Bücher, Verlage und Geschichten

Die Festschrift für Siegfried Lokatis gibt Einblicke in die kultur- und buchwissenschaftliche Forschung

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher haben ihre Geschichte, haben teil an historischen Prozessen, sind abhängig von spezifischen Konstellationen, geben sich bestimmten Geschehnissen anheim, spiegeln und reflektieren sie, aber Geschichte machen sie, anders als der Titel Buch macht Geschichte, der Festschrift für Siegfried Lokatis, suggeriert, eher nicht. Aber ein kultureller und sozialer Kosmos eigener Art wird durch das Schreiben, die Produktion und Distribution von Büchern schon konstituiert. Die darin verlaufenden Ströme von Kontakten und Kooperationen zwischen Verlegern, Autoren und Sortimentern, auch die in Perioden der Diktatur sich auftürmenden Hindernisse zu erforschen, in Kontexte zu setzen und anschaulich zu vergegenwärtigen, könnte eine wichtige Aufgabe der Germanistik sein. Tatsächlich kümmert sich darum die Buchwissenschaft, die in Deutschland freilich nur über eine beklagenswert geringe Zahl von Professoren verfügt. Einer davon ist Siegried Lokatis, der am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Leipziger Universität einen einschlägigen Lehrstuhl innehat. Lokatis ist Historiker, der sich bereits mit seiner Doktorarbeit in diesem Terrain getummelt und der in Hamburg ansässigen Hanseatischen Verlagsanstalt, zu der Autoren wie Wilhelm Stapel und Ernst Jünger gehörten,eine innovative, auf politisches Buch-Marketing in der Diktatur konzentrierte Studie gewidmet hat. Seit 2006 bemüht er sich nach Kräften, Leipzigs Ruf als „Buchstadt“ zu mehren, betreut eine Spezialbibliothek, die mittlerweile, wie die Herausgeber Patricia F. Blume, Thomas Keiderling und Klaus G. Saur betonen, über „eine der größten Sammlungen von buchwissenschaftlichen und verlagshistorischen Publikationen“ verfügt und außerdem etliche bedeutende Verlagsarchive, darunter das von Reclam Leipzig, beherbergt.

Von der produktiven Atmosphäre, die im Arbeitsbereich von Siegfried Lokatis herrscht, zeugen zahlreiche Ausstellungen, Projekte und wissenschaftliche Monographien, nicht zuletzt die Festgabe, in der zahlreiche Schülerinnen und Schüler, Freunde, Kollegen und Weggefährten dem Jubilar zum 60. Geburtstag die Ehre erweisen. Darin beschäftigt sich ein Drittel der insgesamt 27 durchweg informativen, ein breites Spektrum von Themen abdeckenden Beiträge mit dem Verlags- und Buchwesen der DDR. Unter anderem schildert in diesem Feld Franziska Galek die Bemühungen des nach dem Krieg gegründeten Henschel Verlags um die Werke moderner französischer Dramatiker, etwa Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir oder Albert Camus. Die Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden waren, lassen sich ablesen an einer Äußerung des Kritikers und Herausgebers mehrerer Klassikerausgaben Paul Rilla, der 1948, der offiziellen kulturpolitischen Linie der SED folgend, den Caligula von Camus unter „Verfallsliteratur“ rubrizierte. Über den 1947, auf Initiative Willi Bredels gegründeten und 1965 zugunsten von Hinstorff in Rostock abgewickelten Schweriner Petermänken Verlag, der sich auf mecklenburgische Heimatliteratur und Geschichte konzentrierte, informiert Kerstin Schmidt. Welche Rolle die Leipziger Buchmesse für die Sortimenter der DDR spielte, skizziert Patricia F. Blume, dabei die kontinuierliche Benachteiligung des privaten Buchhandels und die verlagsseitig ebenso regelmäßig auftretenden Schwierigkeiten hervorhebend, ein die Nachfrage halbwegs abdeckendes Literaturangebot bereitzustellen. Klaus G. Saur berichtet über die Eigenheiten des innerdeutschen Handels, Christoph Links über das „Schicksal der DDR-Verlage“ nach 1990, und Hans Altenhein erinnert sich an eine „deutsche Dienstreise“, die ihn 1988 zu Recherchen über das Verlagswesen der DDR nach Weimar, Leipzig, Halle, Dresden und Berlin führte. Martin Sabrow wendet sich der Gattung der politischen Autobiographik, will sagen, den Lebenserinnerungen hochrangiger DDR-Funktionäre zu, die er als besonderen „Typus mit eigenen Bauformen des biographischen Erzählens“ charakterisiert. Mehr als „prokommunistische Auskunftsliteratur“ kam dabei nicht heraus. Anders als in der klassischen Tradition des Bildungs- und Entwicklungsromans steht hier nicht die „Individualisierung“ des Protagonisten im Mittelpunkt, sondern dessen „Vergemeinschaftung im politischen Kollektiv“, in dem der eigene Weg parallel zum erwarteten Nahen des „sozialistischen Zukunftsstaates“ seine „Erfüllung“ findet.

Ein weiteres knappes Drittel der Aufsätze richtet den Blick auf die Bundesrepublik. Das beginnt mit Melanie Mienert, die das Augenmerk auf Herbert Cram lenkt, den Verleger von de Gruyter. Dieser nämlich machte sich nach Kriegsende stark für Oswalt Pohl, den Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS und in dieser Funktion eine der Schlüsselfiguren bei der Ausbeutung und Ermordung der in Europa lebenden Juden. Pohl hatte 1942 eine ehemalige de-Gruyter-Mitarbeiterin geheiratet, was den Einsatz Crams für den NS-Verbrecher befördert haben mochte. Er habe diesen, schrieb er in einem Gnadengesuch, als „einen geläuterten Geist von höchster persönlicher Stärke kennengelernt“.  Pohl gehöre „zu den sauberen und anständigen Charakteren“, die in der Lage seien, „Deutschland wieder aufzubauen und dem Weltfrieden zu dienen“. Derartige Persilscheine fielen bei der alliierten Justiz allerdings nicht auf fruchtbaren Boden, denn sie verurteilte den Mann in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse zum Tod. Pohls Hinrichtung am 7. Juni 1951 in Landsberg hinterließ seinen Fürsprecher Cram „tieferschüttert“. Zuvor noch hatte er sich berechtigt gewähnt, dem Hohen Kommissar John McCloy mitteilen zu müssen, dass die Vollstreckung der Todesstrafe „kein Ruhmesblatt in der Geschichte des amerikanischen Volkes“ sein würde. In Wahrheit war eine Intervention wie diese ein Indiz für den rechts- und moralpolitischen Tiefstand eines Angehörigen des deutschen Bildungsbürgertums.

Von einer außerordentlich erfolgreichen, bis heute existierenden Buchreihe handelt Martin Hochrein, der die Gründung und das Publikationskonzept der von Hans Magnus Enzensberger betreuten und anfangs von Franz Greno verlegten, im Bleisatz produzierten Anderen Bibliothek beleuchtet. Thomas Gepp und Berthold Petzinna portraitieren den Journalisten, Dramaturgen und Lektor Friedhelm Baukloh, ein Kind des Ruhrgebiets, Linkskatholik, engagierter Streiter gegen die Vision einer „formierten Gesellschaft“ des Kanzlers Ludwig Erhard wie der Notstandsgesetzgebung unter der Ägide der ersten großen Koalition. Vera Dumont analysiert die Werbeslogans der „Lesering-Illustrierten“, der Mitgliederzeitschrift des Buchklubs von Bertelsmann, in dem es kräftig menschelte, von „Leistungs-“, gar von „Schicksalsgemeinschaft“ die Rede war und dem Ideal einer, wie die Autorin hervorhebt, „klassenübergreifenden Gemeinschaft“ mit unverkennbaren Anklängen an die NS-Volksgemeinschaft gehuldigt wurde. Den Umarbeitungen, genauer: den enthistorisierenden Zurichtungen auf den tatsächlichen oder nur vermuteten Verständnishorizont des jungen bundesdeutschen Lesepublikums, die man den Nesthäkchen-Geschichten von Else Ury angedeihen ließ, rückt Detlev Haberland kritisch zu Leibe, dafür plädierend, Urys Romane „erneut zu lesen“, und zwar in den „Originalausgaben ohne verlegerische Eingriffe.“ Und Konstantin Ulmer präsentiert ein Kapitel aus seiner Dissertation über den Luchterhand Verlag, dessen „Loseblatt Lyrik“ auch dem Zweck diente, Kontakte in die DDR sowie zu DDR-Autoren auszudehnen und zu festigen.

Mit verschiedenen Aspekten aus den Epochen vor 1945 beschäftigen sich elf weitere Beiträge, etwa der von Thekla Kluttig über den Leipziger Wissenschaftsverlag J. C. Hinrichs, dessen Korrespondenzen die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs überdauert haben. Diese liefern auch die Grundlage für die Skizze über die 1928/29 bei Hinrichins Leben gerufene Zeitschrift „Orient und Occident“, die Dorothea Trebesius und Hannes Siegrist beisteuern. Hier geht es vor allem um Publikations- und Werbestrategien, um die Suche nach Autoren und die Zusammenarbeit zwischen Herausgeber und Verleger. Thomas Keiderling nimmt sich den Meyer vor,neben dem Brockhaus eines der prominenteren Konversationslexika, und zwar die achte Auflage, die in neun Bänden zwischen 1936 und 1942 erschien, allerdings unvollendet blieb. Eindrucksvoll wird hier belegt, dass die dort dargebotenen Inhalte nicht allein durch Druck von außen eingebräunt wurden, sondern ebenso sehr durch die Redaktion selber, mit der Konsequenz, dass Einträge zur Geschichte, namentlich zur Zeitgeschichte, natürlich auch zu einzelnen Personen, den sonst üblichen „sachlichen Ton verließen, um Andersdenkende und Juden in einer gegen die Grundprinzipien der Lexikographie verstoßenden Weise zu diskreditieren.“

Mit Problemen der „Gestaltung und Ästhetik“ beschäftigen sich Thomas Glöß („Die Antiquafrage“), Monika Estermann, die mit dem Zusammenspiel von „Leserin und Kavalier“ den Wandlungen eines Bildmotivs zwischen Ancien Régime und Biedermeier nachspürt, sowie Julia Rinck mit „Anmerkungen zu den Einband-Papieren der Insel-Bücherei“. Den Band beschließt der Leipziger Anglist Elmar Schenkel, ein Sammler, der Bücher nicht nur liest, sondern auch von ihnen träumt. Sein Essay steckt voller Sinnsprüche, darunter manche, die wie Allgemeinplätze wirken und doch den Kern der Dinge treffen: „Wer ein Buch liest“, heißt es an einer Stelle, „vertieft sich in andere Lebensläufe und andere Gedankenwelten, Leserinnen vervielfachen ihre eigene Biographie, Denkende folgen dem Geäst anderer Gehirne und deren Assoziationen, die irgendwo an einem weit heraushängenden Ast zu schimmern scheinen. Doch wissen wir längst, dass das Klettern selbst die Erkenntnis darstellt.“

Titelbild

Klaus G. Saur / Thomas Keiderling / Patricia F. Blume (Hg.): Buch macht Geschichte. Beiträge zur Verlags- und Medienforschung. Festschrift für Siegfried Lokatis zum 60. Geburtstag.
De Gruyter, Berlin 2016.
343 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783110480894

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