Ernst Jüngers Gestaltdenken aus narratologischer Sicht

Eine neue Studie untersucht „Heliopolis“ und „Eumeswil“

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Jünger schrieb zwei umfangreiche utopische Romane. Beide haben nur relativ wenige Leser gefunden. Fragt man ihre Fans, was sie an ihnen schätzen, erhält man meist folgende Antworten: Heliopolis nehme bereits 1949 technologische Innovationen voraus, die unser Leben heute prägen, vor allem das Smartphone. Eumeswil (1977) enthalte anregende Reflexionen über die Zeit nach dem Zusammenbruch der Ideologien, der Roman spiele vor allem an der Bar und sei ziemlich abgedreht. Ob jemand das Buch (aufmerksam) gelesen hat, erkennt man übrigens daran, wie er den Titel ausspricht, denn im Roman selbst findet sich ein entsprechender Hinweis.

Die Zahl der Leser und Fans der beiden Bücher ist aber, wie gesagt, klein, denn in ihnen passiert nicht viel und die Figuren wirken holzschnittartig. Jünger selbst kam auf die Romane in späteren Jahren nur selten zu sprechen und bezog sich eher auf die beiden ebenso umfangreichen Essays Der Arbeiter und An der Zeitmauer, in denen er seine Haltung zu Technologie, Freiheit und Umwelt formuliert.

In deren Zentrum steht die begrifflich nur schwer fassbare Idee der „Gestalt“, die Jünger auch in dem ebenfalls von der Forschung bisher eher vernachlässigten Essay Typus, Name, Gestalt (1963) beleuchtet. Das vorliegende Buch „Hier aber treten die Ordnungen hervor“. Gestaltästhetische Paradigmen in Ernst Jüngers Zukunftsromanen von Nils Lundberg, das auf seine Gießener Dissertation zurückgeht, analysiert Jüngers Konzeptionen der „Gestalt“ vor dem Hintergrund klassischer und zeitgenössischer Definitionen und argumentiert anschließend, dass sich die beiden Romane im Hinblick auf ihre Struktur, ihr Personal und ihre Inhalte als narrative Umsetzung und Ausdeutung jener holistischen Zielvorstellung lesen lassen, die Jünger „Gestalt“ nennt.

Man sollte zunächst darauf hinweisen, dass die Analyse der beiden Romane, anders als Titel und Inhaltsverzeichnis vermuten lassen, nur etwa die Hälfte des Buches ausmacht. Das ist an sich nicht schlimm, bedeutet aber, dass die hermeneutische Detailarbeit hinter den im Buch selbst solide angelegten Möglichkeiten teilweise zurückbleibt.

Lundbergs Kernthese ist, dass Jüngers Werk zwar viele „affirmative Verweise auf historische Typologien ganzheitlicher, in Mythos, Religion und Metaphysik beheimateter Ordnungsmodelle und Wirklichkeitskonzepte“ enthält, es aber aufgrund eines „progressiven Kalküls“ vermeidet, „im Fahrwasser pathologischer Reaktion festzulaufen.“ Dieses Kalkül bestehe darin, restaurative Tendenzen eines unkritischen Umgangs mit Mythos und Ganzheitlichkeit durch die Wendung hin zur stereoskopischen, multiperspektivischen, dabei durchaus auch ironischen Ästhetik zu unterlaufen. Insofern wirft der Holismus des Gestaltdenkens, jedenfalls in der Art und Weise, wie Jünger sich auf Johann Wolfgang von Goethe bezieht, die Frage nach dem einzelnen Menschen, dem Autor, der Romanfigur, gleich mit auf. Denn wenn Goethe Wahrnehmungsorgan und Wahrgenommenes für strukturverwandt hält, kommt man um die Frage nicht mehr umhin, wessen Auge denn sonnenhaft ist.

Mit Blick auf Jüngers Tagebücher, die Lundberg ebenfalls in seine Untersuchung einbezieht, bringt er die Sache auf den Punkt: „Ein spezifisch inszeniertes Phänomen wird damit zum ontologisch bedeutsamen Gestalteindruck, der im Licht entsprechender Darstellung vor dem Hintergrund harmonischer Bildkompositionen für die Normativität eines ganzen Weltbildes bürgt“ (wobei die Implikationen des etwas vagen Genitivs am Ende des Satzes weiter ausgelotet werden sollten).

Lundberg liest Jüngers Romane mit Peter Koslowski und Jürgen Kron als postmodern und greift daher, durchaus produktiv und für die aktuelle Debatte um die Verbindlichkeit von Wertorientierungen relevant, auf das zunächst paradox erscheinende Konzept eines ‚postmodernen Essenzialismus‘ zurück. Lundberg schlussfolgert, dass die Protagonisten von Eumeswil „die Diagnose vom Ende der Geschichte dabei dezidiert als Aufforderung zur Dekonstruktion lebloser historischer Masse“ interpretieren und sich an die „umfängliche Freilegung und Wiederbelebung holistischer Strukturen des ‚Immergültigen‘“ machen. Für Jünger als Autor eines solchen, von seinen Figuren vorangetriebenen Vorgehens münde das in einer „narrativen Pointe, die das normative Vakuum geschichtsloser Räume auch als heuristische Offerte zur literarischen Repräsentation einer ganzheitlichen Episteme begreift“.

Diese Erkenntnis leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Art und Weise, wie Jüngers Produktionsästhetik sich über Genregrenzen hinweg artikuliert und die Entfaltung einer für ihn zentralen orientierenden Vorstellung, eben der „Gestalt“, ermöglicht.

Abschließend muss leider auf die ausgesprochen lieblose und schludrige Gestaltung des Buches hingewiesen werden: Hunderte von Satz- und Tippfehlern sind für den Leser einfach frustrierend. Die intellektuellen Verdienste des Buches schmälert das aber natürlich nicht.

Titelbild

Nils Lundberg: „Hier aber treten die Ordnungen hervor“. Gestaltästhetische Paradigmen in Ernst Jüngers Zukunftsromanen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.
223 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366353

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