Die Utopie zwischen Skepsis und Sehnsucht

Robert Leucht untersucht „Dynamiken politischer Imagination“ zwischen 1848 und 1930

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang und am Ende des Zeitraums, den Robert Leuchts Studie über die deutschsprachige Utopie zwischen 1848 und 1930 umfasst, steht die Gattung in keinem guten Licht. Die gescheiterte Revolution und daraufhin der bürgerliche Realismus setzen Mitte des 19. Jahrhunderts die Gattung, die sich dadurch charakterisiert, „im Modell eines Zweiweltenschemas einer kritisierten Ausgangswelt ein ihr überlegenes, ideales Gemeinwesen gegenüberzustellen“, unter Druck. Adalbert Stifter reagiert in Der Nachsommer (1857) mit einer „Gegen-Poetik“ auf diese spezifische historische Situation – in Leuchts erhellender Relektüre des Klassikers wird das Werk als „Utopie im Verborgenen“ sichtbar. Nach zwischenzeitlichem Aufschwung und Blüte nimmt „die utopische Intensität“ dann mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wieder deutlich ab: Die Spielräume für innerhalb des Dritten Reichs verfasste Texte werden nach 1933 immer enger. Einen Gattungstod stirbt die Utopie aber auch dann nicht.

Die Krisen ebenso wie die Blütezeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts modulieren nicht nur Skepsis und Sehnsucht, die das Utopische hervorruft, sondern stellen auch die „Dynamiken politischer Imagination“ unter Beweis, wie sie der Titel von Leuchts Arbeit über die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten ankündigt. Der Autor sieht in der Utopie „eine agonale Formation, in der sich ideologische wie ästhetische Abgrenzungsprozesse ereignen.“ Ausgehend von dieser These trägt die induktiv vorgehende Studie über die heterogenen Textprofile der Utopie dazu bei, einen äußerst vagen Terminus – sowohl politisch-gesellschaftlicher Begriff als auch Gattungsbezeichnung – zu konkretisieren. Dies gelingt dem Autor in erster Linie über die Profilierung der Utopie als integrativer Begriff, der sich zwischen Gattung und Diskurs bewegt.

In diesem Kontext werden einige Schlüsselkonzepte für die literaturwissenschaftliche Debatte erarbeitet und nutzbar gemacht. An erster Stelle ist hier der Begriff der Gattungsdynamik zu nennen, der zweifach entfaltet wird. Intern bezeichnet er Leucht zufolge die Bewegungen, „die sich innerhalb der Gattung zwischen etwa zeitgleichen Utopien beobachten lassen“. Es ist eines der fundamentalen Verdienste dieser Arbeit, die unterschiedlichen ästhetischen Textprofile einer vielstimmigen Gattung hervorzuheben und in diesem Zuge der in Utopie-Abhandlungen dominierenden diachronen Perspektive einen synchronen Ansatz hinzuzufügen, der die titelgebende Dynamik der Gattung erst einsichtig macht. Dabei werden aber auch über die Utopie hinausgehende Erkenntnisse über die Interaktion zwischen Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft vermittelt, die eben jene Dynamiken politischer Imagination – verstanden als „Vermögen, andere politische Ordnungen zu imaginieren“ – erzeugen und im Medium der Gattung dann auch reflektieren.

Leuchts Anspruch, eine Neubewertung der Gattung vorzunehmen, ist dementsprechend ein doppelter: Neben der internen Dynamik wird auch die durch die Gattung ausgelöste Dynamik dargestellt. Denn die Fokussierung der sozialen Wirkungsmacht der Utopie rückt zugleich ihren Beitrag zur Dynamisierung von Gesellschaft ins Blickfeld. Belegt wird, dass Utopien nicht nur auf ihre Schreibgegenwart reagieren, sondern ihr auch Impulse verleihen. Sie sind Interventionen, die „verändernd auf die sozialen Verhältnisse einwirken“. Indem Leucht die realitätsbildende Kraft der Utopie ebenso analytisch wie anschaulich herausarbeitet – vor allem für die Zeit der Gattungsrenaissance um die Jahrhundertwende, als das „Bedürfnis nach Zukunft“ im kollektiven Bewusstsein dominiert –, behebt er auch ein Defizit der deutschsprachigen Utopieforschung, die ihren Gegenstand bisher vornehmlich als „Antwort auf Geschichte“ begriffen hat.

Was die Etablierung des weit gefassten Korpus betrifft, zeichnet sich die Studie durch eine Konzentration auf die Textgestalt aus, die keineswegs die Selbstbezeichnung als Utopie impliziert – was nicht zuletzt aufgrund der zeitweise pejorativen Verwendungsweise des Terminus (man denke nur an die abschätzige Rede über Utopisten im Kommunismus seit Marx) relevant ist. Der Korpus wird folglich auf der Grundlage der Beziehungen gebildet, den die Texte „großer“ und „kleiner“ Autoren zu Prätexten der Gattung eingehen: Die Zugehörigkeit des einzelnen Textes zur Gattung muss, so Leucht, argumentativ erhärtet werden. Hier erweist sich die Vorannahme der Studie, bei der Utopie handle es sich um eine dynamische Gattung, deren Texte in synchronen Bewegungen auch aufeinander reagieren, erneut als produktiv. Denn auf dieser synchronen Ebene lassen sich Aneignungsprozesse identifizieren, in denen die Utopie Elemente anderer Gattung aufgreift und assimiliert.

Die interdisziplinäre Anlage der Utopie untersucht Leucht unter anderem an der spätrealistischen Utopie, die er vor dem Hintergrund der Evolutionsbiologie und des Darwinismus liest. Überhaupt zählen die aufgezeigten Kontaktzonen der Utopie – darunter die Ausführungen zur wissenschaftlichen Utopie (im Unterschied zur utopischen Belletristik) und in ganz anderer Richtung auch zum Verhältnis von Utopie und Emigration – zu den interessantesten dieser an Erkenntnissen reichen Studie. Dabei hätte dieser Zusammenhang, dargestellt an „Auswanderungsnarrativen“ unter anderem von Gottfried Keller und Marie von Ebner-Eschenbach, sicherlich noch stärker ausgeschöpft werden können: Das Phänomen des Kolonialismus wird hier anhand der Behandlung konkreter Kolonisationsvorhaben nur gestreift, verspricht aber auch unter Berücksichtigung etwa der von Susanne Zantop erforschten Kolonialfantasien weitere Einsichten in das Wechselverhältnis von Utopie und Gesellschaft.

Dieses Verhältnis wird untersucht anhand verschiedener Projekte zur praktischen Erprobung von Utopien und des „Widerstreits um die Zukunft“, allen voran anhand der Rezeption von Etienne Cabets folgenreicher Reise nach Ikarien (1842), der von Theodor Hertzkas Freiland (1889) inspirierten Kenia-Expedition und den völlig anders gearteten, architektonischen Großstadt-Visionen Paul Scheerbarts. Im „Zeichen ihrer Ermöglichung“ wird die Utopie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts betrachtet, für die Leucht eine stellvertretende Figur ausmacht: den Ingenieur, wie er etwa in Theodor Herzls AltNeuLand (1902), als Gesellschaftstechniker bei Josef Popper-Lynkeus und in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften erscheint.

Zur Ortsbestimmung der Utopie in ihren außerliterarischen Kontexten zählen auch die Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg. Leucht konstatiert nicht nur eine scharfe Konkurrenz zwischen rechten und linken „Hoffnungsbildern“; die Rede ist auch von einem „Krieg um die Utopie“, in dem unterschiedliche oder gar konträre ideologische Lager auf die gleichen Denkfiguren zurückgreifen. Eine herausgehobene Stellung kommt in dieser Situation Ernst Bloch zu und seinem Verständnis von Utopie als „Denken des Neuen“: Die „Anthropologisierung der Utopie“ im Werk des Philosophen interpretiert Leucht als Antwort auf und gegen den Krieg, die geistige Kräfte mobilisiert und damit ein Intervenieren in den historischen Prozess ermöglichen soll. Darüber hinaus habe Bloch den Literaturwissenschaften einen methodischen Impuls verliehen, indem er die Utopie als Qualität profilierte; hier als Textqualität, die auch in außerliterarischen Diskursen nachzuvollziehen ist.

Nach 1917/18 wirken dann auch die revolutionären Hoffnungen in Deutschland auf die Utopie-Produktion ein: Erneut erweist sich hier in der Analyse, wie eng historische und politische Entwicklungen mit der Gattung verzahnt sind. Leucht konstatiert mit dem Scheitern der Münchner Räterepublik, im internationalen Kontext auch mit dem Geschick der Sowjetunion eine „Relativierung der Utopie in der Utopie“. Kurioserweise korrespondiert der Abbau utopischer Intensität in diesem Szenario mit Karl Mannheims bedeutendem Beitrag Ideologie und Utopie (1929), der eine Radikalisierung des Utopie-Begriffs vorantreibt.

Den Anspruch, ein wenig beachtetes Kapitel der Utopiegeschichte zwischen bürgerlichem Realismus und Neuer Sachlichkeit aufzuarbeiten und dabei auch ihre sich wandelnde Dynamik im Austausch mit anderen Diskursen zu rekonstruieren, löst die Studie zweifellos ein. Bedeutsamer noch als diese Revision der Utopiegeschichte ist jedoch vielleicht ein anderes Verdienst: Die Untersuchung vermag die Gattung tatsächlich als „Schauplatz politischer Imaginationsbildung“ zu konturieren und erschließt damit ein bisher kaum beachtetes „Erklärungspotenzial“ der Utopie, „das darin liegt, durch die philologische Untersuchung dieser Gattung Prozesse auch außerhalb ihrer Geschichte eingehender beobachten und verstehen zu lernen.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Robert Leucht: Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848-1930.
De Gruyter, Berlin 2016.
464 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110441499

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