Dialog über den Mythos unter Freunden

Michael Köhlmeiers und Konrad Paul Liessmanns „Mythologisch-philosophische Verführungen“: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bis, Adam?“

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Institution des Philosophicums Lech, das seit 1996 im Frühherbst jeden Jahres stattfindet, hat der Schriftsteller und Mythenforscher Michael Köhlmeier in seinem Wohnort Vorarlberg am Lech mit seinem Freund, dem Philosophen Konrad Paul Liessmann, eine Form des philosophischen Austausches gewonnen, die ganz der Frage nach der Lebensrelevanz von Gedanken im Gespräch gewidmet ist. Seit Beginn liegen die Vorträge im Frühjahr des jeweils folgenden Jahres gedruckt vor, allerdings ohne die Initiation in Form eines Gespräches zwischen dem Mythen-Erzähler Köhlmeier und dem philosophiegeschichtlichen Deuter Liessmann.

Dieses Setting inspirierte auch die dialogische Form der Laudatio bei der Verleihung des Walter-Hasenclever-Literaturpreises der Stadt Aachen an Michael Köhlmeier im November 2014. Begleitet wurde der Preisträger neben seinem Freund und Laudator von der Marketing-Leiterin des Hanser Verlages, Felicitas Feilhauer. Leider wurde die Dialog-Laudatio in Aachen nicht aufgezeichnet, im Unterschied zu den Gesprächen beim Philosophicum Lech, die der ORF unter dem Titel „Erzählen und Denken. Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann im Dialog über Staat, Schönheit und Geld“ als 3-teilige CD-Edition (2011) veröffentlicht hat. Die Dialog-Laudatio hätte neben den bereits veröffentlichten Tondokumenten des Philosophicums Lech ihren ihr wohl zustehenden Platz gefunden.

Der ununterbrochene Dialog der Freunde begeisterte die gesamte Festgesellschaft in Aachen über zwei Tage bei allen Gelegenheiten des Zusammenseins. Sollte hier die Widmung des Bandes,  „Für Felicitas Feilhauer, ohne die es dieses Buch nicht gäbe“, grundgelegt sein? Ist dieser Sammelband die vermisste Dokumentation in schriftlicher, literarisch und essayistisch ausgestalteter Form? Die ORF-CDs beziehen sich auf die Tagungen zum „Geld“ (2008) mit den Gestalten Midas und Judas, „Vom Zauber des Schönen. Reiz, Begehren und Zerstörung“ (2009) mit Adonis und Helena, aber auch den biblischen Gestalten Sara, Eva und Adam, sowie zum „Staat“ (2010) mit Europa und Aeneas.

Der vorliegende Band wird von zwölf Schlüsselbegriffen als Überschriften gegliedert, denen jeweils ein Untertitel zugeordnet ist: „Neugier. Das Paradies“, „Arbeit. Daidalos“, „Gewalt. Die Traurige“, „Rache. Die Atriden“, „Lust. Der heilige Ägidius“, „Geheimnis. Der Mond“, „Ich. Sebastian Inwendig“, „Schönheit. Marsyas“, „Meisterschaft. Siegfried und Mime“, „Macht. Hiob“, „Grenze. Asklepios“ und „Schicksal. Judas“. In überaus kunstvoller Weise leitet die philosophische Deutung jeweils eine Erzählformel ein, die den Untertitel des Bandes aufnimmt („Mythologisch-philosophische Verführungen“), und in der zwölffachen Wiederholung selbst magisch zum Philosophieren über den Mythos einlädt: „Nichts ist so verführerisch“ – „wie die Verführung“, „wie die Aussicht, die Natur zu überlisten“, „wie die Tränen einer schönen Frau“, „wie der Hass“, „wie der Körper“, „wie das, was ein anderer vor uns verbergen will“, „wie der Blick auf sein Selbst“, „wie die Vollkommenheit“, „wie der Anblick von Souveränität“, „wie eine Wette auf die Zukunft“, „wie das Versprechen der Unsterblichkeit“, „wie das Geld“.

Diese Kapitel können, so ist zu vermuten, den einzelnen Tagungen zugeordnet werden, in jedem Fall „Schönheit“, der Kernbegriff der Kunst, der auch bei der Aachener Dialog-Laudatio im Mittelpunkt stand. Dieses Kapitel zeigt exemplarisch die im Mythos entfaltete Dialektik zweier Lebenseinstellungen, hier, ausgehend von den Künstlertypen Apoll mit der Lyra und Marsyas mit dem Aulos, das, was seit Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche „das Apollinische“ und „das Dionysische“ genannt wird. Für die in Wien ansässigen Autoren ist der Marsyas-Mythos durch die Skulptur von Alfred Hrdlicka seit 1988 im Stadtbild präsent. Trotz Apolls Sieg im Mythos bleibt die Ambivalenz von Lust und Leid als Kern des Kunstschaffens bestehen, sodass die schon von Friedrich Hölderlin im Leben und Werk beschriebene janusköpfige Dialektik der beiden Gottheiten manifest wird. Das Wahre liegt immer dazwischen – hier in der Bruderschaft der Gegensätze. In Platons Dialog „Symposion“ vergleicht Alkibiades Sokrates mit Marsyas, der als sich ständig selbst Häutender auch die Häutung seiner Gesprächspartner in schonungsloser Zuwendung zur Wahrheit induziert. Einen solchen Dialog gleichsam eines gedoppelten Sokrates bietet der Leserschaft dieser Band, aber wir dürfen umso intensiver weiterleben, je mehr wir von der das Leben in seiner Dialektik klärenden Schönheit der Kunst begreifen. Diese ästhetisch-existentielle Aufeinanderbezogenheit von Lust und Leid strukturiert auch den zuerst behandelten Ur-Mythos vom Sündenfall zwischen Adam und Eva, der mit Kierkegaard als „felix culpa“ die Paradoxie der Freiheit verkörpert. Es ist immer wieder eine Freude, den Genesis-Mythos so verstehen zu können. Beim zweiten Mythos zeigt Liessmann neben seinem Kierkegaard-Expertentum seine Kenntnisse des Kritikers der technologischen Zivilisation Günther Anders und analysiert mit Hannah Arendt, Andersʼ erster Frau, Daidalosʼ Schaffen zwischen Arbeiten im Schweiße des Angesichts (ponos) und Herstellen im Sinne von handwerklicher Kunstfertigkeit (poiesis), sodann sein tragisches Scheitern als Manko der dritten Tätigkeitsform nach Arendts‘ Trias, dem sozialen Handeln (praxis).

In der dritten Geschichte wird expliziert, wie das Erwecken von Mitleid als Form der Gewalttätigkeit und damit des Bösen eingesetzt wird, als Macht der Ohnmächtigen, eine psychologische Differenzierung im Anschluss an Nietzsche, die auch Köhlmeiers Flüchtlings-Novelle „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ bestimmt. In diesen drei ersten Mythen-Darstellungen und -Deutungen liegt eine besondere Überzeugungskraft. Die dritte ist aktuell und unter stetem Rückbezug auf die Novelle Köhlmeiers, die parallel gelesen werden sollte, besonders eindringlich. In der Deutung der beiden folgenden Mythen werden Familienrache und Masochismus als Lebensprojekte durchgespielt. Das nächste Paar beschwört die Bedeutung des Geheimnisses und des Zaubers als Kennzeichen von Kunst, die nach Nietzsche vor der Wahrheit schützt. Es folgen sehr bekannte Geschichten: die Siegfried-Sage und die biblische Hiob-Geschichte, eher im Allgemeinen gehalten. Abschließend geht es um die Aporien von Sterblichkeit und Unsterblichkeit sowie von Freiheit und Notwendigkeit.

Ob die bildhaften Mythen – sei es der Bibel oder der Antike oder der Tradition der Märchen – von Begriffen her erschlossen werden sollen, ist eine Frage. Dass der Dialog zu inspirieren vermag, ist in diesem Band überzeugend vermittelt. Wir dürfen bei dieser Textvorlage lesen und können gleichzeitig zuhören!

Was sind jetzt „mythologisch-philosophische Verführungen“, darf abschließend gefragt werden? Eine neue Gattung? Dürfen wir mehr erwarten? Köhlmeier sprach mit seinem Freund Raoul Schrott auf der LitCologne 2015 in der Kölner Kulturkirche unter dem publikumswirksamen Titel „Sex and crime“ über griechische Götter und die Bedeutung der Mythen heute, Geschichten für Menschen zum Wiedererkennen der Paradoxien des Lebens. Kierkegaard erstellte 1841 Vorlesungsmitschriften zu Friedrich Wilhelm Joseph Schellings „Philosophie der Mythologie“, die dieser gegen Hegel hielt, und entfaltete anschließend in seinem Hauptwerk „Entweder – Oder“ (1843) die Dialektik der ästhetischen und der ethischen Lebensweisen. Für den Kierkegaard-Interpreten Liessmann ist es ein Leichtes, deutend auf den Beginn von „Entweder ˗ Oder“ zu verweisen, wo Kierkegaard die vom Satiriker Lukian geschilderte Anekdote („Der erste und der zweite Phalaris“) über die Schreie von ‚im ehernen Ochsen des Phalaris langsam bei gelindem Feuer gepeinigten‘ Gefangenen wiedergibt, die dem Tyrannen, der sie so leiden ließ, „wie eine süße Musik“ klangen; ein heilloses Kunststück als Opfergabe, Kunst geboren aus Schmerz. Die Deutungen der Mythologie sind eben nicht einfach Aufklärung aus dem Geiste beruhigender Vernunft, sondern Verführungen, sich auf unbequeme Doppeldeutigkeiten und Widersprüche einzulassen. Indem sie kunstvoll – scheinbar von leichter Hand – erzählt und nicht erklärt werden, können sie verkraftet, ausgehalten werden, im Schmerz über die Unvollkommenheit der Welt. Also: Wozu braucht diese Lebensphilosophie oder existentiale Philosophie Mythologie? Ist letztere nicht die Werte konstituierende große Erzählung, die Erinnerung an die kulturell verbindenden und deshalb verbindlichen Ursprünge, die heute so sehr gesucht wird? Etwas, das kaum noch als Bildungsgut bekannt ist und deshalb wie neu und spannend wirkt? Gerade dadurch ist es die eine innovative und initiative Verführung zur sokratisch-philosophischen Bildung. Durch diesen Band dürfen wir zur Festgesellschaft des „Symposions“ gehören, am Wettstreit des literarisch-mythologischen und des essayistisch-philosophischen Redens über das Leben und die Kunst teilhaben und, getrieben durch den hier erscheinenden Eros, uns nach mehr davon sehnen.

Titelbild

Michael Köhlmeier / Konrad Paul Liessmann: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252882

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