Eine erdichtete Biographie?

Martin A. Klaus legt eine in vielerlei Hinsicht fragwürdige Lebensbeschreibung des Schriftstellers Ludwig Thoma vor

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Biographie ist ein Ärgernis. Das liegt nicht etwa an ihrem Gegenstand, dem bayerischen Schriftsteller Ludwig Thoma, der allerspätestens seit der gesammelten Veröffentlichung seiner antidemokratischen Hetzartikel aus der Anfangszeit der Weimarer Republik im Jahr 1989 über erhebliches Irritationspotential verfügt und auch gute drei Jahrzehnte später noch immer für Diskussionsbedarf sorgt. Anlässlich des Gedenkens von Thomas 150. Geburtstag im Januar dieses Jahres ist das wieder deutlich geworden – ebenso wie die Tatsache, dass auch aus wissenschaftlicher Sicht noch längst nicht alles über Thoma gesagt worden ist: Da gibt es, trotz der unverzichtbaren Arbeiten einer umtriebigen und denkbar gründlichen Thoma-Philologie aus der Schule des Regensburger Germanisten Bernhard Gajek, noch vieles genauer auszuleuchten.Vor diesem Hintergrund nun wäre das Erscheinen einer neuen Biographie über den Autor nur zu begrüßen gewesen, zumal einer solchen, die mit dem Anspruch antritt, auf der Basis eines individualpsychologischen Ansatzes einen völlig neuen Blick auf Ludwig Thoma werfen zu wollen. Was das neue Thoma-Buch des langjährigen SZ-Journalisten Martin A. Klaus dennoch zum Ärgernis macht, ist mithin nicht dieser Anspruch, sondern vielmehr die völlig unzureichende Umsetzung, die die Chancen zum Entwurf eines neuen Thoma-Bildes durch eklatante methodische Mängel schlichtweg verspielt.

Das ist um so mehr zu bedauern, als das Buch gerade in jenen Partien, die sich mit der heikelsten Phase von Thomas Leben und Schreiben zwischen Kriegsausbruch 1914 und seinem frühen Krebstod im Jahr 1921 beschäftigen, durchaus einige erhellende Einsichten bereit hält. Sie resultieren etwa aus der von Klaus unternommenen Parallellektüre von Thomas Artikeln im Miesbacher Anzeiger einerseits mit nahezu zeitgleichen Verlautbarungen des frühen Adolf Hitler andererseits, die deutlich genug vor Augen führen, wie stark Thomas Rhetorik am rechtsradikalen Diskurs jener ‚Ordnungszelle‘ Bayern partizipiert hat, deren Hauptstadt München sich ein rundes Jahrzehnt später in die ‚Hauptstadt der Bewegung‘ verwandeln sollte. Darüber hinaus gelingt es dem Verfasser konzise, die Mord- und Totschlagphantasien, die sich in manchen Thoma-Artikeln drastisch Luft machen, mit der Schilderung ihrer realen Folgen zu konfrontieren, so dass das Fazit, Thoma habe politische Morde wie jenen an Karl Gareis (USPD) und jenen an Mathias Erzberger (Zentrum) geradezu „herbeigeschrieben“, ohne viele Umschweife nachvollziehbar wird. Nicht, dass man das nicht schon längst gewusst hätte. Aber dass es noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt wird, schadet nichts – insbesondere gegenüber potentiellen LeserInnen, die noch immer zu Beschönigungen im Rahmen eines harmoniesüchtigen Thoma-Bildes neigen sollten. Denn zu beschönigen gibt es hier nichts – und Klaus tut es denn auch nicht.

Dass er das nicht tut, ist aber leider beinahe auch  schon alles, was sich an Positivem über dieses Buch sagen lässt, zumal die genannten Passagen von einer wahren Dornenhecke an wilden Spekulationen, blanken Oberflächlichkeiten, fragwürdigen Schlussfolgerungen und schiefen Kontextualisierungen umgeben sind. Bisweilen scheint sich darin einfach nur das mangelnde Verständnis oder auch ein fehlendes Gespür des Verfassers für die politisch-historischen, literatur-, kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge jener Zeit zu äußern, in der Thoma agierte. Etwa dann, wenn zu lesen steht, dass der Erfolg des Miesbacher Anzeigers im gesamten deutschen Reichsgebiet unter anderem darauf zurückgeführt werden könne, dass sich „bessere Kreise nicht zu schämen“ brauchten, das provinzielle Radaublatt zu lesen – weil Thomas anonyme Artikel allem Populismus zum Trotz eben doch „aus einer geschliffenen Feder“ stammten. Ähnlich naiv wirkt der Versuch, Thomas militante Anti-Erzberger-Polemik neben zahlreichen anderen Ursachen privater Natur mit seinem Unmut über die Finanzreform des Ministers zu begründen, weil der Dichter in seiner Eigenschaft als wohlhabender Haus- und Grundstücksbesitzer am Tegernsee davon persönlich eine höhere Steuerbelastung zu gewärtigen gehabt hätte. Als ob da sonst nichts gewesen wäre, was Erzberger (mitsamt seinem Reformwerk und dessen Zentralisierungsabsichten) zu dem Feindbild schlechthin sowohl für die rechtsradikale wie für die partikularistische Propaganda im Deutschland der Jahre nach 1918 gemacht haben würde … An diesem Beispiel zeigt sich schon die grundsätzliche Gefahr des Biographen, größere Kontexte immer wieder zugunsten einer mikrologischen Perspektive hintan zu stellen, die sich mit ihrer psychologisierenden Fokussierung auf das Privatleben Ludwig Thomas dem Risiko aussetzt, den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Wollte man alle aus diesem Dilemma resultierenden Monita anführen, die Liste würde den hier zur Verfügung stehenden Raum ebenso sprengen wie die Addition der sachlichen Fehler im Detail, die zwar jedem Autor einmal unterlaufen können, die im vorliegenden Zusammenhang aber erhebliche Zweifel an der verlagsseitig annoncierten Expertise des Biographen aufkommen lassen. Sie reichen von der falschen Behauptung, die Zeitschrift Simplicissimus habe während des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz im Titel getragen (dies trifft nur auf die Kriegsflugblätter des Simplicissimus, nicht aber auf das Hauptblatt zu) über die Verwechslung respektive umstandslose Gleichsetzung des 1891 gegründeten Alldeutschen Verbands (der bei Klaus „Alldeutscher Verein“ heißt) mit der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei bis hin zu der Behauptung, Ludwig Thomas bedeutende Rezension der Reden Kaiser Wilhelms II. sei in den Süddeutschen Monatsheften erschienen (sie erschien natürlich im März, der von Thoma mitbegründet und mitherausgegeben wurde). Wie gesagt: diese Liste ließe sich mühelos um zahlreiche weitere Beispiele verlängern, was hier nicht weiter getan werden soll. Stattdessen seien nur die Hauptkritikpunkte angeführt, die dem Buch im Kern vorzuwerfen sind und die jeweils für sich genommen schwer genug wiegen. Es sind vier an der Zahl:

1. fehlt dem Verfasser offenkundig ein angemessenes literaturwissenschaftliches Instrumentarium zum Umgang mit fiktionaler Literatur, das für die Beschäftigung mit Leben und Werk eines Schriftstellers eigentlich vorauszusetzen wäre;

2. neigt er zu weitreichenden, nicht immer überzeugend argumentierten Schlussfolgerungen, die mit Blick auf die tatsächliche Faktenlage auf tönernen Füßen stehen und die Neigung des Biographen verraten, sich die Dinge so zurechtzubiegen, dass sie ins anvisierte Bild passen;

3. ignoriert der Verfasser an entscheidenden Punkten die Grundregeln seriöser wissenschaftlicher Praxis, indem er darauf verzichtet, seine selbstbewusst vorgetragenen Behauptungen mit ausreichenden Belegen zu versehen, wozu

4. die Beobachtung passt, dass er offensichtlich auf eine angemessene Würdigung der umfangreichen neueren Thoma-Forschung keinen sonderlich großen Wert zu legen scheint.

Um es nicht bei diesen Vorwürfen zu belassen und damit dem zwar meinungsstarken, aber wenig belegfreudigen Biographen gleich zu tun, sollen die genannten Punkte im Folgenden näher erläutert und anhand konkreter Beispiele nachvollziehbar gemacht werden.

Zu Punkt 1: Martin A. Klaus kennt nur zwei Kategorien im Umgang mit seinem Gegenstand, die eindeutig moralisch besetzt sind: Wahrheit und Lüge. Allein der letztere Begriff begegnet dem Leser – noch bevor er zum vierten Kapitel mit der Überschrift „Die krachlederne Lüge“ vorgedrungen ist – auf den ersten vier Seiten des ersten Kapitels nicht weniger als drei Mal, z. T. in verstärkter Form wie „Lebenslüge“ und „dreiste Lügen“, ergänzt um deutlich wertende Verba wie „vorgaukeln“ und „auftischen“. Diese Worte fallen im Zusammenhang mit der Charakterisierung von Thomas 1919 veröffentlichten Erinnerungen, von denen schon Gertrud Maria Rösch in ihrer 2012 erschienenen Thoma-Biographie weit weniger moralisierend, aber gleichwohl zutreffend festgestellt hat, dass ihre „verklärend-rückwärtsgewandte Perspektive“ mehr über Ludwig Thomas Weltsicht gegen Ende des Ersten Weltkriegs aussagt als über die darin geschilderte Kindheitsidylle, durch deren Entwurf sich der Autor inmitten einer aus den Fugen geratenden Welt gleichsam kompensatorisch eine heile Vergangenheit erschrieben habe. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind Thomas Erinnerungen damit jedenfalls als ein integraler Teil seiner Autorschafts-Inszenierung zu begreifen, auf die freilich nur dann der moralische Vorwurf der Lügenhaftigkeit anzuwenden wäre, wenn überhaupt der grundsätzliche Konstruktionscharakter jedweden autobiographischen Schreibens infrage gestellt werden könnte – so als wäre von Erinnerungsbüchern generell voraussetzungslose Objektivität einzufordern (was Klaus offensichtlich tun zu können glaubt) und nicht jede Form auktorialen Agierens und Erscheinens in der Öffentlichkeit von Vornherein inszenatorisch definiert. Die Literaturwissenschaft hat sich gerade in jüngster Zeit recht ausführlich mit dem Phänomen der Autor-Inszenierung beschäftigt und sich dabei redlich bemüht, den Inszenierungsbegriff von Wertungen wie ‚echt‘ oder ‚falsch‘, ‚Wahrheit‘ oder ‚Lüge‘ abzukoppeln. Dass Martin A. Klaus derlei Bemühungen nicht zur Kenntnis nimmt, ist ihm schwerlich vorzuwerfen, zumal sein Ansatz ein grundsätzlich anderer, eben psychologisch motivierter ist. Wirklich problematisch wird seine Herangehensweise erst in dem Moment, in dem er die fiktionalen Werke Thomas gegen die Erinnerungen ausspielen zu können glaubt, da er der Meinung ist, im Gegensatz zur Autobiographie in diesen Texten den „wirklichen Thoma“ aufdecken zu können.

Skepsis ist freilich schon angebracht, wo zu diesem Zweck einzelne Handlungselemente von Thomas wohl populärsten Erzählungen – den Lausbubengeschichten und ihrer Fortsetzung, der Tante Frieda – wiederholt im Präteritum statt im Präsens nacherzählt werden, als handelte es sich dabei um realhistorische Ereignisse. Allein dieser (nicht nur stilistische) Missgriff sagt schon viel über das Literaturverständnis eines Biographen aus, der immer wieder den Eindruck erweckt, ganz genau zu wissen, was sich „exakt so“ zugetragen habe und was erstunken und erlogen sei – obwohl ihm selber nur permanent die Ebenen der Realität und der Fiktion durcheinander geraten: Während einerseits auf die Verlogenheit der Autobiographie gepocht wird, wird andererseits z. B. behauptet, Thomas Tante Friederike treffe in der Tante Frieda Aussagen über den Vater des Dichters (statt klarzustellen, dass dort lediglich eine literarische Figur spricht, die in gewissen Zügen auf die reale Tante und deren denkbare, aber keineswegs im O-Ton überlieferte Aussagen referiert). Das sind durchwegs Fehler, die man spätestens nach dem ersten Semester eines literaturwissenschaftlichen Studiums (eigentlich) nicht mehr begehen sollte. Der Durchschnitt germanistischer Proseminararbeiten argumentiert hier erfahrungsgemäß auf einem höheren Niveau als Martin A. Klaus.

Dass Thomas literarisches Werk auf vielfache Weise aus autobiographischen Quellen gespeist ist, ist zudem alles andere als eine neue Erkenntnis. Sie wäre freilich – wie etwa im Falle der Lausbubengeschichten – besser unter der Perspektive der Auto(r)fiktion zu fassen als durch das plumpe Anlegen eines biographistischen Maßstabs, wie es der Verfasser tut. Er ignoriert damit nämlich die Literarizität von Thomas Werk in seiner prinzipiellen Mehrdeutigkeit zugunsten der Freilegung einer eindeutigen Autorintention, als könnte man das heutzutage noch wie in Zeiten des seligen Positivismus leisten: Statt zu interpretieren wird bei Klaus auf Teufel komm raus entschlüsselt – und literarische Werke werden zu bloßen „Signalen“ erklärt, die der Autor an seine Mitwelt gefunkt habe. Literatur als Geheimbotschaft, „Literatur als Rache“ – wie eine ganzes Kapitel überschrieben ist, das die angeblichen Mordphantasien des Autors an seiner untreuen (Ex-)Ehefrau Marion in seinen Werken Der Wittiber und Magdalena thematisiert – oder auch Literatur als Beichte: Klaus schiebt Thomas Romanen und Bühnenstücken mit solchen Etikettierungen durchwegs eine funktionalistische Absicht unter, die dann Aussagen wie die folgende ermöglicht, in der es um Thomas letzten vollendeten, aber erst posthum veröffentlichten Bauernroman Der Ruepp geht.

Als er am 4. Januar 1921 mit der Abfassung des „Ruepp“ begann, geschah das in der Gewissheit, dass ihm keiner, der die Zusammenhänge richtig deutete, persönliche Vorhaltungen machen konnte, weil er das Erscheinen des Romans wohl nicht mehr erleben würde. Die Schuld des Vaters am Niedergang der Familie, die zerrüttete Ehe der Eltern, alles, was niemand hatte erfahren dürfen, das sollte nun jeder, wenn auch verfremdet, nachlesen können […].

In der bisherigen Forschung hat es bereits interessante und durchaus überzeugende Interpretationsversuche des Ruepp gegeben. So weist etwa Gertrud Maria Rösch in ihrer 2012 erschienene Thoma-Biographie darauf hin, dass die Handlung dieses Romans, „in dem ein Bauer den Hof durch schlechte Wirtschaft herunterbringt, ohne dass seine Angehörigen den Niedergang verhindern können“, mit Perspektive auf die verfehlte Politik Kaiser Wilhelms II. ab der Entlassung Bismarcks gelesen werden kann. An solchen Interpretationsangeboten freilich ist Martin A. Klaus nicht weiter interessiert – denn er gehört zu jenen Lesern, die „die Zusammenhänge richtig deuten“ können, um all das zu erfahren, was Thoma in seinen Erinnerungen verschweigt (selbst dann, wenn es keine weiteren biographischen Materialien gibt, die diese „richtige“ Interpretation stützen könnten).

Die biographistische Lesart dient also in erster Linie dazu, aus dem literarischen Werk Indizien für lebensgeschichtliche Fakten zu extrapolieren, auf die sich dann die psychologisierenden Annahmen des Buches stützen können – und damit kommen wir zu Punkt 2: der Unbedenklichkeit, mit der Klaus bereit ist, seine Schlüsse zu ziehen und gleichsam einen Indizienprozess um den jungen Ludwig Thoma zu inszenieren, der zunächst einmal um eine starke These kreist. Diese These, die allerdings keineswegs konjunktivisch als (durchaus diskutierbare) Möglichkeit formuliert ist, sondern sich vielmehr als Tatsachenbehauptung präsentiert, wird im dritten Kapitel der Biographie – „Kampf gegen die Mutter“ – wie folgt zur Sprache gebracht: Thoma habe ein „seine Kindheit und Jugend […] belastende[s] Trauma zu bewältigen“ gehabt, „das aus dem dringenden Wunsch der Mutter erwachsen war, er möge die Priesterlaufbahn einschlagen.“ Ihr ganzes restliches Leben lang habe Thomas Mutter nicht verschmerzen können und es ihn spüren lassen, „dass er sie um den Triumph einer Primiz betrogen hatte.“

Eine solche Bestimmung zum Priesterberuf wäre nun durchaus nichts Ungewöhnliches für die Sozialisation eines im ländlichen katholischen Milieu Altbayerns aufgewachsenen Autors wie Thoma. Es ließe sich eine ganze Reihe von Parallelbiographien von Generationsgenossen erzählen, für die dies tatsächlich zutrifft, wie etwa jene von Thomas frühem Kritiker und späteren Vertrauten und Briefpartner Josef Hofmiller, der sogar kurzzeitig das Priesterseminar besucht hatte, bevor er dann gegen den Willen der Eltern auf die Universität (und in ein Dasein als Philologe) ‚entsprungen‘ ist. Der Unterschied zwischen Hofmiller und Thoma ist nur, dass sich dieser biographische Konflikt im Falle des ersteren unzweideutig belegen lässt. Im Falle Thomas dagegen hat Bernhard Gajek in seiner eingehenden Analyse des späten Romanfragments Kaspar Lorinser den Kenntnisstand der Forschung bündig auf den Punkt gebracht, wenn er mit Rekurs auf die titelgebende Hauptfigur – die in der Tat Priester werden soll – die Frage stellt:

War der junge Thoma je in einer gleichen Situation? Auch dafür fehlen aussagekräftige Hinweise. In den Erinnerungen oder einer anderen Publikation ist nie davon die Rede, daß die konfliktreiche, mühsam durchgehaltene Gymnasialzeit auf ein Theologiestudium angelegt gewesen sei. In keinem der zahlreichen Briefe, die mit der Mutter gewechselt wurden – der Vater verstarb früh –, ist davon eine Andeutung zu finden […].

Angesichts dieser Faktenlage, die Martin A. Klaus notabene in keinster Weise durch neue Quellenfunde korrigieren kann, wird seine Behauptung von Thomas Bestimmung zum Priesterberuf geradezu zur fixen Idee, die sich nur noch durch das literarische Werk stützen lässt: Die Basis für Klaus’ Argumentation schrumpft freilich auf die Tatsache zusammen, dass außer im Kaspar Lorinser, dessen Hauptfigur gemeinhin als autobiographisches Alter Ego Thomas interpretiert wird, auch noch in zwei anderen Bauernromanen des Autors das Motiv der aufgezwungenen und abgebrochenen Priesterlaufbahn auftaucht: im Andreas Vöst von 1906 mit der Figur des Sylvester Mang und im bereits erwähnten, von Klaus als große ‚Lebensbeichte‘ Thomas gelesenen Ruepp von 1921 mit dem Schicksal des Bauernsohnes Michel Umbricht. Auch in der humoristischen Erzählung Der Heilige Hies steht der etwas verworrene Werdegang eines katholischen Priesters im Mittelpunkt, der allerdings als Spätberufener eben doch noch seine theologische Bestimmung findet, worüber sich Thoma denn auch lustig gemacht habe. Und ließe sich nicht auch die scharfe antiklerikale Polemik, die Thoma als Chefsatiriker der Zeitschrift Simplicissimus an den Tag legte – und die ihm 1906 sogar eine Haftstrafe wegen Ehrbeleidigung eines (freilich evangelischen) Pfarrers eingetragen hat –, aus seinem „ganz persönlichen Hintergrund“ heraus erklären? Martin A. Klaus stellt diese Frage als solche erst gar nicht, sondern wartet stattdessen gleich mit einer fragwürdigen Behauptung auf: „Für ihn [Thoma] bedeutete jeder schmerzende, deftige Hieb gegen Kirche und Amtsträger auch eine Bestätigung, dass er recht hatte mit seiner gegen den dringenden Wunsch der Mutter ertrotzten Weigerung, Priester zu werden.“

Um solchen aus der Luft gegriffenen Behauptungen etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, müssen am Ende sogar noch die ansonsten als lügenhaft diskreditierten Erinnerungen Ludwig Thomas als Indizienspender herhalten. Denn wenn der besagte Mutter-Sohn-Konflikt um das angeblich ausgeschlagene Theologiestudium darin auch nicht thematisiert wird, so kann das im Umkehrschluss ja nur heißen, dass er absichtsvoll verschwiegen worden ist. Spätestens hier nähert sich der Klaus’sche Argumentationsgang endgültig einer zweifelhaften Sophistik. Immerhin findet der Biograph in den Erinnerungen den Hinweis, dass der Gymnasiast Thoma während der Ferien in Prien am Chiemsee – wo seine Mutter zwischenzeitlich einen Gasthof bewirtschaftete – zusammen mit einer Reihe von Mitschülern vom Ortspfarrer zu Tisch geladen und auf seinen Studieneifer hin examiniert worden sei. Klaus schließt daraus, dass dieser Kontakt mit dem Priener Pfarrer wohl kaum erfolgt wäre, wenn der Geistliche Herr nicht auf eine weitere Laufbahn der geladenen Schüler als künftige Theologiestudenten spekuliert hätte. Darüber hinaus teilt Klaus mit der Geste souveräner Kennerschaft mit, dass die seinerzeit von Thoma besuchte Lateinschule Burghausen „eine beliebte Vorstufe“ für das Freisinger Dom-Gymnasium gewesen sei. – Bitteschön, was braucht es da noch mehr?

Nun, es bräuchte durchaus noch mehr. Etwa den Hinweis, dass die Bemerkung über die Schulen von Burghausen und Freising zwar nicht grundsätzlich falsch, aber doch nur die halbe Wahrheit ist: Korrekt wäre es vielmehr festzustellen, dass der Gymnasiast Ludwig Thoma wie zahlreiche andere nachmalige Akademiker, Beamte oder Schriftsteller seiner Zeit in Neuburg an der Donau, in Burghausen und schließlich in München am Wilhelmsgymnasium schlichtweg Schüler an drei der traditionsreichsten Eliteschulen des Königreichs Bayern gewesen ist, aus deren Besuch sich keineswegs zwangsläufig eine Priesterlaufbahn ableiten lässt. Und weiter wäre zu bemerken, dass in eben diesem Königreich Bayern zu Thomas Zeiten zumindest für das Volksschulwesen noch die geistliche Schulaufsicht gegolten hat, so dass gerade im ländlichen Raum die örtlichen Pfarrer auch von Amtswegen als maßgebliche Autoritäten in pädagogischen Fragen gelten konnten – weshalb denn auch eine Einladung, wie die von Thoma geschilderte, keineswegs alternativlos die von Klaus gezogenen Schlüsse nahelegt.

Ob diese Schlüsse vom Biographen lediglich aus Unkenntnis der historischen Gegebenheiten gezogen werden oder ob sie auf einer bewussten Ausklammerung all jener Fakten beruhen, die den eigenen Argumentationsgang ins Wanken bringen könnten, sei einmal dahin gestellt. Festzuhalten bleibt, dass der neue Thoma-Biograph nicht nur an dieser Stelle gerne bereit ist, anhand denkbar schwacher Indizien denkbar frei zu spekulieren – und diese Spekulationen immer wieder mit Nachdruck als logische Folgerungen anzubieten. Angesichts dieser Vorliebe des Verfasser wundert man sich beinahe schon darüber, dass er z. B. die eindeutig homoerotisch aufgeladene Passage, mit der Thomas Kaspar Lorinser-Fragment abbricht, nicht auch noch auf entsprechende Weise für seine Psychobiographie des Dichters herangezogen hat (denn dass wir aus den sonstigen Lebenszeugnissen Thomas keinen weiteren Anhaltspunkt für ein solches Erlebnis in der Realität erfahren, hätte für Klaus eigentlich keinen Hinderungsgrund darstellen dürfen, es trotzdem weiter auszuspinnen). Das wäre doch ein gefundenes Fressen gewesen …

Stattdessen hält der Band andere Leseerlebnisse bereit: Wie etwa aus dem mehr als kargen Tagebucheintrag der Haushälterin Viktoria Pröbstl vom 1. März 1873 – „Hr. Ob[er]f[örster] blieb oben. Ludwig hinüber getragen“ – ein messerscharfer Beweis für die Trunksucht von Ludwig Thomas Vater, des Oberförsters Max Thoma, konstruiert wird, kann den Leser ebenso in zweifelndes Erstaunen versetzen wie die Unterstellung, der Schüler Ludwig habe während seiner Ferienaufenthalte in Prien nichts von der „lieblichen Landschaft“ des Chiemgaus bemerkt. Andernfalls hätte er diese ‚Lieblichkeit‘ ja wohl über kurz oder lang auch einmal ausführlicher in seinem literarischen Werk geschildert. Da dem nach Ansicht des Verfassers leider nicht so ist, liefert der gebürtige Chiemgauer und offensichtliche Lokalpatriot Klaus, der bislang laut Klappentext vor allem als Autor „diverse[r] Wanderbücher“ hervorgetreten ist, das angeblich fehlende Landschaftslob gleich selbst nach – in schönster Tourismus-Broschüren-Prosa. Womit dann auch diese Unterlassungssünde des Herrn Thoma glücklich ausgebügelt wäre.

Klaus ist also auffallend daran interessiert, was Thoma nicht schreibt. Auch der Rezensent hat ein ähnlich gelagertes Interesse – allerdings nicht auf Ludwig Thomas Werk, sondern auf das Buch seines Biographen bezogen, womit wir bei Punkt 3 angelangt wären: der mangelnden Bereitschaft des Verfassers, Quellenbelege für seine bisweilen recht steilen Behauptungen zu erbringen. Wir begegnen diesem Mangel ausgerechnet an der Stelle, an der sich Klaus anschickt, „eines der seltsamsten Rätsel in Thomas Leben“ zu lüften. Die Rede ist von der sexuellen Beziehung des Dichters zu einer ominösen Frau „G.“, von der in Thomas Tagebuch lediglich diese Initiale überliefert ist. Wie Klaus richtig bemerkt, ist dies „der einzige Fall, bei dem er [Thoma] aus der Identität einer Geliebten oder auch nur Angebeteten ein Geheimnis machte und dieses wahrte.“ Wie es gelungen ist, ausgerechnet dieses Rätsel zu lösen, bleibt allerdings das Geheimnis des Biographen. Hier werden nicht einmal mehr Indizien mitgeteilt oder kühne Schlussfolgerungen aus den literarischen Werken gezogen: Der erstaunte Leser erhält lediglich die Auskunft, dass es sich bei „G.“ um Kathinka, die Ehefrau von Thomas nachmaligem engsten Freund Ludwig Ganghofer, gehandelt hat, was ins entworfene Charakterbild des falschen Fünfzigers Thoma immerhin bestens hinein passt. Für Klaus jedenfalls gilt es als ausgemacht, dass Thoma Ganghofer „Hörner aufgesetzt“ habe, ohne dies nach Beginn ihrer langjährigen, intensiven Freundschaft auch nur andeutungsweise gebeichtet zu haben. Das spätere Vertrauensverhältnis habe mithin auf einer Lüge gegründet – und „Lüge“ ist ja eine der beliebtesten Vokabeln in dieser Thoma-Biographie. Gerade mit der Konstatierung lügenhaften Verhaltens sollte allerdings vorsichtig sein, wer sich selbst nicht an die gängige Praxis hält, Behauptungen durch gesicherte Fakten abzustützen. Nur postulieren reicht nicht. Denn selbst in einem populären Sachbuch, das keineswegs an ein philologisches Fachpublikum adressiert ist und offenkundig nach Maßgabe des Verlages auf Fußnoten zu verzichten hat, wird man erwarten dürfen, dass der Verfasser seine Quellen ordentlich zu benennen weiß. Zumal dann, wenn dem vorsichtig gewordenen Leser biographische Aussagen als Tatsachen verkauft werden, die ohne solche Nachweise von bloßen Spekulationen nicht zu unterscheiden sind.

Die Wahrscheinlichkeit immerhin, dass es sich bei „G.“ um Kathinka Ganghofer gehandelt haben soll, hat Klaus ebenso gegen sich wie den bisherigen Forschungsstand, für den er sich aber – wir halten bei Punkt 4 – ohnehin nicht sonderlich zu interessieren scheint: Das der Biographie beigefügte achtseitige Literaturverzeichnis weist jedenfalls bezeichnende Lücken auf, die selbst für die engere Themenstellung des Buches relevante Standardwerke der jüngeren Thoma-Philologie betreffen. Dabei wird auch hier nicht recht klar, ob diese vom Verfasser bewusst verschwiegen oder schlichtweg nur vergessen worden sind (was die Sache freilich alles andere als besser machen würde). Allen an weiterführender Lektüre interessierten LeserInnen, die noch keine Thoma-ExpertInnen sind, wird damit der Zugang zu wesentlichen Forschungsbeiträgen verbaut, die bisweilen profundere Einsichten bereithalten als die Klaus’sche Biographie. Von den grundlegenden Arbeiten Bernhard Gajeks etwa führt Klaus lediglich die wertvollen Nachworte zu den philologisch revidierten Neuausgaben von Thomas Werken aus der Serie Piper auf, während die nicht minder wertvollen, aber verstreut publizierten Aufsätze desselben Autors fehlen – von der oben bereits zitierten Kaspar Lorinser-Interpretation von 2001 (die die These von der verhinderten Priesterweihe freilich nicht stützen kann) über die differenzierte, für eine ausgewogene Einschätzung des Problems unverzichtbare Auseinandersetzung mit Philosemitismus und Antisemitismus bei Thoma von 2012 bis hin zu den bereits 1993 veröffentlichten Überlegungen zur Bedeutung eines Geburtsorts unter dem Titel Oberammergau und Ludwig Thoma. Insbesondere die Kenntnisnahme der letzteren könnte den Leser zu einem etwas anders konturierten Porträt von Thomas Mutter verhelfen, als es Klaus mit der Skizze einer bigotten, den Sohn mit ihrem Priesterwunsch überfordernden Betschwester entwirft (womit er übrigens der Lebensleistung dieser Frau schwerlich gerecht wird, die nach dem Tod ihres Mannes selbstbewusst den Schritt in die wirtschaftliche Selbständigkeit gewagt hat, um als Unternehmerin im Gastwirtsgewerbe die Familie finanziell über Wasser zu halten und ihrem Sohn Ludwig den sozialen Aufstieg eines akademischen Bildungsgewinners zu ermöglichen).

Fast noch erstaunlicher als diese Lücken ist allerdings das Fehlen der beiden maßgeblichen Publikationen zu jenem Thema, das einen Großteil von Klaus’ Interesse okkupiert: Thoma und die Frauen. Die 1995 erschienene Arbeit von Eleonore Nietsch über Frau und  Gesellschaft im Werk Ludwig Thomas, die erstmals die bei Klaus nur als Marginalie erwähnte Beziehung des Autors zu der jungen Russin Anna Herzenstein aufgearbeitet hat, wird ebenso wenig genannt wie die im selben Jahr veröffentlichte und erst kürzlich unter verändertem Titel wiederaufgelegte Studie von Martha Schad – was um so mehr verwundert, als Klaus dieses Buch vor über 20 Jahren am 4. Dezember 1995 für die Süddeutsche Zeitung lobend besprochen hat. Dass er das Werk für seine eigene Biographie nicht herangezogen hat, ist mithin schwerlich anzunehmen.

Stattdessen liefert er im Literaturverzeichnis lieber eine annähernd vollständige Liste all jener Vorgängerbiographien, die sich ihrerseits mehr durch journalistische Schreibe als durch philologische Gründlichkeit auszeichnen – von Ziersch (1936) über Heinle (1963), Thumser (1966) und Haage (1975/1982) bis hin zu Ahrens (1983). Auch in dieser Reihe klafft allerdings eine auffällige Lücke, denn zwischen Ahrens und Klaus’ eigenem Buch müsste mindestens noch die 2012 erschienene, in dieser Rezension bereits mehrfach zitierte Thoma-Biographie der Heidelberger Germanistin Gertrud Maria Rösch stehen. Und das nicht nur um der bloßen Vollständigkeit willen, handelt es sich dabei doch um die einzige auch wissenschaftlich ernst zu nehmende Gesamtdarstellung über Leben und Werk des Autors, die derzeit im Buchhandel lieferbar ist – von einer ausgewiesenen Thoma-Expertin verfasst und auf der Höhe aktueller Forschung argumentierend. Auf den gerade einmal 150 Seiten des schmalen Bändchens, das in der Reihe Kleine bayerische Biografien bei Pustet erschienen ist, erhält der interessierte Leser jedenfalls zuverlässigere und tiefer fundierte Auskünfte über den Autor Ludwig Thoma in seiner Zeit als aus den genau doppelt so dicken Spekulationen von Martin A. Klaus.

Insofern ließe sich diese Besprechung auch mit einer Empfehlung schließen, um am Ende doch noch etwas Positives zu sagen: LeserInnen, die sich für Ludwig Thomas Leben und Werk interessieren, sollten besser zu Röschs Monographie greifen statt zum Buch von Klaus. Denn die Gefahr, nach der Lektüre des letzteren statt der im Untertitel genannten Darstellung eines „Erdichteten Lebens“ nur eine streckenweise erdichtete Biographie gelesen zu haben, scheint erheblich zu sein. Der kritischen Auseinandersetzung mit dem Autor Thoma – die heute nötiger scheint denn je – leistet dieses Buch jedenfalls einen Bärendienst.

Titelbild

Martin A. Klaus: Ludwig Thoma. Ein erdichtetes Leben.
dtv Verlag, München 2016.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281034

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