Ein Buch wie ein Geschoss

Georg Klein vermisst in seinem Roman „Miakro“ eine phantastische Terra incognita

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romane von Georg Klein glänzen durch Einzigartigkeit im zeitgenössischen Literaturbetrieb. Der Autor liebt es, Genres gegen den Strich zu erzählen und ihnen so die Weihe des Merkwürdigen zu verleihen. Der Roman Miakro macht da keine Ausnahme. In ihm wird eine geheimnisumwitterte, apokalyptisch aufgeladene Welt entworfen, die keinerlei didaktischen Fingerzeig verrät. Das darin heraufbeschworene Geschehen will weder Sinnbild für eine totalitäre Welt sein noch metaphorisch mit realen Zuständen verglichen werden. Es ist, wie es ist – und es funktioniert nach uns unbekannten Gesetzen und Gepflogenheiten. Solche scheinbare Absichtslosigkeit verwirrt und fasziniert zugleich. Miakro ist in dieser Form zuallererst ein ganz und gar literarisches Gebilde, das aus sprachlichem Material eine mysteriöse materielle Welt erschafft. Worte wie „Weichglas“, „Schockstock“ oder „Zeitspeckschwinden“ bilden (Roman-)Realität ab.

Darin besteht der Reiz dieses Textes. Schildert Miakro ein Eliotʼsches „Waste Land“? Eine Stalkerʼsche „Zone“ der ökologischen Verwüstung? Oder schält der Autor aus seinem Innersten Traumbilder heraus, die eine formlose, angstbehaftete Bedrohung zur Sprache bringen? Gewiss ist nur, dass diese düsteren Imaginationen eine Fülle an Bezügen zu Kunst, Film und Literatur herstellen, die während der Lektüre aufblitzen und oft gleich wieder verglühen, weil nichts ist, wie es schon einmal war.

Eingebettet in ein schwarz leuchtendes Umschlagbild – die Mikroaufnahme der Ascorbinsäure –  verbreitet bereits der Titel ein diffuses Zwielicht. In Miakro amalgamieren Mikro und Makro. Der Titel gibt somit einen Hinweis darauf, dass Georg Klein in seinem Roman gleichzeitig vergrößert und verkleinert, die Proportionen durcheinanderwirbelt und seine Erzählung mit narrativen Verwerfungen durchfurcht. Womöglich spielen darin auch biologische Miasmen eine Rolle.

Die Handlung freilich beginnt an einem sehr vertrauten und scheinbar harmlosen Ort: in einem Büro, genauer im „Mittleren Büro“. Hier arbeitet eine Gruppe von Männern an tischähnlichen Gebilden, die sich ihnen ergonomisch anpassen. Die Leitung obliegt einem gewissen Nettler, dem Guler zur Seite steht. Mit zur Gruppe gehören auch der „schöne Schiller“ und der „starke Axler“. Später kommt Blenker hinzu. Einzig Wehler ist seit einiger Zeit verschollen.

Das Tun dieses Bürotrupps erscheint mysteriös. Sie fächeln mit den Fingern in einer Flüssigglasscheibe von links nach rechts und lassen darin einen bis zu „fünf Ebenen ineinander verschmierenden Bilderfluss“ an sich vorüberziehen, den sie „zu etwas Erkenn- und unter Umständen Verwertbarem zusammenzudenken“ versuchen. In diesem Weichglas tut sich ihnen auch kund, in welchem „Nährflur“ sie ihre tägliche Verpflegung erwartet. Meist handelt es sich um Süßkartoffeln mit scharfer Chilisauce, die von den Wänden „ausgewandet“ werden, solange der Nährflur etwas hergibt. Manchmal stehen so auch Teller und Gabeln bereit. Überhaupt diese Wände! Sie scheinen zu leben. Aus ihren Furchen sind ebenfalls die Schlafkojen im Mittleren Büro entstanden, die sich gelegentlich wieder verengen und dabei auch schon mal einen Angestellten verschlucken können.

Außerhalb des Büros droht die „wilde Welt“. Eine blau gewitterblitzende Schleuse beschützt die Bürokollegen vor dem Volk, das nur aus Frauen zu bestehen scheint. Einzig in den Nährfluren kommt es gelegentlich zu Begegnungen, die durch erotische Anziehung wie durch gegenseitiges Misstrauen aufgeladen sind.

Klein beschreibt diese seltsame Lebenssphäre mit akribischer Genauigkeit bis in rhizomatische Verästelungen. Besonderes Augenmerk leiht er der seltsamen Materialität dieser beschützenden Bürowelt. Alles regt und bewegt sich in unvertrauter Weise, doch die Protagonisten fühlen sich in dieser Sphäre ganz aufgehoben und behütet. Einzig Guler hegt eine Vorstellung von einem Außerhalb, weil er einst beim „Hohen Büro“ einen Lehrgang absolviert hat. Nettler, dem Guler beistehen soll, gefällt dessen Art, „sich ungeniert einen Reim auf das zu machen, was Welt war“.

Die Dinge geraten in Bewegung, als vier der Mitarbeiter nach einem Fieberanfall Nettlers beschließen, sich auf die Suche nach dem verschollenen Wehler zu machen. Sie brechen aus ihrer eintönigen Bürowelt zu einem „Wildewelteinsatz“ auf, der sich in unbekannten Abgründen und Schlünden verliert.

An diesem Punkt setzt Klein eine Zäsur und eröffnet eine neue Perspektive. Die Erzählung gibt den Blick auf die Außenwelt frei, in der die Hundertschaft von „Hauptmann“ Blank in einer Einöde auf Beobachtungsposten steht. Unter der Führung einer Frau, Fachleutnant Xazy aus dem Hauptquartier, beobachten sie ein architektonisches „Unding“, das durch eine wuchernde Substanz in eine prekäre Schieflage gerät. Stecken Miasma ausdünstende Riesenpilze mit blauen Kappen dahinter? Näheres ist nicht bekannt, außer dass dieses Unding gegen jede Waffengewalt resistent zu sein scheint, und dass vor Tagen ein Erkundungstrupp darin spurlos verloren ging. Von Nettmann, Weller und Guhl fehlt seither jedes Lebenszeichen.

Die namentliche Analogie mit den Bürokollegen ist unübersehbar. Was ist innen und was außen? Und wie hängt das zusammen? Klein lässt seine Leser getrost im Ungewissen darüber, wie die narrativen Verrückungen zusammenhängen. Vielleicht verhält es sich wie im leuchtenden Weichglas mit seinen ineinander verschmierenden Ebenen? Indem sich gleich eines Möbiusbands Mikro und Makro, unterschiedliche Zeitkontinua und brüchige Erzählstränge überlagern, durchkreuzen und ineinander verfließen, mutet Miakro so abweisend harsch wie sanft und beständig an.

Es lässt sich unendlich vieles in diesen Roman hineinlesen. Georg Klein sorgt aber mit aller Macht dafür, dass sich solche Spekulationen am Ende nicht auflösen. Nebst der Präzision seiner Beschreibungen, deren Pingeligkeit jeglichen Realismus zugleich verstellen, sind es Ungreifbarkeiten und Ungewissheiten, die „sporensprühend“ die Leser nach der Lektüre weiter beschäftigen. Nicht vergessen werden darf der Witz und Schalk, der aller Düsternis zum Trotz in diesem Romangebilde unterschwellig wuchert. Das ingeniös konstruierte Geschehen reizt nicht selten auch zum Lachen.

Doch wie damit umgehen? Im Kopf der Naturkontrollagentin Xazy wächst vielleicht eine rettende Einsicht: „Ab und an ist die Wucht des Fremden so groß, dass es den Panzer des Nichtverstehenmögens wie ein Geschoss durchschlägt und das Begreifen erzwingt“, spricht sie zu Hauptmann Blank mit Blick auf das Unding.

Miakro ist ein schräges, geheimnisvolles, erratisches und radikales Buch. Es steckt voller wunderlicher Erfindungen auf inhaltlicher wie auf sprachlicher Ebene. Georg Klein gibt sich darin ebenso als Apokalyptiker wie als Romantiker aus. Auf letzteren verweist ein Zitat im Vorspann, das von Clemens Brentano stammt: „Aber der Mensch ist so enge in sich selbst gefangen, dass er sich meistens selbst verzehrt, wo er die Welt verzehren sollte.“

In Brentanos Godwi-Roman geht dem Zitat eine Passage voraus, die der Ermahnung eine idealistische Vorstellung entgegenhält: „‚Jeder Mensch‘, sagte Godwi, ‚der in sich selbst groß werden will, sollte in sich den Stoff und den Geist auffinden […] in ihm läge ein Universum, und er könnte sich lieben und anbeten.‘“

Titelbild

Georg Klein: Miakro. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498034108

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