Ein eindringliches und dem Leben abgerungenes Werk

Zum 100. Geburtstag von Carson McCullers

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich glaube, mein eigentliches Thema ist das der seelischen Isolation. Jedenfalls habe ich mich immer allein gefühlt“, schreibt die amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers (1917–1967). Und tatsächlich zieht sich das tragisch akzentuierte Thema der Einsamkeit als Leitmotiv durch all ihre Romane und Kurzgeschichten. In ihren Werken gestaltete sie psychologische Situationen von meist körperlich behinderten Menschen oder Außenseitern der Gesellschaft.

Carson McCullers wurde als Lula Carson Smith am 19. Februar 1917 in Columbus/Georgia geboren. Ihr Vater Lamar Smith war Uhrmacher und Besitzer eines Juweliergeschäfts. Das frühreife Kind wuchs behütet auf und besuchte die öffentlichen Schulen in Columbus. Ihre Mutter Vera Marguerite war der Überzeugung, ihre Tochter sei zu Großem geboren. Mit fünf Jahren spielte sie bereits Klavier und wurde später von renommierten Klavierlehrern unterrichtet. Ihr großer Traum war die Laufbahn einer Konzertpianistin. Mit 14 Jahren bekam sie von ihrem Vater eine Schreibmaschine geschenkt, was ihr Interesse für Bücher und das Schreiben weckte.

Nachdem die 17-jährige Carson 1934 die Columbus High School absolviert hatte, reiste sie mit dem Schiff nach New York, um an der Juilliard School of Music Klavier zu studieren. Da sie das Geld, das ihr die Familie für das Studium mitgegeben hatte, verloren hatte, musste sie mit Nebenjobs als Kellnerin, Barpianistin oder Lektorin für Comic-Magazine ihren Lebensunterhalt verdienen. Die geplante Karriere als Pianistin hatte sie längst an den Nagel gehängt, vielmehr besuchte sie Abendkurse in Creative Writing. Auf Vermittlung der Kursleiterin erschien ihre erste Kurzgeschichte Wunderkind im Dezember 1936 in der Avantgarde-Zeitschrift „story“. Die autobiografisch gefärbte Geschichte ist ein einfühlsames Porträt eines 15-jährigen musikalischen Wunderkindes, das schließlich erkennen muss, dass ihr Talent nicht ausreicht.

1936 lernte Carson den Unteroffizier und Bankangestellten Reeves McCullers kennen, der für sie „ein Schock reinster Schönheit war“. Zum ersten Rendezvous brachte er ihr keine Blumen mit, sondern Zigaretten und Bier. Sie war damals schon – und blieb es ihr ganzes Leben lang – eine starke Raucherin und Trinkerin. Ein Jahr später heirateten die beiden und zogen nach North Carolina, wo der Ehemann einen Job bei einer Kreditvermittlung fand. Da auch Reeves schriftstellerische Ambitionen hatte, schlossen sie einen Pakt: Jeder sollte sich ein Jahr lang dem Schreiben widmen können, während der andere in dieser Zeit für den Lebensunterhalt sorgte. Danach sollten die Rollen getauscht werden.

Carson begann mit der Arbeit an ihrem Debütroman The Mute (dt. Der Stumme), der 1940 auf Drängen des Verlages unter dem melancholischen Titel The Heart Is a Lonely Hunter (dt. Das Herz ist ein einsamer Jäger) erschien. Ein Titel, der noch heute ein geflügeltes Wort ist. Der gefühlvolle, aber keineswegs sentimentale Roman wurde auf Anhieb ein Erfolg und machte die 23-Jährige mit einem Schlag bekannt und ließ sie zum Liebling der literarischen Szene New Yorks werden. Gleich mit dem ersten Satz „Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man stets beisammen sah“ führte McCullers in die Welt von einsamen Sonderlingen und Außenseitern ein. Der Roman spielt Ende der 1930er-Jahre in einer Kleinstadt im amerikanischen Süden, wo vier unterschiedliche Charaktere sich dem taubstummen Juden Mr. Singer anvertrauen, der ihre Sorgen und Probleme von den Lippen abliest und ihnen Trost spendet. Dabei ist dieser würdevolle, stets lächelnde Mann selbst ein Einsamer, der erfüllt ist von der Liebe zu einem ebenfalls taubstummen Griechen. Als dieser in einer psychiatrischen Klinik stirbt, erschießt sich Singer.

Das Herz ist ein einsamer Jäger begründete in den 1940er-Jahren eine neue literarische Strömung, die als symbolischer Realismus auch später zunehmend an Bedeutung gewann. Die erste deutsche Übersetzung von Karl Heinrich erschien 1950 in Ost-Berlin, der jedoch bald eine weitere Übertragung von Susanna Rademacher folgte, die bis heute in den deutschsprachigen Ausgaben Verwendung findet. Das Magazin „Time“ zählte den Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden.

Mit dem phänomenalen Debüt erreichte aber auch ihre Ehe einen Tiefpunkt. Im Gegensatz zu seiner erfolgreichen Frau hatte Reeves keine einzige Zeile zustande gebracht. Nach ständigen Streitereien, Gewaltausbrüchen und Unterschriftsfälschungen kam es 1941 zur ersten Scheidung. Zuvor war Carson in die New Yorker Künstlerkolonie February House umgesiedelt, wo sie jedoch bald ihren ersten Schlaganfall erlitt – und das mit 24 Jahren. Ihre äußerst zerbrechliche Gesundheit (darunter Rheuma, Sehstörungen und teilweise Lähmungen) sollte bis zu ihrem frühen Tod ein ständiger Begleiter sein. Hinzu kamen Partys, Alkoholexzesse und später auch Drogen. Trotzdem begann jetzt die produktivste Zeit ihrer schriftstellerischen Karriere, wobei sie sich zum Schreiben oft monatelang bei ihren Eltern in den Südstaaten aufhielt.

Bereits 1941 erschien ihr zweiter Roman Reflections in a Golden Eye (dt. Spiegelbild im goldnen Auge), der jedoch von der Kritik mit deutlich weniger Begeisterung aufgenommen wurde. McCullers warf man vor, „ein ungesundes Interesse an grotesken Charakteren und Situationen zu zeigen.“ Schauplatz ist ein Militärcamp in einem verlassenen Südstaatennest, wo zwei Offiziersfamilien in zwischenmenschliche Verstrickungen geraten, die schließlich mit dramatischem Ausgang enden. Es ist ein Roman ohne große Dialoge, dafür voller Reflektionen und „Spiegelbilder“.

Danach begann Carson McCullers mit der Arbeit an zwei Romanprojekten: The Member of the Wedding (später nur als Frankie bekannt) und The Ballad of the Sad Cafe (dt. „Die Ballade vom traurigen Café). In Frankie, ihrem wohl autobiografischsten Roman, der 1946 erschien, schildert sie die Geschichte eines Reifeprozesses. Die pubertäre Frankie Addams entdeckt die Welt und will am Leben der Erwachsenen teilhaben. Als ihr geliebter Bruder Jarvis von seiner Braut nach der Hochzeit gewissermaßen ‚entführt‘ wird, hallt Frankies Ruf „Nehmt mich mit!“ ungehört dem abreisenden Paar nach. Die amerikanischen Leser schlossen die lebenshungrige und alleingelassene Romanheldin in ihr Herz. „Carson McCullers erkundete das menschliche Herz“, schwärmte Tennessee Williams, auf dessen Anregung McCullers den Roman für die Bühne adaptierte. Die Bühnenfassung (dt. Mit von der Partie) feierte 1950/51 am Broadway große Erfolge und wurde mit dem Critic’s Circle Award sowie dem Donaldson Award ausgezeichnet.

In Buchform erschien 1951 die Novelle Die Ballade vom traurigen Café, eine schwermütige Geschichte über die merkwürdige Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei Männern. Die körperlichen und seelischen Verkrüppelungen der Protagonisten korrespondieren dabei mit der trostlosen Atmosphäre eines morbiden Südstaatenkaffs.

Bereits knapp zwei Jahre nach der Scheidung kam es zwischen Carson und Reeves zur Versöhnung. Reeves wurde jedoch im Zuge des Zweiten Weltkrieges nach Europa verschifft, wo er an der Invasion in der Normandie teilnahm und dabei verwundet wurde. Als Reeves im Februar 1945 wieder in New York eintraf, heirateten die beiden einen Monat später ein zweites Mal. 1946/47 reisten sie gemeinsam für einige Monate nach Europa, wo Carson in Paris zwei schwere Schlaganfälle erlitt und mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Auch später weilten die beiden noch mehrmals in Europa, doch bei einer dieser Reisen beging Reeves am 18. November 1953 in einem Pariser Hotel Selbstmord.

Obwohl Carson McCullers ab 1946 halbseitig gelähmt war und sich Mitte der 1960er-Jahre mehreren Operationen unterzog, war sie auch in ihren letzten Lebensjahren schriftstellerisch äußerst produktiv. Es entstanden zahlreiche Kurzgeschichten sowie der Roman Clock Without Hands (dt. Uhr ohne Zeiger, 1961), den sie nur mühsam mit einer Hand in die Schreibmaschine tippte. Im Mittelpunkt des um das Todesthema kreisenden Romans steht der an Leukämie erkrankte Apotheker J.T. Malone, dessen kümmerliche Existenz mit den Schicksalen von vier Menschen verwebt wird. Ihre Lebenswege berühren sich oft nur zufällig und gewähren dem Leser nicht nur einen Einblick in das Räderwerk einer südamerikanischen Kleinstadt, sondern auch in das Innenleben der Schriftstellerin. Siegfried Lenz schrieb im Nachwort zur deutschen Ausgabe: „Carson McCullers hat in ihrem letzten Roman versucht, den Tod gewissermaßen zu einer eigenen Angelegenheit zu machen, zu einer Wirklichkeit, die uns persönlich betrifft, zu einem unabwendbaren Vorgang, der für den einzelnen allgegenwärtig ist und zu einer übergreifenden Wahrheit wird, in der er sich wiederfindet.“

Im Februar 1967 feierte McCullers noch ihren 50. Geburtstag mit einem Aufenthalt im Plaza Hotel in New York. Außerdem hatte sie begonnen, ihrer langjährigen Freundin Ida Reeder das Manuskript ihrer Autobiografie mit dem Titel Illumination and Night Glare zu diktieren. Im August erlitt sie jedoch einen weiteren schweren Schlaganfall und lag knapp 50 Tage im Koma. Am 29. September 1967 starb Carson McCullers im Krankenhaus von Nyack /New York und wurde einige Tage später auf dem Oak Hill Cemetery beigesetzt.

Das erzählerische Werk, das Carson McCullers hinterließ, ist vom Umfang her gesehen relativ schmal, aber gewichtig und wegweisend. Ihr Erzählstil ist einfühlsam und berührend, gleichzeitig aber auch kühl und distanziert, eine eher leidenschaftslose Prosa, die es aber wunderbar versteht, Atmosphäre zu schaffen. Daher wurde McCullers oft mit Anton Tschechow, dem Meister des Unausgesprochen, verglichen. Ihr Leben steht für eine Leidensgeschichte – es war geprägt von frühem Ruhm, tragischen Konflikten, persönlichen Beziehungsproblemen und schwerer Krankheit. In ihren Romanen und Erzählungen setzte sie der südstaatlichen Kleinstadt, der sie in jungen Jahren entflohen war, ein literarisches Denkmal. Neben menschlicher Einsamkeit und Isolierung klingen auch immer wieder gesellschaftliche Themen wie Frauenfeindlichkeit und Rassendiskriminierung an. Später wurden die meisten ihrer Werke erfolgreich verfilmt. Das Jubiläumsjahr 2017 gibt nun die Gelegenheit, ihr Werk neu zu entdecken.

Bereits seit den 1960er-Jahren macht sich im deutschsprachigen Raum besonders der Diogenes Verlag um das Werk von Carson McCullers verdient, darunter ihre vier Romane in einer Kassette und die Autobiographie – Illumination and Night Glare (beide 2011). Anlässlich ihres 100. Geburtstags ist im Verlag Ebersbach & Simon mit Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers eine Biografie von Barbara Landes erschienen, die in Romanform das Spannungsfeld zwischen Literatur und Leben detailliert und intensiv beleuchtet.

Titelbild

Carson McCullers: Die Autobiographie. Illumination and Night Glare.
Herausgegeben von Carlos L. Dews.
Diogenes Verlag, Zürich 2011.
384 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783257241648

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Barbara Landes: Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers. Roman.
ebersbach & simon, Berlin 2016.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783869151311

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