Füchse und Igel

Jonas Lüscher sucht in seinem zweiten Roman „Kraft“ eine Antwort auf die verzwickte Theodizee-Frage

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Essay Der Fuchs und der Igel entwickelt Isaiah Berlin eine philosophische Kategorisierung, die auf den griechischen Philosophen Archilochos zurückgeht: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ Während der Igel zu monistischen Erklärungen neigt, spürt der Fuchs verschiedenen Wahrheiten nach. Richard Kraft, der Protagonist in Jonas Lüschers neuem Roman Kraft erkennt sich eher im Fuchs wieder. Sicher ist er sich aber nicht, denn seit seiner Studentenzeit neigt er zu einem neoliberalen Monismus à la Margaret Thatcher. Ist er nicht eher eine Mischung aus Fuchs und Igel: ein Stachelschwein?

Die Aufgabe, mit der der Mittvierziger konfrontiert wird, bedarf auf jeden Fall beiderlei: Systematik und Pragmatismus. Er ist von einem verschrobenen Millionär aus dem Silicon Valley eingeladen, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Unter dem Titel „ Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium“ soll eine alte Frage eine zeitgemäße Antwort erhalten. Kraft ist geneigt, die Herausforderung anzunehmen. Als Professor für Rhetorik in Tübingen müsste er ihr gewachsen sein. Vor allem reizt ihn aber die Preissumme von einer Million Dollar – das Geld könnte er sehr gut gebrauchen, denn trotz seiner Professur ist er finanziell klamm. Seine erste Frau Ruth und die gemeinsamen zwei Kinder hat er mit einer „großzügigen Unterhaltsregelung“ verabschiedet, sodass ihm kaum etwas bleibt, um auch seine zweite Scheidung von Heike zu vollziehen. Kraft bedingt sich zwei Wochen aus, um sich in der legendären Hoover Institution on War, Revolution and Peace an der Stanford University auf den Vortrag vorzubereiten. Über seinem Arbeitstisch hängt ausgerechnet ein Porträt des skeptisch dreinblickenden Donald Rumsfeld.

Warum also kommt das Übel in die Welt, wenn Gott gut ist? Der Weg zu einer Antwort erweist sich als beschwerlich. Kraft zitiert Gottfried Wilhelm Leibniz heran, und Alexander Pope, Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bis hin zu Isaiah Berlin und Joseph Vogl, doch sein raunender Diskurs über Theodizee, Technodizee und Oikodizee wird immer wieder zurückgeworfen auf die ganz persönlichen Probleme. Erinnerungen drängeln sich vor und hemmen den Gedankenflug.

In Kalifornien ist Kraft bei István Pánczél, einem Freund aus früheren Tagen, zu Gast. Dieser war im Frühjahr 1981 in seiner Steglitzer WG aufgetaucht. Die beiden verband augenblicklich eine Sympathie für neoliberale Ideen und strategische Wiederaufrüstung. Sie waren sich einig im Bestreben, sich von allen anderen abzugrenzen. Gemeinsam gingen sie auf die Straße, um mit ihrer argumentativen Brillanz dem linken Mainstream zu trotzen und für Freiheit mit Waffen einzutreten.

Bei einer solchen Gelegenheit begegneten sie der Künstlerin Ruth, mit ganz gegenteiligen Erfahrungen. Aus Ärger über seine Parolen schlug sie István eine gelbe Gerbera um die Ohren und verletzte dabei sein Auge. Trotzdem konnte sich Kraft nicht der Faszination ihres mütterlich anmutenden Beckens entziehen. So legte sich ein Schatten auf die Freundschaft, auch wenn die erotische Anziehung bald wieder erlosch. Mit ihr verlor allmählich auch der weltanschauliche Impetus an Dringlichkeit, weil die „geistig-moralische Wende“ unter dem massigen Kanzler Kohl ausblieb. Der deutsche Liberalismus hat nie gehalten, was er versprach.

So bleiben die Theodizee-Frage und die Aussicht auf eine rettende Million. Vielleicht, spielt Kraft gedanklich durch, könnte er Reagans Trickle Down mit der Great Chain of Being zusammendenken, dazu etwas uminterpretierte Oikodizee geben, um in die technologische Singularität einzumünden, die Gott endgültig ablöst und den Menschen zum Gott der Maschinen macht. Doch Kraft spürt instinktiv, dass dieser Gedankengang lediglich einen „entsetzlichen Notoptimismus“ konstruiert.

In einer grandiosen Traumszene, die seinen Geist auf einer Fahrt durch die Hügel von San Francisco benebelt, geht diese Argumentation mitsamt der Welt unter: Naturgewalten fallen über die Stadt her, bringen Brücken und Hochhäuser zum Einknicken und treiben die Überlebenden auf die umliegenden Hügel. „Alles um ihn rennt und flüchtet und schreit“. In dieser mitreißenden Imagination, die Kalifornien mit Fukushima überblendet, schimmert unausgesprochen auch das Erdbeben von Lissabon durch, das Voltaires Candide „das Weltende“ ausrufen und Pangloss predigen lässt, dass „alles gut ist, so wie es steht“. Gerade diesen Optimismus vermag Kraft immer weniger zu teilen.

Jonas Lüscher präsentiert uns einen ebenso eigentümlichen wie eigensinnigen Helden. Einen Schwadroneur, in dessen intellektueller, rhetorischer Brillanz immer etwas sophistische Haarspalterei mitschwingt. „Solange man redete, blieben die Dinge einfach“, ahnt er. Ruth hat sich einst davon verführen lassen, doch gehalten hat die Beziehung nicht. Seine rhetorischen Höhenflüge unterliegen letztlich den banalen Beziehungskrisen, denn „in der Defensive ist Kraft nie auf der Höhe seiner Möglichkeiten“. So wirkt er stets auch ein wenig lächerlich, wie die süffisant klingenden Zwischenbemerkungen verstärken, mit denen der nicht selten hämische Erzähler bei den Lesern Rückhalt sucht. „Nun, wir ahnen es bereits“: Kraft ist für ihn eine Spielfigur, ein Medium, an dem er das Individuum im Clinch zwischen hochfliegenden Ambitionen und privaten Sorgen studiert. Wie viel Freiheit ertragen wir? Was erhoffen wir vom Leben und wie viel können wir zu dessen Gelingen beitragen? Die Ideologie der liberalen Freiheit erweist sich im privaten Leben als kompliziert. Charakter ist dabei – vielleicht – die Nebensache.

An Krafts Beispiel skizziert Jonas Lüscher auch drei Jahrzehnte deutscher Geschichte. Von der liberalen Provokation, die Kraft einst belebte, ist nur ein allgemein gültiges Dogma geblieben, dem alle nachplappern. „History is an arena only one can leave as victor“ zitiert der Roman einen Satz von einem Ford Sakaguchi. Kraft würde sofort zustimmen. Doch aus den Hoffnungen von einst ist diskursiver Mainstream geworden, der alle von Ökonomie und Wettbewerb schwafeln lässt. Kraft hatte „sein Alleinstellungsmerkmal verloren“, eine Demütigung.

Das ist hier prägnant und mit lakonischem Witz festgehalten. Der Roman oszilliert unruhig zwischen Reflexion und Erzählung, um aus dem Wechselspiel Schwung und Intensität zu gewinnen. Jonas Lüscher schreibt in einer syntaktisch komplexen, mäandernden Sprache, die voll listiger Hinweise und erlesener Zitate steckt. Dabei verrät seine Prosa ein untrügliches Faible für zugespitzte Formulierungen und (zuweilen allzu) hochfliegende Vergleiche. Das geht notgedrungen zu Lasten der psychologischen Tiefe seiner Titelfigur. „Aber Kraft ist kein großzügiger Mensch, nie gewesen“, heißt es einmal, „weil er sich selbst als jemanden sieht – immer schon gesehen hat –, der anderen nicht viel zu geben hat“. Dieser Mangel sei der „Kern des Übels“, glaubt er selbst zu wissen. Aus dieser Deckung will ihn Jonas Lüscher nicht hervorlocken. Das mag ein Mangel sein, doch Lüscher antwortet damit nur auf den abwehrenden Charakter seines Helden, dem der innere Antrieb fehlt. Kraft lässt sich lieber herumbewegen (von István, Heike, auch vom Erzähler), als dass er sich selbst bewegt. Diese Passivität macht ein lächerlicher Unfall sichtbar, als er mit einem Ruderboot in den Marschlanden vor Palo Alto förmlich Schiffbruch erleidet. Kraft begräbt den Vorfall sogleich wieder unter intellektuellem Blendwerk.

Auch wenn ihm die notorische Zuversicht des Silicon Valley auf die Nerven geht, die selbst „das Malum des Scheiterns zu einem Bonum“ umwandelt, ist Kraft nicht vergebens hier gestrandet. Im Zentrum der digitalen Innovation erfährt er, wie seine thatcheristische Staatsfeindlichkeit  längst von algorithmischen Normierungen aufgehoben wird. In einem „Dining Pavilion“ der Universität erklären ihm zwei vor Optimismus strotzende Jungs von Famethrower, einem Live-Video-Stream-Dienst, der die Menschen im globalen Netz ubiquitär erscheinen lässt: allgegenwärtig – zugleich auch nirgends. Ideologie, Psychologie und Privatheit werden auf dem Touchscreen geplättet. Schicht um Schicht legt Jonas Lüscher mit seiner Spielfigur diesen politisch-moralischen Zeithorizont frei. In diesem Kontext muss Krafts Bemühen um eine umfassende Klärung sowohl der Theodizee-Frage als  auch seiner persönlichen Probleme misslingen. Es gibt auf beides keine gültige Antwort – und ein Gärtchen, wie es Candide findet, kann Kraft nicht erwarten.

Sein Tun gleicht mehr und mehr einem, frei nach Rainer Maria Rilke, „Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht“. Weder Fuchs noch Igel, sondern ein zahnloses Raubtier. Ein Richard Kraft, der schon immer wusste, „dass nichts einfach war, nie“, und der sich schließlich seiner intellektuellen wie existentiellen Kraftlosigkeit ergibt – weltweit über Famethrower.

Jonas Lüschers zweites Buch geht der grelle Überraschungseffekt seines Debüts Frühling der Barbaren  ab. Ließ die Novelle einen kurzen Moment der globalen Gegenwart frech aufblitzen, versucht Richard Kraft für sich grundlegende Menschheitsfragen abzuarbeiten. Auch diese breite Anlage meistert Jonas Lüscher mit souveräner Geste und einem leisen Schrecken vor dem eigenen Übermut zu diesem Stoff. Dass die Theodizee-Frage offen bleibt, soll ihm nicht weiter angelastet werden.

Titelbild

Jonas Lüscher: Kraft. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
237 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406705311

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch