Die „neue Achmatova“ liebt Tomatensauce und ist keusch

Julia Kissinas „Elephantinas Moskauer Jahre“ erzählt vom bohème-artigen Lebenswandel einer kleinen Poetin in der Sowjetunion

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Julia Kissinas Elephantinas Moskauer Jahre verschmilzt alles in einander: Phantasie, Fieber und Realität, Metapher und direkte Bezeichnung. Die Feststellung, dass Gorbatschow 1986 die Abschaffung der Atomwaffen forderte, folgt auf die, dass Lady Gaga zur Welt kam. In der Welt der 17jährigen Protagonistin Julia scheinen diese Geschehnisse – überhaupt alle politischen und pop-kulturellen Ereignisse – auf einer Ebene zu stehen und von derselben Wichtigkeit zu sein, wenn nicht sogar: von derselben Irrelevanz. Denn Julia hat geschworen, sich ganz ihrem literarischen Werk zu opfern, und nimmt das klangvolle Pseudonym Elephantina Dostojewzewa an. Sie schwört sich außerdem, sich nie zu verlieben, doch dieses Vorhaben durchkreuzt ein junger avantgardistischer Lyriker, der zu einer Lesung aus Moskau in Elephantinas Heimat, das „provinzielle“ Kiew, kommt. Er ist zwar verheiratet, doch das hält Elephantina nicht davon ab, nach dem Abschluss der Kunstschule ihrem Angebeteten in die Hauptstadt zu folgen.

Dem Großteil der Menschen in Elephantinas dortiger Umgebung schreibt sie Tier- oder Gemüseeigenschaften oder beides gleichzeitig zu: Der Geliebte wird mal „Tomaten-Guru“ genannt, mal „Tomaterich“ oder „Tomatensauce“ und in besonders sentimentaler Stimmung „Elends-Rote-Beete-Würmchen“. Die erste Zeit kommt sie bei einer „Rosine mit Affengesicht“ unter, nachdem ihre Tante sie in einer Wohnung unterzubringen versucht hatte, in der „der Matrjoschka-Horror“ aus einem Ostrowski-Stück herrscht. Elephantina lehnt sich dagegen auf, sie verfolgt demonstrativ die dekadente Lebensweise einer „genialen Poetin“ in der Gesellschaft junger Avantgardisten, welche dem ewigen Besäufnis frönen. Die besonders „Coolen“ unter ihnen bringen sich jung um.

Elephantinas Wandern von einer Schlafstatt zur nächsten, ihre Auflehnung gegen das Establishment gleichermaßen wie gegen das Saufgelage der jungen Literaten, mit denen sie nur die hochtrabenden, pseudo-literaturwissenschaftlichen Selbstäußerungen gemeinsam hat, all das wird mit einer von Ironie triefenden Stimme erzählt, der Stimme der älteren Elephantina, die es anscheinend nach den Jahren „besser weiß.“ Wenn sie im Erzählen ihre späteren Erkenntnisse vorgreift, wird die Verzückung der kleinen Elephantina für ihren Schwarm, den Tomaten-Guru, in zynischer Manier aus- und bloßgestellt. Das liest sich locker und charmant. Ein regelrechter Hagel an einprägsamen und amüsanten Bildern prasselt auf den Leser ein: die Mathematiklehrerin mit den Augen eines bekifften Lemuren; Hunde, die ihr Revier im „Straßen-Facebook“ markieren; Viktor Schklowskij als tatteriges „Wachtelei mit Taucherbrille“.

Ebenso werden reichlich intertextuelle Verweise gestreut und mögliche Anspielungen auf den Kreis der Moskauer „Underground“-Poeten der 80er Jahre gemacht, in dem im Klappentext die Autorin verortet wird. Beizeiten ist es allerdings eher schmerzhaft zu lesen, wie die ältere Elephantina mal im Scherz und mal mit wahrlicher Bosheit ihr jüngeres Ich verurteilt und die ehemaligen Wunschvorstellungen entwertet. Manchmal mag man sich sogar ein bisschen „Literatur-Avantgarde-Jugend-Romantik“ oder auch die Darstellung einer „düsteren Realität armes Dichternachwuchses“ ersehnen. Doch die Haupterrungenschaft des Romans besteht darin, dass er sich eben nicht bestehender Topoi bedient und keine Erwartungen erfüllt.

Es ist weder die locker-fröhliche, romantisierte Jugenderinnerung einer Künstlerin noch die desillusionierte Abrechnung mit dem jüngeren Ich. Es ist kein Porträt der Zeit, auch wenn manchen Kapiteln eine Aufzählung von mal mehr und mal weniger relevanten historischen Ereignissen vorangeht und der Leser ein paar Einblicke in sowjetische „Kommunalkas“ erhält. Die Handlungsentwicklung tritt in den Hintergrund, wenn die dominante Stimme der Erzählerin die Episoden aus den „Moskauer Jahren“ von Julia in einfallsreichen Wortspielen verpackt und diese in den Kontext einer hoffnungslosen ersten Liebe einbettet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Julia Kissina: Elephantinas Moskauer Jahre.
Übersetzt aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
234 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425329

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