Zeit anzusehen sind, sondern durchaus ihren Preis forderten. Kircher trifft nämlich kurz darauf auf den Uhlenspiegel, der einst zum Opfer von dessen früheren Praktiken geworden ist.

Kehlmann gelingt es immer wieder Universelles, wie die Darstellbarkeit des Schrecklichen, in sein Werk einzuflechten. In einer Episode wird ein dicker Graf vom Kaiser ausgesandt, im Kriegsgebiet unter Einsatz seines Lebens nach dem berühmten Gaukler Uhlenspiegel zu suchen, damit dieser für den Monarchen am Hof auftreten kann. Immer tiefer begibt er sich in eine Art Herz der Finsternis und muss Jahre später feststellen, dass „The horror! The horror!“  nicht mit Worten zu beschreiben ist und so ist seine Lösung, Erlebtes und Erdachtes zusammen mit den dreist übernommenen Schilderungen eines anderen zu vermengen.

Aber auch Beiläufiges, wie Gespräche über die deutsche Literatur dieser Zeit, die damals noch in ihren Kinderschuhen steckte, webt Kehlmann in sein Bild dieser Zeit ein. Hierzu lässt er etwa Elisabeth Stuart auftreten, die sich als Shakespeare-Kennerin erweist und nicht nur mit der deutschen Literatur zu kämpfen hat.

Die ‚Winterkönigin’ ist die eindrucksvollste Figur im ganzen Roman, weswegen der Rezensent ihr zumindest den Titel dieser Rezension zugestanden hat. Durch ihre Heirat mit Friedrich dem V. von der Pfalz befindet sie sich in einer misslichen Lage und ist anscheinend selbst zur klassischen Shakespeare-Figur geworden. Friedrichs Annahme der böhmischen Königskrone entgegen dem Willen des Kaisers wird zum Anstoß des Krieges und das Paar verliert durch diesen missglückten Schachzug alle Unterstützung. Fortan reisen sie als Königspaar ohne Land und Besitz als Gespött Europas umher und müssen sich die Gunst des Adels erbitten. Als dann auch noch ihr Mann stirbt, ist Elisabeth völlig isoliert.

Kehlmann gelingt es, dem Leser den Zwiespalt der Königin zu vergegenwärtigen, deren Sein nur noch eine ärmliche Existenz ist und die gleichzeitig den Schein und die Etikette aufrechterhalten muss. Als stolze Königin muss sie vor dem Adel Stärke zeigen und darf nie Zweifel an ihrer Königswürde aufkommen lassen, denn dies ist ihr letzter Trumpf. Nicht nur sprichwörtlich muss sie beim Zuschreiten auf Türen immer hoffen, dass diese ihr überhaupt geöffnet werden, da sie sich sonst die Nase stößt. Dies ist mitreißend bis zum Finale, in dem die Königin noch einmal vor den Mächtigen Europas ihr letztes Blatt spielt.

Zwölf Jahre sind vergangen seit dem riesigen Erfolg von Die Vermessung der Welt. Nun ist Kehlmann zum historischen Roman zurückgekehrt und diese Rückkehr ist ihm gelungen. Es ist keine Geschichte über Till Eulenspiegel, aber mit diesem geworden und das ist durchaus positiv, denn der Autor hat eine ganze Fülle an vielschichtigen Figuren geschaffen, die es ihm erlauben ein weitreichendes Schaubild des Dreißigjährigen Kriegs zu entwerfen. Der Roman versetzt den Leser in eine Zeit, in der die Welt aus den Fugen geraten ist und in der auch der Narr, der sonst über den Dingen steht, oft das Nachsehen hat. Mit einer spannenden Geschichte, die den Spagat zwischen dem Tragischen der historischen Situation und dem Schelmisch-Humorvollen einer grotesken Zeit schafft, ist es Kehlmann gelungen, die Tradition der Figur Till Eulenspiegel weiterzuführen. Und so bewahrheiten sich Tylls Worte, die im Roman zu seinem Credo geworden sind: „Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht!“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
480 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035679

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