Seltsamkeiten von Snæfellsnes

Halldór Laxness‘ „Am Gletscher“ ist heute noch genauso absurd und wahr wie vor fast 50 Jahren

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schaut man in Reykjavík an einem klaren Tag Richtung Nordwesten, kann man die Snæfellsnes-Halbinsel mit ihrem gleichnamigen Gletscher erkennen, der wie eine Insel aus Glas über dem Wasser zu schweben scheint. Hier auf dieser Halbinsel, an der Grenze zu den nordwestlichen Landesteilen, die wie gichtige Finger in den Nordatlantik ragen, spielt Halldór Laxness‘ Am Gletscher. Ein weiterer Titel aus dem umfangreichen Werk des isländischen Nobelpreisträgers, den der Steidl Verlag in gewohnter Aufmachung mit grünem Leineneinband und Bild auf dem Cover veröffentlicht und damit der deutschsprachigen Leserschaft erneut zugänglich macht, nachdem die letzte Auflage aus dem Verlag mehr als 25 Jahre alt ist.

Auch diese neue Ausgabe basiert auf der Übersetzung von Bruno Kress. Am Gletscher, im Original Kristnihald undir jökli, gehört eher zum letzten Drittel des umfangreichen Werkes des Isländers und ist bereits 1974, sechs Jahre nach seiner Veröffentlichung, übersetzt worden. Gewohnt launig und absurd präsentiert sich Am Gletscher: Aus Anspielungen auf Weltreligionen, isländische (und andere) Literaturklassiker, wirtschaftliche Begebenheiten und internationalen Verwicklungen mischt Halldór ein wahres Potpourri zusammen, zugleich scheint der Roman, der eigentlich vielmehr ein Bericht ist, doch Islands ‚Eigenarten‘ zu betonen – vielleicht auch gerade deshalb, weil einige Figuren sehr stur darauf beharren, dass sie doch schließlich Isländer seien.

Am Gletscher berichtet von Vebi, dem Vertreter des Bischofs, der zur Gemeinde am Snæfellsjökull geschickt wird, um dort merkwürdigen Berichten auf den Grund zu gehen. So soll die Kirche versiegelt und halb verfallen und der Pfarrer Sira Jon Primus die meiste Zeit abwesend sein, um Pferde zu beschlagen oder Haushaltsgeräte zu reparieren. Zu allem Überfluss erweist sich die Pfarrersfrau mehr als Spukgestalt denn als Stütze der Kirchengemeinde, und Gottesdienste oder Beerdigungen werden nicht mehr abgehalten. Kurz: Das Christentum am Gletscher ist in arger Gefahr und der Bischof in Sorge, weshalb er den jungen Vebi entsendet, der in einer teilweise sich selbst verleugnenden und pedantischen Art zwischen erster und dritter Person wechselnd von den Vorkommnissen am Gletscher berichtet – ohne jemals die Sympathie der Leser zu verlieren.

Dabei wird besonders eines klar: Mit bischöflichem Christentum hat die Gemeinde am Gletscher nicht mehr viel gemein, aber das muss nicht heißen, dass der Pfarrer mit seinem Geschick beim Pferdebeschlagen und Reparieren kein großer Menschenfreund sei oder die Nächstenliebe darunter besonders leiden würde. Alles gute Christen also; seltsam nur, dass auch drei wiedererweckte Hirten, ein Grossist, der zugleich Angler ist, und ein Lachs eine große Rolle zu spielen scheinen und dass die Haushälterin des Pfarrers, dessen Frau sich selbst schon aus dem Ausland für tot erklärt hat, einen Elfenwidder gesehen haben will. So häufen sich die bizarren Vorkommnisse am Gletscher, bis schließlich Vebi von der Pfarrersfrau Ua, die irgendwann wieder auftaucht, verführt wird, und die ihn mitnimmt bis ans Ende der Welt, um ihn dort, weit weg von Reykjavík, im tiefsten Nebel sich selbst zu überlassen.

Wie gewohnt beobachtet Halldór scharf, ohne dabei seine Figuren unsympathisch werden zu lassen. Diese changieren zwischen Naivität, Weltweisheit, Liebenswürdigkeit und den allzu menschlichen Schwächen. Dazu kommt ein Schuss Philosophie, gerne asiatisch angehaucht, und der stumme Gletscher hat ebenfalls eine Hauptrolle in diesem absurden Sittengemälde, das untermalt wird von Möwengeschrei, dem Blöken der Schafe und schließlich dem regelrecht erlösenden Muhen des halbverhungerten Kalbs, das, Symbol der Hoffnung, überleben wird.

Am Gletscher ist, wie auch der Angelausflug ins Gebirge oder Die Litanei von den Gottesgaben, nicht gerade die derzeit gängige Islandlektüre, aber doch für all die zu empfehlen, die auf der Suche nach einem authentischen Lesevergnügen sind und keine Lokalkrimis mehr sehen können. Und wer danach noch nicht genug hat, kann sich gleich der Eyrbyggja-Saga widmen, um der rätselhaften Pfarrersfrau auf die Spur zu kommen und abzutauchen in die lange isländische Erzähltradition, aus deren Fundus sich Halldór kreativ bedient.

Titelbild

Halldór Laxness: Am Gletscher.
Übersetzt aus dem Isländischen von Bruno Kress.
Steidl Verlag, Göttingen 2016.
191 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783958291379

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