Durch den Seiteneingang

Ruth Klügers Gedichtinterpretationen zeigen das Potenzial der ganzen Gattung

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedichte abzudrucken und zu interpretieren klingt zunächst nach einer etwas trockenen literaturwissenschaftlichen Fingerübung, die kaum bei einem breiteren Publikum Interesse zu wecken vermag. Dass es sich um Beiträge aus der Frankfurter Anthologie handelt, ändert daran nicht zwangsläufig etwas. Zwar hat es sich die 1974 von Marcel Reich-Ranicki gegründete Reihe auf die Fahnen geschrieben, Lyrik unakademisch und in gebotener Kürze einem literaturaffinen, aber eben nicht professionellen Rezipientenkreis näherzubringen, die tatsächliche Zugänglichkeit divergiert aber doch deutlich. Manch einem geht da etwas selbstverliebt die Feder durch und man erfährt zwischen den Zeilen mehr über das Geltungsbewusstsein des Interpreten als über das Gedicht. Das wirkt dann eher abschreckend. Aber dann gibt es ja noch die anderen, die sich selbst zurücknehmen und ihre Begeisterung für den Text sprechen lassen. Zu ihnen gehört Ruth Klüger.

„Ein Gedicht ist entweder ein Rätsel oder ein Geheimnis“, schreibt Klüger in ihrem Vorwort. Mitunter ein Rätsel mit so vielen Lösungen wie Rezipienten und Rezipientinnen. Das führt zum Paradoxon, dass Lyrik zugleich zugänglicher und unzugänglicher ist als Prosa: Zugänglicher, weil jeder auf magische Weise im Verrätselten individuell Sinn generiert wie in einem Kaleidoskop, das, je nachdem wie man es dreht und wendet, ein immer unterschiedlich funkelndes Bild bietet; unzugänglicher, weil die inhärente Polyvalenz es schwieriger gestaltet, sich über „den Sinn“ zu einigen. Diesen Widerstand bezeichnet Klüger als „Gegenwind zum Gedicht selbst“, auf dessen Boden fruchtbare Kommentare entstehen. Prosa wird das Mittel eines begleitenden Diskurses. Genau ein solches Wechselspiel zwischen Gedicht und Prosa, zwischen Immanenz und Transzendent, exerziert Klüger seit Jahrzehnten unter anderem  als Autorin für die Frankfurter Anthologie. Die von ihr ausgewählten Gedichte und Interpretationen, die zwischen 2006 und 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen, liegen nun gesammelt als Buch vor. Der Titel Gegenwind zeigt, worauf Klügers Augenmerk liegt.

Zwischen den zwei Ebenen der primären Textproduktion und der sekundären Interpretation wird eine dritte Ebene eingezogen, jene des Übersetzens nämlich, und das ist keine unwesentliche, begegnen wir hier doch mit Ruth Klüger einer äußerst kreativen und genauen Übersetzerin, die spürbar einen ersten, weit über ein im reinen Übertragen limitierten Übersetzungsverständnis hinausgehenden Interpretationsakt leistet. Diese Vielseitigkeit ist kennzeichnend für Ruth Klüger gesamtes Schaffen, changierend zwischen Literatur, Kritik, Wissenschaft und eben auch Übersetzung. Immer treffen wir zugleich auf die reflektierende Interpretin, am schönsten zeigt sich das in ihrem letzten von ihr selbst kommentierten Gedichtband Zerreißproben.

Natürlich birgt die Eigeninterpretation immer die Gefahr, in eine doktrinäre Schiller’sche Leseanweisung zu verfallen, aus der die Angst des Autors spricht, sein Werk der Verantwortung des Lesers zu überantworten. Darum geht es Klüger mitnichten, weder in der Eigen- noch in der Fremdinterpretation. Klüger ist eine aufmerksame, sehr genaue und eigenwillige Interpretin. Sie will Räume schaffen, statt sie zu verengen. Ist es auch nicht die Aufgabe des Interpreten, die Leser zu schulen, gelingt Klüger mit ihrem unprätentiösen Stil doch genau das: Sie lenkt den Blick auf Details, die andere übersehen, legt Wert auf feine Nuancen und verliert dennoch nicht das Gesamtbild aus dem Auge. Wäre ein Gedicht ein Haus, Klüger würde es nicht über die Vordertür betreten, sondern über den Seiteneingang, vielleicht würde sie gar beim Fenster reinklettern. Auf engstem Raum schafft sie es, die Funktionsmechanismen der Texte herauszuarbeiten, zu zeigen, wie Form und Sprache ineinandergreifen, aber auch die Lebens- und häufig auch Leidensumstände der Verfasser miteinzubeziehen. Das verwundert nicht, gab die lyrische Sprache, der ihr eingeschriebene Charakter der Memorier- und Rezitierbarkeit, Klüger doch die Kraft, unfassbare Grausamkeit zu überstehen, was sie eindrucksvoll in ihrer Autobiographie weiter leben beschreibt.

Die Gedichtauswahl ist bestechend. Wüsste man nicht, dass die Gedichte und ihre Interpretation zuvor getrennt voneinander über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren in der FAS erschienen sind, müsste man sich vom Feingefühl der Auswahl und Organisation beeindruckt zeigen. So zeigt sich in jeder Gedichtauswahl und in jeder Interpretation Klügers geistige und soziale Herkunft, ihre Lebensthemen, ihr gesellschaftspolitisches Engagement. Das Diktum „Sag mir, was du liest und ich sag dir, wer du bist“ hat einen wahren Kern. Entscheidend ist aber nicht zwangsläufig, was jemand liest, sondern wie er es liest.

Zwölf deutschsprachige und neun englischsprachige Gedichte wurden ausgewählt. Auf den ersten Blick eine sehr divergente Auswahl, mit wenig Gemeinsamkeiten, der Romantiker Adelbert von Chamisso findet sich dort genauso wie der Wiener Kabarettist und Liedermacher Georg Kreisler oder die US-amerikanische feministische Dichterin Adrienne Rich. In Bezug auf die Frage nach den Kriterien ihrer Textauswahl schreibt Klüger:

Die Antwort ist, ich suche sie gar nicht aus, sondern sie sind mir sozusagen zugelaufen wie streunende Katzen, aus einer ganzen Menagerie von Versen, die mir im Kopf spuken oder mich aus Büchern, Lieder oder dem mündlichen Gemeingut anspringen, wie etwa die von Emma Lazarus auf der Freiheitsstatue verewigten Verse, oder sogar aus der Zeitung, wie Jane Hirshfields Aufruf zum Kampf gegen Klimawandel und die Verschmutzung unseres Planeten.

Das macht es zu einem sehr persönlichen, fast schon biografischen Buch. Die streunenden Katzen, derer Klüger sich fürsorglich annimmt, sind fast alle Außenseiter, Verfolgte und Misshandelte. Klüger interessiert, wie solche Entfremdungserfahrungen, Traumata, wie tabuisierte und scheinbar nicht in Poesie zu übersetzende Themen wie Missbrauch und Abtreibung eben doch versprachlicht werden. Sie weist auf Chamissos Außenseiterschicksal und sein Schreiben in einer Fremdsprache hin, führt an Kreislers Die Hexe vor, wie Hass und Gewalt gegen das Fremde sich einen Weg bahnt, zeigt welchen Wert ein eigentlich schlechtes Gedicht von Hermann Hesse dennoch hat, ruft mit Emma Lazarus die Frau in Erinnerung, die für die Worte auf der Freiheitsstatue verantwortlich zeichnet, die jedes Kind rezitieren kann, ohne zu wissen, von wem sie stammen, und begleitet die Erzählerin in Anne Sextons The Abortion auf ihrem Weg zur Abtreibung. Poesie, so kann man schließen, ist für Klüger untrennbar mit Humanismus verbunden. Eine ihrer Interpretationen schließt sie mit einem Zitat von Adrienne Rich:

Es war immer so, dass Dichtung unsere Isolation durchbrechen kann, uns zeigen kann, wer wir sind, auch wenn man uns ausgrenzt und unsichtbar gemacht hat. Sie kann uns an Schönheit erinnern, wo Schönheit unmöglich schien, und an Gemeinschaft, wenn alles nur auf Vereinzelung hinweist.

Ruth Klüger hat diese Kraft der Dichtung am eigenen Leib erfahren und gibt sie auf beeindruckende Art und Weise weiter.

Titelbild

Ruth Klüger: Gegenwind. Gedichte und Interpretationen.
Deuticke Verlag, Wien 2018.
117 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058828

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