Lob der Empirie

Frank Trentmann rekonstruiert die Geschichte des Konsums

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst klagte ein älterer Freund: „Keines meiner Kinder möchte mein Meißner Porzellanservice. Und bei Ebay werden auch viele kostbare Geschirrteile angeboten“. Das Verhältnis zu den Dingen hat sich geändert. Frank Trentmann, der am Birkbeck College der Universität von London Geschichte lehrt, hat diesen Wandel nachgezeichnet. So etwa wurden in der Renaissance Silberbesteck und Tafelgeschirr über Generationen hin vererbt. Schließlich hatten solche Gegenstände neben ihrem funktionalen oder dekorativen Nutzen auch Anlagewert. Erst im 17. und 18. Jahrhundert bildete sich eine dynamische innovative Konsumkultur heraus. Es entwickelte sich der Geschmack an neuen Dingen, die dank Massenproduktion und sinkender Preise weithin zugänglich wurden, (wobei allerdings etliche von uns Angehörigen der Nachkriegsgeneration noch dem alten Muster anhängen mögen). 

Das Buch umfasst zwei Teile. Im ersten Teil wird die Entwicklung des Konsums vom 15. Jahrhundert an bis in die 1980er Jahre ausführlich für die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kontinentaleuropa und Asien beschrieben. Dazu kommen ergänzende Exkurse zu Südamerika, zum Lebensstil der neuen Mittelschichten in Indien und China, zu Auswirkungen des Kolonialismus auf Afrika und Indien, zu den Folgen von Migration und Finanztransaktionen für ärmere Weltgegenden. Der zweite Teil diskutiert aktuelle Problemlagen in einem größeren historischen Rahmen. Es geht dabei um Fragen wie Kredit und Sparen, Tempo und Qualität von Leben und Freizeit, Auswirkungen des Konsums auf das Generationenverhältnis, auf Religion, Ethik und Identität. Es geht um Konsum außerhalb des Marktes und schließlich um die Entsorgung der Dinge in der ‚Wegwerfgesellschaft‘. Zumeist folgt die Darstellung einer provozierenden Argumentationsstrategie: Trentmann konfrontiert verbreitete theoretisch gut begründete Interpretationen mit ebenso detailliert ausgearbeiteten Gegenpositionen. Dann präsentiert er Daten. Diese zeigen: Es kommt drauf an. Alles hängt davon ab, welches Land, welches Produkt, welcher Zeitraum betrachtet wird, wie die jeweiligen kulturellen Traditionen und sozioökonomischen Kontextbedingungen aussehen. 

Am Beispiel der zentralen Debatte um globale Bewertungen von Konsum sei dies Vorgehen exemplarisch illustriert. Menschen haben immer Dinge besessen. Aber über die letzten Jahrhunderte hin hat der Konsum ungeheuer stark zugenommen. Linksliberale Kritiker klagen an: Im Kapitalismus weckten Werbung, Markenbildung, Billigkredite künstliche Wünsche. Dahinter stehe Profitinteresse. Zugleich mache der Materialismus aus aktiven Bürgern gelangweilte Konsumenten. Solch moralisierende Warnungen haben eine lange Tradition: Schon vor Galbraith, schon vor Marx und Rousseau sahen Plato oder Augustinus im Verlangen nach Gütern einen Mangel an Selbstbeherrschung und forderten genügsam zu leben. Klassische Liberale, erst recht Neoliberale, vertreten die Gegenposition: Wahlfreiheit gilt ihnen als Grundlage von Demokratie und Wohlstand. In pluralistischen Gesellschaften verteidigten Konsumenten mit ihrem Lebensstil ihre Autonomie. Konsum befördere soziale Gleichheit und Individualisierung. 

Gegen kapitalismus- und kulturkritische Thesen trägt Trentmann zunächst immanente Einwände vor. Er verweist auf vorkapitalistische Wurzeln des individuellen Konsums. So etwa hat sich die Vorliebe für Tee, Kaffee, chinesisches Porzellan, indische Baumwolle schon weit vor der industriellen Revolution entwickelt. Auch gab es Markenbildung und Etikettierung bereits im alten Ägypten. Er hinterfragt die Rede von der Entfremdung durch die Erzeugung ‚falscher Bedürfnisse‘: Konsum wird auch von dem Wunsch nach Geselligkeit und Freizeitvergnügen vorangetrieben. Und Konsum formt unsere Identität – wie wir uns kleiden und essen, ob wir SUV oder Elektroauto fahren, in die Oper oder ins Fußballstation gehen, zeigt, wie wir sind und wahrgenommen werden wollen Zudem haben Massenproduktion und Massenkonsum auch emanzipatorische Effekte. So etwa trugen billige, leicht färbbare Baumwollstoffe zum Abbau ständischer Kleiderordnungen und Hierarchien bei. Auch widerlegt Trentmann die Befürchtung, Konsum führe zu Apathie und Fremdbestimmung. Soziale Bewegungen, die Konsumenten für die Reformierung der Gesellschaft zu mobilisieren begannen, entwickelten sich in den 1890er, 1900er Jahren parallel zu den Kaufhausgründungen. Ethische Käufer prangerten die Ausbeutung von Verkäuferinnen und Lohnarbeitern an, wandten sich gegen Heim- und Kinderarbeit – so wie sie schon früher von Sklaven angebaute Produkte boykottiert hatten. Insofern ist der deutsche Titel Herrschaft der Dinge für das – ansonsten vorzüglich übersetzte – Buch leicht irreführend. Die Dinge beherrschen uns nicht. Aber sehr wohl leben wir alle – und zwar unvermeidlich – im Empire of Things, wie es im Original heißt. Und schließlich sind keineswegs alle Konsumenten liberale Kapitalisten. Auch faschistische und kommunistische Gesellschaften konsumieren. 

Befunde dieser Art erklären jedoch nicht den ungeheuren Anstieg des Konsums in der jüngeren Zeit. Diesen zu begreifen erfordert, den auf Individualverhalten fixierten Deutungsrahmen zu transzendieren. Konsum wird nämlich keineswegs ausschließlich durch individuelle Wünsche bestimmt – das Problem liegt nicht im Erwerb von Luxusjachten. Konsum ist stark abhängig von zwei weiteren Momenten: von Aktivitäten des Staates und von sozialen Praktiken und Alltagsroutinen. Deren Analyse liefert Argumente für beide Positionen – für emanzipatorische Hoffnungen wie für Kultur- und Kapitalismuskritik. Der Staatskonsum ist erheblich. Der, besonders auch von sozialdemokratischer Seite, begrüßte Ausbau des Sozialstaats in den 1960er, 70er Jahren steigerte Wohn-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben. Auch beförderten Fürsorgeleistungen für Arme, Alte und Arbeitslose soziale Gleichheit und vermehrten so Konsumausgaben. Zugleich aber erhöhten die Einführung von Gas, fließendem Wasser und Waschmaschinen sowie erweiterte Freizeitaktivitäten das Konsumniveau erheblich. Es sind insbesondere zu Selbstverständlichkeiten verfestigte Alltagsroutinen, die die liberale Deutung von Konsum als Quelle des kollektiven Wohls untergraben. So hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Kohlendioxidemission pro Person vervierfacht. In den reichen Ländern wird heute ein Viertel der genießbaren Lebensmittel weggeworfen – vor dem Zweiten Weltkrieg waren es nur 3%. (Tiefkühltruhen und verbilligte Großpackungen verführen zu Mehreinkäufen; Ablaufdaten werden aufmerksam beobachtet; die Abfallverwertung durch Nutztiere fehlt; kulinarische Vielfalt und unerwartete soziale Angebote wie Restaurantbesuch oder Einladungen erschweren sparsame Lebensmittelnutzung). Auch Rebound-Effekte spielen eine große Rolle: Kühlschränke werden effizienter, zugleich aber viel größer. Die Zentralheizung hat dazu beigetragen, die als normal empfundene Temperatur um mehrere Grade zu erhöhen. In Großbritannien stieg die Wäschemenge im Lauf des 20. Jahrhunderts um das Fünffache und zwischen 1973 und 2003 verdoppelte sich der Stromverbrauch. Der stärkste Einflussfaktor aber ist die Zunahme von Ein-Personen Haushalten, also die Mehrfachanschaffung großer Haushaltsgeräte. Kurz: Konsum ist inhärenter Teil unseres Lebensstils.

Trentmann selbst verweigert eine Stellungnahme in der Moraldebatte. Die Suche nach einem nachhaltigen Lebensstil sei Aufgabe des Lesers. Aber um die Zukunft zu bewahren, so seine Überzeugung, „brauchen wir eine umfassende Kenntnis der historischen Prozesse, durch die wir in die Gegenwart gelangt sind“. Diese dokumentiert er themenübergreifend und detailreich. Seine Fähigkeit, die enorme Datenfülle – Statistiken, Zeitreihen, qualitative Einzelstudien – sinnvoll und übersichtlich zu bündeln und geordnet darzustellen, ist überwältigend. In seiner Beschreibung verfolgt er keine eigene Linie, präsentiert kein Narrativ. So vermöchte die ständige Darbietung immer neuer Daten und Befunde (das Buch umfasst über 1000 Seiten und auf den meisten präsentiert er mehrere einschlägige statistische Informationen) den Leser durchaus zu ermüden. Hier allerdings bewährt sich das Verfahren der Einbettung von Daten in dominante Kontroversen. Zugleich illustriert es das profitable Zusammenspiel hochfliegender spekulativer Theorien und fliegenbeinzählender Empirie. Häufig greifen kulturpessimistische Propheten wie glühende Reformer alltagsweltliche Impressionen und je herrschende Befürchtungen und Hoffnungen auf, überspitzen sie und entwerfen sodann mitreißend geschilderte Zukunftsvisionen. Ohne solche die Gemüter bewegende Aufhänger wäre die Datenfülle trostlos. So aber gewinnt die nüchterne Beweisaufnahme historischer und sozialwissenschaftlicher Daten Informationswert und erweckt Interesse. Inhaltlich vermag Trentmann dabei auch eine zentrale Botschaft zu lancieren: Der Nachweis der Vielfalt kultureller Vergangenheiten und stark divergierender Wege der Konsumentwicklung öffnet den Blick für Gestaltungmöglichkeiten sozialer Verhältnisse. Er selbst gibt einen einzigen (wenig originellen, aber sehr sinnvollen) Ratschlag angesichts des schier unbegrenzt wachsenden Abfallstroms: Ökologische Kosten der produzierten Güter sind einzupreisen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Stephan Gebauer-Lippert.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
1097 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783421042736

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch