Märchenstunde im Radio

Gottfried Benn präsentiert sich als ,Innerer Emigrant‘ (1950)

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Am 25. März 1950[1] führte Gottfried Benn eine Radio-Debatte mit dem jüdischen Remigranten Peter de Mendelssohn, in der er sein wenig rühmliches Verhalten von 1933/34 zu rechtfertigen suchte. Zustande kam der Dialog mit dem als britischer Presseoffizier zurückgekehrten Publizisten auf Vorschlag des Moderators, des 29-jährigen Thilo Koch. Der Leiter der Abteilung Kulturelles beim Nordwestdeutschen Rundfunk Berlin wählte als Titel der Sendung „Der Schriftsteller und die Emigration“, den Gesprächsanlass lieferte Benns wenige Monate zuvor erschienene Autobiographie „Doppelleben“, Ort des Aufeinandertreffens war das Studio des NWDR am Heidelberger Platz. Wenn im Folgenden dieses erste und einzige öffentliche Streitgespräch zwischen einem in Nazi-Deutschland gebliebenen Autor und einem geflohenen beleuchtet wird, so hat das seinen Grund eben in der Rarität ‒ aber auch in einer Forschungslücke, die überraschen mag. Schließlich sollte man meinen, zu Benns pro-nazistischen Tönen kurz nach der Machtübernahme der NSDAP sei alles gesagt.

Die einschlägigen Arbeiten von Klaus Theweleit, Helmut Lethen und Wolfgang Emmerich haben Ursachen und Verlauf des Temporärfaschismus in hoher Dichte und so unumwunden erhellt, dass einige der unschönen, wenn auch nicht die unschönsten Benn-Zitate von 1933 heute zum Wikipedia-Wissen zählen. Die Nachkriegspositionierungen des Autors hat die (Post-)68er-Forschung ebenfalls thematisiert. Vertraut ist dank ihr die Grundlinie von „Doppelleben“, Benns Stilisierung der eigenen Vita, der allein die Kunst das Maß gegeben habe, gegen die die Niederungen des sonstigen, etwa des politischen Lebens nur hätten abfallen können. Auf den Schultern dieser jüngeren Studien steht mein Beitrag auch, da sie die Befangenheit des späten Benn gegenüber den zurückkehrenden oder das Nachkriegsdeutschland demonstrativ meidenden Exilanten bereits ansprechen.

Und doch, mit den Kapiteln zu Benns Selbstdarstellung nach 1945 wird man nicht ganz glücklich, denn sie befinden sich eher neben den Abschnitten zu 1933, als dass sie sich wirklich auf diese rückbezögen. Dabei liegt hier ein Nervenpunkt. In welchem Verhältnis steht die Selbstbeschreibung des Autors nach Kriegsende zum Realverhalten im Nationalsozialismus? Selbst die wertungsfreudigen Bücher von Theweleit und Lethen streifen den relationalen Aspekt nur, obwohl er einer Gretchenfrage gleicht ‒ in Benns Fall wie in dem der deutschen Nachkriegsliteratur generell.

Das Verhalten von Schriftstellern im NS selbst zu sichten, ihre kleineren oder größeren Kompromittiertheiten oder auch nur Kompromisse, war und ist ein Verdienst kritischer Germanistik, doch spannende Eröffnungen wie etwa die von Jörg Döring zu Alfred Anderschs produktionsorientiertem Egoismus als Jungautor haben mittlerweile Seltenheitswert. Was auch daran liegt, dass viele Fakten zur hier in Rede stehenden Autorengruppe bereits seit 2000 nachlesbar sind, im konkurrenzlos informativen und musterhaft sachlichen Lexikon von Hans Sarkowicz und Alf Mentzer zur „Literatur in Nazi-Deutschland“, das 2011 noch einmal deutlich erweitert unter dem Titel „Schriftsteller im Nationalsozialismus“ erschien.

Im Übrigen pflegen nachträgliche Moralisierungen den Einwand von Antifaschismus auf W3 hervorzurufen und die rhetorische Frage, wie integer man denn selbst in einer Diktatur gehandelt hätte. Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass man schon unterscheiden muss, wozu Autoren im NS gezwungen waren und wozu nicht (wofür der Benn von 1933 ein gutes Beispiel ist). Aber natürlich tun Nachgeborene gut daran, sich des Anpassungsdrucks während der Nazi-Herrschaft, dem sie selbst nie ausgesetzt waren, bewusst zu bleiben. Nur heißt das auch zu betonen, dass sich unter postdiktatorischen Bedingungen die Selbstverantwortung von Autoren maximiert.

Gründe genug, weniger die Äußerungen von Schriftstellern im NS zu beleuchten als ihre Retrospektiven darauf: Wie gingen sie im Nachhinein mit denjenigen ihrer Stellungnahmen um, die sie nun selbst als anstößig empfanden oder für andere skandalisierbar wussten? Mit welchen Techniken immunisierten sie sich gegen erwartbare Kritik und mit welchen Retuschen kamen sie warum durch?

Auch wenn dem Ansatz ein unfeiner, erinnerungskriminalistischer Touch anhaftet, dürfte es an der Zeit sein, derlei Fragen an Benns Radio-Auftritt von 1950 zu stellen. „‒ der Nationalsozialismus ist heute eine feststehende geschichtliche Erscheinung; seine Fundamente sind eingelassen in den glanz- und opfergetränkten Boden Europas. […] Er wird die Fluten seiner ahnenschweren Vitalität durch abgelebte europäische Flächen ergießen“: Sätze wie diese aus dem Vorwort von „Kunst und Macht“, veröffentlicht 1934, machen sich nach dem 8. Mai 1945 nicht mehr gut. Für Befremden noch Jahrzehnte später sorgten und sorgen freilich nicht die Nazi-Schwärmereien allein ‒ schwülstige Ergebenheitsadressen gab es nach dem 30. Januar 1933 von vielen. Ausschlaggebend ist, dass diese von einem der bedeutendsten literarischen Modernisten des 20. Jahrhunderts stammen, keinem völkischen Wald-und-Wiesen-Literaten.

Bei Hitlers Machtübernahme rekrutierte sich die Masse pro-faschistischer Schriftsteller bekanntlich aus den im literarischen Feld der Weimarer Republik zu kurz Gekommenen. Sie bedurften der politischen Außenverstärkung durch die NSDAP, um ihrer untergeordneten Feldstellung zu entkommen. Zur Regel von 1933, dem großen Pfeifenaufrücken, bildet Benn die markante Ausnahme. An Reputation unter seinesgleichen, feldinterner Anerkennung, hatte es ihm vorm NS beileibe nicht gefehlt, selbst der literarischen Welt Frankreichs war sein Name um 1930 ein Begriff. Die von Klaus Mann bis Theweleit auch deshalb kopfschüttelnd gestellte Frage, wie ein literarisches Schwergewicht sich mit Kretins einlassen konnte, wird im Folgenden etwas variiert: Was lässt sich ein Autor von Rang später einfallen, um seinen Fehltritt zu erklären? Mein Eindruck ist, These eins lautet: eine besonders gründliche Selbstverklärung. „Nichtreumütig“ hat Lethen Benns Rückschau auf die pro-nazistische Phase so zutreffend wie summarisch genannt. Umso erinnernswerter sind die konkreten Verfahren des Nichtreumütigen, von denen hier einige am Beispiel von Gesprächsausschnitten vorgestellt seien.

Auf die Rundfunk-Debatte lässt sich Benn nur widerwillig ein. Erst auf Drängen seines Verlegers Niedermayer, der „Doppelleben“ im Radio beworben haben will, und aus finanziellen Gründen („1 Stunde ist viel Geld ‒ Prostitution überall, allons enfants!“) sagt er Koch zu. Die zunächst ablehnende Reaktion („Ich bin kein Matador“) nimmt nicht wunder. In einer Debatte mit einem Remigranten muss Benn mit Vorhaltungen rechnen. Seine Beihilfe zur ,Säuberung‘ der Preußischen Akademie der Künste von Juden und Republikanern ist den betroffenen Kollegen der Sektion Dichtkunst noch in bester, will heißen schlechtester Erinnerung. Und die öffentliche Antwort auf den Brief Klaus Manns, der ihm im April 1933 den Verbleib in der gleichgeschalteten Institution zum Vorwurf gemacht hatte, bestand berüchtigterweise darin, die Exilanten als „Amateure der Zivilisation“ madig zu machen, die es sich am Mittelmeer gemütlich machten.

Noch ungünstiger, dass Benn seine Rechtfertigung der Vertreibung kritischer Intellektueller wie auch die schwadronierende Unterstützung der NS-Eugenik seinerzeit nicht nur in Papierform zum Besten gab. Drei der später inkriminierbaren Texte verbreitete er 1933 massenmedial, „Der neue Staat und die Intellektuellen“, „Antwort an die literarischen Emigranten“ und „Zucht und Zukunft“ waren zunächst Radio-Ansprachen. Insofern schließt sich 1950 der Kreis. Ein erfahrener Rundfunk-Autor steht vor der Aufgabe, mit seinem Radio-Comeback eine Hypothek abzutragen, die er sich 17 Jahre zuvor im gleichen Medium einhandelte.

Dennoch, mit der halben, populärwissenschaftlichen Ausnahme von Gunnar Deckers Benn-Biographie (2006), von der noch zu sprechen ist, hat die Forschung dem Gespräch mit de Mendelssohn kaum Aufmerksamkeit geschenkt, woran das kürzlich erschienene Benn-Handbuch wenig ändert. Der betreffende Artikel zu Gesprächen und Interviews nennt den Nachkriegsdialog „berühmt“, geht aber nur knapp darauf ein. Ist die Zurückhaltung hier noch  mit Platzmangel erklärbar, so dürfte sie in den eingangs genannten Studien damit zu tun haben, dass Benn in der Sendung längere Passagen aus „Doppelleben“ vorliest. Es hat den Anschein, dass er im Radio nur gesprächsförmig wiederholt, was er zuvor schrieb. Sollte der Eindruck entstanden sein, täuscht er jedenfalls.

Der Einsatz vorm Mikro, so These zwei, steht in einem steigernden Verhältnis zur Autobiographie. Die Selbstbeschönigungen, mit denen „Schatten der Vergangenheit“ aufwartet, das vom Jahr 1933 handelnde Kapitel in „Doppelleben“, werden im Radio verdichtet, einem ungleich größeren Publikum dargeboten und mit einer Überrumpelungstechnik verbunden. Seinen Kontrahenten, den merklich konsternierten de Mendelssohn, weiß Benn für eine Aufwertung der Inneren Emigration zu instrumentalisieren. Das ist der kühnste Zug in der Strategie, den realiter verspäteten, erst Ende 1934 begonnenen Rückzug im NS zu kaschieren, sich als Innerer Emigrant der ersten Stunde zu präsentieren, der dem und den Remigranten auf ,moralischer Augenhöhe‘ begegnen darf.

Drittens: Da in einer Radio-Debatte kein Intervall zwischen Rede und Gegenrede liegt, scheint die Chance postwendender Korrektur von Falschinformation hoch, doch glückt Benn das Gegenteil, eine unwidersprochene Vernebelung und Verniedlichung des Selbstanschlusses im frühen NS. Und viertens: So nötig es ist, seiner Selbstbeschreibung blinde Flecken nachzuweisen, es reicht nicht aus, um die Eigenlogik massenmedialer Kampfformen zu verstehen. Zu achten ist auch auf das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung, die Nonchalance, mit der ein Radio-Artist die für ihn vorteilhafteste Vergangenheitsdefinition durchsetzt, wie zum Beweis, dass die schnelle und schön formulierte Information nicht auch noch wahr sein muss.

 „Hierbleiben war keine Bejahung des neuen Regimes“. Der Doktor als Fehlbesetzung

Eine erste Schieflage der Debatte verdankt sich den Einstellungen aller drei Beteiligten. Als de Mendelssohn das Studio betritt, ist ihm geläufig, dass Benn „uns Emigranten nicht sonderlich mag“, und zur Vorbereitung hat er, wie einem Reporter des „Spiegel“ verraten, das Vorwort von „Kunst und Macht“ gelesen. In der Sendung selbst aber wird er darauf verzichten, dem Gegenüber die Nazi-Panegyrik vorzuhalten. Werbung für die Emigranten ist de Mendelssohn wichtiger als Geißelung eines Daheimgebliebenen; eine strategische Vorentscheidung, in die der Respekt eines 42-jährigen Autors vor der literarischen Lebensleistung des gut 20 Jahre älteren, noch dazu anwesenden Kollegen hineinspielen mag. Koch wiederum bemerkt in seinen Erinnerungen treuherzig, Benn habe den Controllern der Besatzungsmächte „zunächst als halber Nazi“ gegolten ‒ später also nicht mehr? ‒; darüber hinaus beschreibt er den erklärtermaßen verehrten Dichter als Opfer kommunistischer Diffamierung. Dass der Remigrant die Kompromittiertheit nicht thematisieren mag und der Moderator sie lieber nicht näher kennen will, hat zwei Effekte.

Der mittelbare ist, dass de Mendelssohn erst nach der Debatte, durch ihren Verlauf provoziert, die belastenden Texte Benns intensiver studiert und daraufhin auf erweiterter Materialbasis eine zweite, halbstündige Sendung im RIAS machen möchte. Gegen sie aber droht Benn 1952 mit Klage, worauf der Sender sie absetzt. Weil de Mendelssohn der Weg über den Äther versperrt bleibt, entschließt er sich, in Buchform mit den Glättungen von „Doppelleben“ abzurechnen. Das heißt, „Der Geist in der Despotie“, sein Langessay von 1953, hat seine indirekte Ursache in der Entrüstung über Benns Selbstzufriedenheit im NWDR. Stoßrichtung und Rezeption der Streitschrift von de Mendelssohn, der erst 2004 von dem Historiker Nicolas Berg angemessen gewürdigten, wären ein eigenes Thema (dazu unten nur ein Kurzkommentar). Bleiben wir hier beim unmittelbaren Effekt, der Voraussetzung der Debatte von 1950.

Da allenfalls vage informiert, weist Moderator Koch Benn die Rolle eines legitimen Sprechers der in Deutschland gebliebenen Autoren zu, ohne dass de Mendelssohn widerspräche. Und der Doktor übernimmt seinen Part klug. Von Anfang bis Ende erweckt er den Eindruck, dass er, was 1933 betrifft, nur seinen Verbleib in Deutschland zu erklären hat; als gäbe es nicht ganz andere Dinge zu rechtfertigen.

Benn: „…ich werde Ihnen im Lauf unserer Unterhaltung es vielleicht noch deutlicher machen können, daß das Hierbleiben zunächst nicht unmoralisch war und auch keine ‒ vorn vornherein eine Bejahung des neuen Regimes.“

De Mendelssohn: „Ich habe das nicht einen Moment angenommen, Herr Doktor, auch nicht unterstellt, um Gottes Willen, nein, nein, nein.“

Das Richtige ‒ der bloße Verbleib in Deutschland war noch nichts Verwerfliches ‒ darf vom Falschen vertreten werden, bei dem Bleiben und Regimebejahung durchaus eins waren, wenn auch nur vorübergehend. Als Stimme in Deutschland gebliebener und doch Nazi-ferner Autoren ist Benn eher eine Fehlbesetzung; besser gepasst hätte er in die Sendung „Der Schriftsteller und die Kollaboration“, nur wäre er der wohl ferngeblieben. Im Übrigen ist die Unbekümmertheit von Kochs Casting zeittypisch. Bis auf wenige Remigranten und Linke interessiert es 1950 niemanden, wie es um die Glaubwürdigkeit vermeintlich unbelasteter Schriftsteller bestellt ist. Hauptsache, sie wenden sich gegen Thomas Manns Urteil, der gesamten Literatur des Dritten Reiches hafte „ein Geruch von Blut und Schande“ an.

Den Ansporn für Kochs Veranstaltung bildet diese Behauptung einer literarischen Kollektivschuld, mit der der Nobelpreisträger die Reserve gegenüber der Inneren Emigration überdehnt hat. Die Pauschalschelte ist nur dazu angetan, die Daheimgebliebenen, so unterschiedlich ihre Vergangenheiten sind, zusammenzuschweißen. Benn profitiert von der Kohäsion, während de Mendelssohn gewissermaßen händeringend versichern muss, keinerlei kollektive Verdächtigung im Sinn zu haben („nicht einem Moment angenommen“).

Tatsächlich enthält sich der Mitbegründer des Berliner „Tagesspiegel“ über die vollen 50 Minuten jeder pauschalisierenden oder individualisierenden Spitze. Er ist nur gekommen, um den deutschen Hörern zu erklären, dass das Fortgehen im Jahr 1933 für jemanden wie ihn „durchaus erlaubt war“, eine „moralische Berechtigung“, weil „Nötigung“ zur Emigration bestand und die meisten deutschen Schriftsteller in der Fremde, so wie er selbst, an der Schreibmaschine verarmten. Man achte nur einmal auf das „erlaubt“: Dass ein jüdischer Rückkehrer an herbe Fakten selbstlegitimatorisch erinnern zu müssen glaubt, sich überhaupt der Vorsicht befleißigt („um Gottes willen, nein, nein, nein“), sagt über das von Mitläufern dominierte Nachkriegsklima alles Wesentliche.

Anders der Sound von Benn. Wenn er auf der Würde der Daheimgebliebenen besteht, fällt zunächst ein obsessives Moment auf. Er antizipiert einen Vorwurf, den sein Gesprächspartner gar nicht erheben will ‒ mehr, von Thomas Manns Suggestion einer Pflicht zum Fortgehen hatte sich de Mendelssohn wenige Sekunden zuvor distanziert. Doch steckt in Benns Bemerkung mehr als übereifriges Verteidigen; ihr Unterton ist offensiv, weist dem Rückkehrer die Position des Unterweisungsbedürftigen zu: „werde Ihnen […] vielleicht noch deutlicher machen können“. Das passt zum Zungenschlag des Autobiographen, der beklagt, dass die Exilanten „so sehr auf uns herabsehen“, um selbst die Herablassung auf die Spitze zu treiben. Nennt Benn seine 1935 begonnene Tätigkeit als Oberstabsarzt in der Reichswehr (später Wehrmacht) eine „aristokratische Form der Emigration“, ist das ein Schlag ins Gesicht der wirklich Geflüchteten, die implizit die plebejische Variante bescheinigt bekommen.

Vorwärtsverteidigung

Bereits die unscheinbare Spitze im Gespräch und die prominente Provokation im Buch verweisen darauf, dass es Benn im NWDR noch um etwas anderes geht als das Thema, das Kochs Eingangsstatement setzt beziehungsweise behauptet: „Endlich ist es wieder soweit, dass ein hiergebliebener und ein fortgegangener Schriftsteller wieder miteinander reden können, wenn sie vielleicht auch in entscheidenden Punkten uneins bleiben werden.“ Läge Benn tatsächlich nur daran, einem Gegangenen die Motive eines Gebliebenen zu erläutern, könnte er sachlich argumentieren. So, wie er es in einer einzigen Gesprächssituation tut ‒ als er feststellt, dass de Mendelssohn sich aufgrund seiner Auslandserfahrung und Mehrsprachigkeit mit dem Fortgehen leichter tat als er sich selbst getan hätte, „der in Deutschland Beruf, Stellung und Wohnung und alles hatte.“ Die hatten auch die jüdischen Deutschen, was der Doktor geflissentlich ,vergisst‘. Aber seine Äußerung enthält schon einen plausiblen Punkt: Wer den Gang ins Ausland und die damit verbundene Unbill vermeiden konnte, blieb legitimerweise. Beschränkte sich Benn auf diese Position, kein Nachgeborener könnte ihm ernstlich widersprechen. Am wenigsten denkt de Mendelssohn daran, er behandelt das Bleiben schon deshalb als verständlich, um das „unsagbare Elend der Emigration“ zu unterstreichen.

Bei Benn aber bleibt nüchterne Selbstauskunft die Ausnahme, da er eine zweite, eine hidden agenda verfolgt. Im Unterschied zu den unbefangeneren der gebliebenen Autoren hat er verdeckt seinen Temporärfaschismus zu verteidigen. Bemerkbar macht sich das in zweifelhafter Selbstdarstellung bei beiläufigem Herabsetzen der Geflohenen, im blitzartigen Umschalten von Abwehr auf Angriff, frühem Jürgen Klopp sozusagen. Die Fertigkeit zeichnet schon des Altmeisters ersten Einsatz in der Sendung aus, die erste Kurzlesung aus „Doppelleben“ (alle Hervorhebungen im Folgenden von MJ).

Ich blieb also 1933 in Deutschland, und zwar zunächst in Berlin. Sofern das Verbleiben in Deutschland einer Begründung bedarf ‒ hier sind einige Begründungen. 1. Den Begriff der Emigration gab es damals in Deutschland nicht. Man wusste, Marx, Engels hatten sich zu ihrer Zeit nach London begeben, um ihre Stunde abzuwarten. In neuerer Zeit waren einige Spanier nach Paris gereist, um den politischen Verhältnissen in ihrer Heimat zu entgehen. Man kannte politische Flüchtlinge, aber den massiven, ethisch untermauerten Begriff der Emigration, wie er nach 1933 bei uns gang und gäbe wurde, kannte man nicht. Man kannte natürlich auch die russischen Emigranten, aber bei denen lag Flucht vor gegenüber Ermordetwerden, das war eine vitale Reaktion, kein gesinnungshafter Protest gegen eine andere Gesinnung ‒ und wer war 1933 fähig und bereit, den 30. Januar in Berlin mit dem 8. November 1917 in Petersburg zu vergleichen? Wenn nun also Angehörige meiner Generation und meines Gedankenkreises Deutschland verließen, emigrierten sie noch nicht in dem späteren polemischen Sinne, sondern sie zogen es vor, persönlichen Fährnissen aus dem Wege zu gehen, die Dauer und die Intensität dieses Vorgehens sah wohl keiner von ihnen genau voraus. […] Wobei mir übrigens einfällt, daß die meisten, die Deutschland damals verließen, keineswegs sich als Kameraden der russischen Emigranten fühlten, vielmehr im Gegenteil als Kameraden derer, vor denen jene flohen. Ich persönlich hatte keine Veranlassung, Berlin zu verlassen, ich lebte von meiner ärztlichen Praxis und hatte mit politischen Dingen nichts zu tun.

Verblüffend ist zunächst die Behauptung eines in Deutschland fehlenden Emigrationsbegriffs. Selbst als de Mendelssohn in seiner Replik auf die Amerika-Auswanderer von 1848 hinweist, bleibt sein Widersacher dabei: „Ich gebe Ihnen vollkommen zu, daß natürlich eine Emigration bekannt war, für Deutschland allerdings nicht.“ Wie erklärt sich dann die mythische Figur des reichen Onkels aus Amerika, an der sich in Deutschland über Generationen die Phantasie von Migrationskandidaten entzündete?

Konzediert man Benn, dass die Figur zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr mit individueller Glückssuche als mit politischem Exil konnotiert war, irritiert eine weitere Ausblendung. Von einer deutschen Emigration aus politischen Gründen wussten keineswegs nur Kenner von Marx und Engels. Der berühmteste Streit der deutschen Literaturgeschichte entbrannte zwischen zwei Exilanten im Paris des Bürgerkönigtums, Heinrich Heine und Ludwig Börne. Kommentiert hat ihn auch Gottfried Benn, welcher 1931 an Heine den Ästheten schätzte, der in Paris Abstand zu den republikanischen Landsleuten hält, den „Tabaksqualm der Volksversammlungen scheut und den Schweißgeruch der Subskriptionslisten.“ Der Benn des Rundfunkvortrags „Die neue literarische Saison“ erinnerte sich der deutschen Exilantengemeinde recht plastisch, während sich der des NWDR-Studios so gar nicht mehr an sie erinnern kann. Es liegt wohl daran, dass Massenmedien „auf schnelles Erinnern und Vergessen“ eingestellt sind (Luhmann).

Im Ernst, der fehlende deutsche Emigrationsbegriff ist natürlich eine Schutzbehauptung. Benn hat die ihm wohlbekannte Möglichkeit der Emigration 1933 aus dem einfachsten aller Gründe verworfen: weil er dabei sein wollte beim ,historischen Aufbruch‘. Warum auch ins Ausland gehen, wenn sich die ahnenschwere Vitalität des Nationalsozialismus bald durch abgelebte europäische Flächen ergießen wird?

Gleichwohl mag man sich fragen, ob die Nebelwerferei zu bekritteln 67 Jahre später nicht ein bisschen billig ist. Wir wissen, dass Benn sich in den Briefen an F. W. Oelze seit November 1934 deutlich von den Nazis distanzierte, ihnen „die Fresse von Caesaren und das Hirn von Troglodyten“ nachsagte und er Oelze schließlich „unendliche Scham über meinen Abstieg“ gestand. Ferner, dass er in dem 1941 einstweilen für die Schublade verfassten, 1949 dann veröffentlichten Text „Kunst und Drittes Reich“ eine Verachtung für die Nazi-Führung und ihre Günstlinge an den Tag legte, die der von Thomas Manns BBC-Ansprachen in nichts nachstand. Kostprobe: „Die großen Wagen genügen ihnen nicht, die wisentumröhrten Waldschlösser, die ergaunerte Insel im Wannsee ‒, kulturell soll Europa sie bestaunen! Haben wir nicht Talente unter uns von der Klangfülle einer Gießkanne […]?“ Famos formuliert. Und 1949 hat Benn die Übereinstimmung mit Thomas Mann selbst herausgestellt.

Wenn er nun nach dem Krieg von einem inexistenten deutschen Emigrationsbegriff fabuliert, könnte man das begreiflicher Frustration zuschreiben. Er sieht sich in der Distanzierung vom Nationalsozialismus eigentlich gleichauf mit dem Bürgerkünstler, hat sich durch den Verbleib in Deutschland jedoch die Möglichkeit genommen, die Kritik des NS noch während desselben öffentlich zu machen. Und ist durch die vierjährige Verspätung leider, dem symbolischen Kapital nach, in Rückstand geraten, in noch größeren als schon durch den Hauptmakel, die zeitweilige Kollaboration. Ist Benn nicht umso mehr versucht, sich einzureden, die Option Exil habe 1933 außerhalb des eigenen Blickfelds gelegen? Zeichnen sich die Unkosten von Lebensentscheidungen ab, suchen Menschen gern nach dem mildernden Umstand Alternativlosigkeit; das kennen wir von uns selbst.

Doch ganz so günstig, im Menschlich-Allzumenschlichen auflösbar, liegen die Dinge beim Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht. Weit entfernt, im drohenden Ansehensverlust den Preis seines Bleibens zu sehen, verteidigt er dieses auch privat im Vorwärtsgang. „Es hat nur Wert in der geistigen Welt, was man wirklich erlebt hat. […] Ich würde auch heute wieder hierbleiben […] wollen“, heißt es in einem Brief von 1949, „und ich spreche den Emigranten das Recht ab, sich als die alleinigen Repräsentanten des geistigen Deutschland zu gerieren.“ Frustration besteht schon, doch gilt sie nicht eigenen Entscheidungen, sie gilt dem Prestige und der Selbstgewissheit der gegangenen Kollegen. Und: Mag Benn die 1933 angeblich unbekannte Emigrationsoption auch aus Selbstschutz erfinden, er führt 1950 keine Selbstgespräche. Seine Geschichtsfiktion wiegt auch die deutschen Hörer in behaglicher Unwahrheit. Ein Schriftsteller, der seit seinen Debüt-Gedichten aus der Pathologie (1912) die Rezipienten erstaunte, verstörte oder empörte, jedenfalls stets forderte, versucht sich mit Anfang sechzig in einer ihm neuen Gattung, im Märchen.

Wir kommen auf die Genreerweiterung zurück; in der soeben zitierten Passage bildet sie nicht einmal das Hauptproblem. Das entsteht erst mit dem Wechsel in den Angriffsmodus, dem Unwillen, sich und andere Daheimgebliebene in Schutz zu nehmen, ohne beiläufig die Exilanten zu verleumden. Ihnen gilt es den moralischen Triumph zu vergällen: Erst erwähnt Benn russische Exilanten auf der Flucht vor Trotzkis Bataillonen, dem „Ermordetwerden“. Wenige Sätze später heißt es von den deutschen Emigranten des Jahres 1933, „die meisten“ von ihnen hätten „übrigens“ auf der Seite der russischen Verfolger gestanden. Ein Syllogismus auf Abstand, doch mit eindeutigem Schluss: Die meisten deutschen Flüchtlinge von 1933 waren Kameraden von Mördern, weil Kommunisten.

Die elegant gebaute Lüge entspricht dem Aggressionspegel von Benns Notizen und Briefen seit 1945. Dort sagt er den Exilanten „hündische Feigheit“ nach, da sie die Werte der Besatzungsmächte teilten, hält ihnen „ihr Rechthaben u(nd) Ihr in drei Weltteilen vertretenes Besserwissen“ vor, spricht ihnen moralische Überlegenheit ab, in einer grellen, wenn auch bibelfesten Metapher: „Sie haben sicher viel gelitten, aber am Kreuz hingen wir, und der Essig war in unserem Schlunde.“ Im Licht des privat durchbrechenden Ressentiments wird das Motiv der Kommunistenpointe im veröffentlichten Text verstehbar. Da spürt einer ob seiner Vergangenheit die Gefahr, gegenüber Heinrich und Thomas Mann sowie Alfred Döblin für immer ins Hintertreffen zu geraten, was literarpolitisches Ansehen betrifft. Wo aber die Gefahr wächst, wächst das Denunziationstalent auch.

Merkwürdig im Übrigen, zwischen einer Flucht aus Furcht vor „persönlichen Fährnissen“ und einer „polemischen“ Emigration zu unterscheiden. Woran sich schon de Mendelssohn stößt und wogegen er einwendet, dass „Emigration in jedem Fall immer Flucht ist vor Fährnissen. […] Man flieht vor Menschen oder vor Ideen oder vor Menschen, die Ideen repräsentieren.“ Und umgekehrt: „Für mich gibt es keine nichtpolemische Emigration.“ In der Tat, hätten z. B. die beiden Manns, die nur aus niederen Motiven gegangen sein sollen, aus „gesinnungshafte(m) Protest gegen eine andere Gesinnung“ ‒ womit der Unterschied zwischen demokratischer und faschistischer schon mal eingeebnet ist ‒, hätten solchen Autoren in Nazi-Deutschland keine „Fährnisse“ gedroht?

Und wie hat man sich den Ortswechsel von Benns jüdischer Lebensfreundin vorzustellen? Als Else Lasker-Schüler im April 1933 tätlich angegriffen wird und nach Zürich flieht, verlässt sie da Berlin unpolemisch, also ohne dem Adolf jetzt böse zu sein? Benn dürfte es eher nicht angenommen haben. Lasker-Schüler, die er 1952 als die „größte Lyrikerin“ würdigen wird, „die Deutschland je hatte“, fand er 1934 ja unangenehm gestimmt: „fanatisch antideutsch u.[nd] lügt wie alle so hysterischen Menschen.“

Vielleicht will der Radio-Veteran mit seinem Eingangsstatement nur den Bildungsauftrag von Kochs Nachtprogramm erfüllen, hier: dem ein oder anderen Antisemiten vorm Rundfunkgerät beibringen, dass Chuzpe nichts spezifisch Jüdisches ist. Dafür spricht zumindest die Coda: „Ich persönlich hatte keine Veranlassung, Berlin zu verlassen, ich lebte von meiner ärztlichen Praxis und hatte mit politischen Dingen nichts zu tun.“ Unpolitisch ist also der Mediziner, der im September 1933 ganz sachlich von der „Ausschaltung des unerwünschten“ und „Erhöhung der Fruchtbarkeit des erwünschten Lebensmaterials“ schreibt, davon, dass die „Reinigung des Volkskörpers nicht nur aus Gründen der Rasseertüchtigung, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen erfolgen muss“. Unpolitisch ist es, im April ’33 die „Tatsache eines vollkommenen, geschichtlich logischen, von echten menschlichen Substanzen ernährten Sieges der nationalen Idee“ zu feiern und zu empfehlen, „die öffentliche Meinungsäußerung nur denen zu gestatten, die auch die öffentliche Staatsverantwortung tragen“.

Ebenso unpolitisch ist es, im Mai ’33 via Rundfunk Klaus Mann und mit ihm allen literarischen Emigranten nachzurufen: „Da sitzen Sie also in Ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates, dessen Glaube einzig, dessen Ernst erschütternd, dessen innere und äußere Lage so schwer ist, daß es Iliaden und Äneiden bedürfte, um sein Schicksal zu erzählen.“ Beschreibt der Benn im Radio von 1950 sein Ich von ’33 als unpolitisch, lernen wir, dass das postfaktische Zeitalter lange vor Donald Trump begonnen hat.

„Wovor sollte man emigrieren?“

So deutlich die Widersprüche zwischen Selbstbeschreibung und Realverhalten ausfallen, beachtenswert ist das Geschick des Sprechenden und ein Moment von Überzeugtheit. Im Gebrauch der Vokabel „Badeorte“, mit der sich die Geflohenen 1933 als Urlauber im Politgewand abgestempelt sehen, steckt eine zählebige Missgunst. Ausweislich der Biographie von Holger Hof („Der Mann ohne Gedächtnis“, 2011) waren für Benn zwei mehrwöchige Südfrankreich-Reisen, unternommen 1928 und 29 auf Einladung des Kunsthändlers Zatzenstein, der Höhepunkt seines touristischen Vergnügens. Woraus wir schließen dürfen, dass er Klaus Mann, als der ihm im 1933 seinen offenen Beschwerdebrief ausgerechnet aus Sanary sur Mer schickt, tatsächlich als privilegiert empfindet, wie dessen ganze Familie. Man selbst kommt viel zu selten raus aus Kreuzberg!

Nach 1945 ist die Vorstellung vom komfortablen Exilantenleben unter den geschlagenen Deutschen virulent. Frank Thiess etwa, der Lauteste der Inneren Emigranten, sagt Thomas Mann eine „weichgepolsterte Existenz in Florida“ nach, im Eifer des Gefechts Pacific Palisades an den Atlantik verlegend. Benn weiß auf derselben Klaviatur dezenter zu spielen. De Mendelssohn bescheinigt er nicht allein größere Auslandserfahrung. „Sie waren zu Hause in Paris und in New York und in London, nicht wahr“ klingt ein wenig so, als habe jener beim Fortgang 1933 kein großes Opfer bringen müssen. Es klingt vor allem dann so, wenn man vorher in frecher Süffisanz fragt: „Herr von Mendelssohn, würden Sie die Güte haben, mal zu sagen: Wovor sollte man emigrieren?“ Als verstünde sich das bei einem Deutschen jüdischer Herkunft nicht von selbst, als hätte der sich damals mutwillig verabschiedet, um auf Grand Tour zu gehen. Und kaum hat der Widerpart von einem Leid der Emigration gesprochen, kommt Benn mit der nächsten Aufgabe: „Erlauben Sie, diese Frage wollte ich ihnen vorlegen: was eigentlich war das Bitterste an der Emigration? Das möchte ich wissen.“

Dabei ist ihm das Los jener Geflohenen, die nicht Thomas Mann heißen, durch seinen alten Verlegerfreund bekannt, den sich in New York durchschlagenden Erich Reiss: „Ihre Odyssee, die Sie schildern, bis Sie im jetzigen Appartment gelandet sind, rührt mich sehr“, schreibt er 1947. „Ich habe mir oft vorgestellt, wie ungeheuer schwierig es drüben ist, Fuß zu fassen und Geld zu verdienen.“ Zu Recht nennt es Decker, dem wir den Hinweis auf diesen Briefwechsel verdanken, seltsam, wie wenig Verständnis Benn dann im Rundfunkgespräch für die Exilanten zeigt. Er stellt sich dumm. Doch hat das schon seinen Sinn. Abgesehen davon, dass Benn den seit Längerem zum Dunstkreis der Familie Mann zählenden de Mendelssohn als einen der beneideten Luxusmigranten wahrnehmen dürfte, abgesehen von kleinbürgerlichen Reflexen ist es Strategie, wenn er den Antipoden mit einer Frage nach der anderen eindeckt. „Würden Sie die Güte haben?“, „erlauben Sie“ ‒ mit jeder suggeriert er, der Rückkehrer habe sich zu erklären, nicht etwa umgekehrt. Mit jeder kommt er Fragen nach seinem eigenen Verhalten zuvor. Ein verbales Gegenpressing.

Dessen ungeachtet bietet Benn zwei offene Flanken, wenn er retrospektiv politisches Desinteresse behauptet. Zum einen schreibt er sich damit eine Haltung zu, die ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt als eine im Jahr 1933 unzulässige Apathie kritisierbar ist. Wie sichert er sich vor der naheliegenden Vorhaltung? Zum anderen fährt er mit der kontrafaktischen Selbstdarstellung einen riskanten Kurs. In der Interaktion mit einem jüdischen Gegenüber vor offenem Mikrofon kann er nicht ausschließen, bloßgestellt zu werden; er weiß ja nicht, was de Mendelssohn über seine Auftritte vor 17 Jahren weiß. Als Vertrauter der Manns wohl eher mehr als weniger. Wie also mögliche und womöglich bissige Hinweise auf die alten Texte neutralisieren?

„Das Judenproblem“

Was die Rechtfertigung von Passivität betrifft, ist die dafür zentrale Passage der zweite Abschnitt aus „Schatten der Vergangenheit“, wie der erste von Benn vorgelesen. Soeben hat er erwähnt, dass ihm 1933 ein „üble[r] antisemitische[r]“ Programmpunkt der NSDAP geläufig war. Aber:

Es gab, glaube ich, zweiundzwanzig Parteien, also ebensoviel Parteiprogramme, alle beschimpften sich untereinander und gegeneinander, sehr fein war keines, und wie sich dann später zeigte, das Senecasche Qui potest mori, non potest cogi ‒ galt für keines. Daß die Parteiprogramme verwirklicht würden, das konnte man nach den Erfahrungen mit den politischen Verhältnissen überhaupt auf keinen Fall erwarten. Zum Beispiel enthielt das nationalsozialistische Parteiprogramm auch jenen Punkt: ,Brechung der Zinsknechtschaft‘ – und die Zinsen spielten dann doch eine größere Rolle als je, und die Kapitalien und Investitionen wurden reichlich verteilt […], und was gebrochen wurde, war etwas ganz anderes, aber nicht der Zins ‒ also wörtlich konnte man diese Parteiproklamationen doch wirklich zunächst nicht nehmen, zunächst ‒ dann allerdings, als sie ihre Rassentheoreme praktizierten, schauerten einem die Knochen, aber das war noch nicht 1933.

Die Erinnerung zeugt zwar von schlechtem Gedächtnis ‒ mit Rassentheoremen hantierte der Hobby-Eugeniker 1933 selbst. Auch enthält der historische Abriss hanebüchene Elemente. Seit dem 30. Januar 1933 war die NSDAP nun einmal mehr als eine von 22 Parteien, sie regierte, und ihre Entschlossenheit zur Verwirklichung des Programm hat sie wenig später demonstriert; es sei denn, man hält das im März ’33 in der Krolloper durchgepeitschte Ermächtigungsgesetz für Theaterdonner. Auch wird man fragen dürfen, warum die frühe Ausschaltung des ,linken‘, des Strasser-Flügels in der NSDAP etwas an der Bedrohlichkeit des antisemitischen Programmpunkts hätte ändern sollen. Wie ernst er der Partei war, konnte einem in der Belle-Alliance-Straße kaum entgehen. Goebbels’ Hetzkampagne gegen den jüdischen Polizeivizepräsidenten, Bernhard Weiß, war seit Ende der 1920er Jahre Berliner Stadtgespräch, und 1933 erging gegen Weiß Haftbefehl.

Wahrheitsfixierte Gegenreden wie diese lassen allerdings außer Acht, dass die Leitdifferenz von Massenmedien nicht wahr/falsch ist, sondern Information/Nicht-Information. So gering der Wahrheitswert der Realitätskonstruktion ist, allemal gegeben ist die den Informationswert ausmachende Neuheit. Auf die Idee, Hitlers Scheinsozialismus sei als Entwarnung in Sachen Antisemitismus lesbar gewesen, ist nur Benn gekommen, soweit ich sehe. Und er entwirft eine Geschichtsfiktion, in der sich die bildungsbürgerliche Klientel der Koch’schen Kulturstunde gern wiedererkannt haben dürfte: Ja, auch ich war ein Unpolitischer, über der Parteien Gunst und Hader, und die Gefährlichkeit der NSDAP war nicht absehbar. Beruhigende Botschaften, wie sie sich für eine zwischen 23 und 0 Uhr ausgestrahlte Sendung gehören.

Subjektiv ermöglicht werden die Beschönigungen durch Wahrheitsanteile. Was den unpolitischen Autor angeht, so war der Benn von 1933/34 zwar das Gegenteil; zuvor und danach jedoch war er es seinem Selbstverständnis nach ja tatsächlich. In den 1920er Jahren kultivierte er eine apolitisch-elitäre posture und sah sich dafür vom Journalistensozialisten Kisch als widerlicher Aristokrat beschimpft; seit Oktober 1933 ging man ihn von ganz rechts für seine expressionistischen ,Sünden‘ an, was sein öffentliches Verstummen seit Ende ’34 beförderte. Mit anderen Worten: Das „ich […] hatte mit politischen Dingen nichts zu tun“ ist nicht aus der Luft gegriffen, es lässt die politisierte Phase der eigenen Person einfach aus ‒ eine Extremselektion.

Glaubhaft ist, dass Benn den gleißenden Antisemitismus der NSDAP ablehnte. Lasker-Schüler, Carl Einstein und Carl Sternheim, jüdische Verleger wie Reiss und besagter Kunsthändler zählten über Jahrzehnte zu seinen Freunden. Und was sich 1933 tatsächlich nicht voraussagen ließ, bekanntermaßen selbst für die Betroffenen unvorstellbar blieb, war der Holocaust. Heikel allerdings ist Benns Selbstdarstellung als einer, der über antisemitische Impulse zu jedem Zeitpunkt völlig erhaben gewesen wäre, wie es die Kombination der Formulierungen „übel“ und „schauderten einem die Knochen“ nahelegt.

In „Doppelleben“ folgt darauf noch eine tiefe Verbeugung vor dem „jüdischen Anteil der Bevölkerung. Die überströmende Fülle von Anregungen, von artistischen, wissenschaftlichen, geschäftlichen Improvisationen, die von 1918-1933 Berlin neben Paris rückten, entstammten zum großen Teil der Begabung dieses Bevölkerungsanteils, seinen internationalen Beziehungen, seiner sensitiven Unruhe und vor allem seinem todsicheren Instinkt für Qualität.“ Ja, Stil, Klasse, Format! Graf Gottfried weiß es zu schätzen. Nur hörte sich das im Brief vom 23. September 1933 an Gertrud Zenzes in San Francisco etwas anders an: „Was nun das Judenproblem angeht, […] so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85 % Juden, den Rechtsanwälten 75 %. […] Es ist doch vollkommen selbstverständlich, daß dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde.“

Das letzte Zitat überführt die beiden vorherigen nicht unbedingt der Heuchelei. Aber es zeigt, dass sich in Benns Verhältnis zu Juden der Respekt des Künstlers und der Sozialneid des unzufriedenen Freiberuflers neutralisierten. So fiel 1933 Anti-Antisemitismus als ein Korrektiv der vielfach konstatierten anti-demokratischen Züge seines Denkens aus.

Vereinnahmungskunst

Bleibt die Frage, wie sich der Debattant von 1950 dagegen rüstet, dass ihm frühere Entgleisungen unter die Nase gerieben werden, etwa das radioverstärkte (und -befeuerte!) Lob des Nazismus „als eine der großartigsten Realisationen des Weltgeistes überhaupt“. Zu berücksichtigen ist dabei eine für den Nachkriegs-Benn erkennbare und günstige Entwicklung. Faktisch ist den aus Nazi-Deutschland geflohenen Autoren nur eine der angebräunten Reden und Essays im Gedächtnis geblieben. Die Replik auf Klaus Mann, auf die enttäuschten Worte eines gewesenen Bewunderers, war eben sein einziges Bekenntnis zum Nationalsozialismus, das sich direkt an die Exilanten richtete. Zumal auch eine aktuelle Kritik des Remigranten Hermann Kesten an „Doppelleben“ausschließlich die „Antwort an die literarischen Emigranten“ angesprochen hat, konzentriert sich Benn im Studio darauf, diesen einen Ballast zu entsorgen. Sein erster Rekurs fällt kess aus.

Benn: „Herr von Mendelssohn, es freut mich sehr, dass wir uns darüber unterhalten. Ich habe Ihre Bücher zum Teil gelesen und bin da in einem Buch von Ihnen, einem Roman: ,Das zweite Leben‘, auf seltsame Sätze gestoßen, die eigentlich meinen Standpunkt vertreten. Darf ich Ihnen mal einige vorlesen?“

De Mendelssohn: „Ja, ich glaube, mich zu erinnern, was Sie meinen, obwohl ‒.“

Benn:Also hören Sie mal, das sind Sätze, die wörtlich ich geschrieben haben könnte, 33, in der Antwort auf Klaus Mann. ,Ja, der Geistliche hat vollkommen recht, es hat keinen Sinn, das Land zu verlassen. Man kann von außen her nichts tun, ich habe über diesen Punkt viel nachgedacht, und jetzt sehe ich vielleicht klarer darin. Die Stimme von draußen ist die Stimme eines Toten. Sie tönt nicht über die Grenze, sie kann das Herz des Volkes nicht mehr erreichen. Bist du einmal draußen, dann bist du ein toter Mann.‘ Und eine andere Stelle dicht hinterher: „Also, ob ich mich mit Politik befasse oder nicht, von draußen wäre ich nicht imstande, mich vom Schicksal meines Landes und meines Volkes loszusagen.‘ Also eigentlich ist das ja eine Behauptung, wie ich sie hier vertreten müßte. Es sind sehr schöne Sätze, und ich habe sie mit Bewunderung gelesen. Was sagen Sie dazu jetzt, zu Ihren Sätzen?“

De Mendelssohn: „Bitte, ich sage dazu, daß es nicht meine Sätze sind, denn diese Worte stammen, wenn ich mich recht erinnere, aus einem Gespräch zwischen dem Herrn Lendning, dem ‒.“

Benn: „Lendning, der aber eine Ihrer Hauptfiguren ist ‒.“

De Mendelssohn: „Ja, richtig, Herr Doktor, das Buch ist in der Ich-Form geschrieben, der Erzähler ist derjenige, der emigriert. Sein Gegenspieler, sein Freund, Memling, dem ich mit Absicht einen alten deutschen Namen gegeben habe, ist derjenige, der diese Worte spricht und der ja auch nicht emigriert, sondern bleibt. Er, der Memling, ist der damals noch gar nicht sehr bekannte Typ des Untergrundkämpfers, nicht wahr. Was Sie vorgelesen haben, ist die Scheidung der Geister. Ich persönlich teile den Standpunkt von Memling nicht. Ich hab ihn aber dargestellt, weil er existierte und weil er ‒.“

Benn: „Eben, dass Sie überhaupt erst darauf gekommen sind, zeigt ja doch, wie außerordentlich ernst Sie diese Dinge durchdacht haben und wie Sie auch der Gegenseite gerecht werden wollen eigentlich.“

Was passiert hier? Erstens, Sie haben es bemerkt, setzt der Dichter die Stimme einer Romanfigur mit dem Standpunkt der Autorperson gleich. Ein grober Verstoß gegen gute literaturwissenschaftliche Sitten; leistet man sich so etwas in einem Seminar von Jürgen Joachimsthaler, fällt man in Ungnade. Einfach verwechselt hat Benn Figurenrede und Autor natürlich nicht. Bewusst unterschiebt er die eine dem anderen, um de Mendelssohn als Kronzeugen zu vereinnahmen, der die Meinungen der „Antwort“ teile. Staunenswert am Verfahren ist nicht nur die Identifikation von Protagonist und Autorperson; bizarrer noch mutet Aussage zwei an, die Memling-Figur vertrete das Gleiche wie der Benn von 1933.

Zum Vergleich: Der fiktive Untergrundkämpfer weigert sich, Deutschland zu verlassen, da sich von außen die Bevölkerung nicht zum Sturz der Nazi-Führung bewegen lasse. Etwas anders Rundfunkredner Benn nach der Machtergreifung. Er sagte der Emigration ab, weil er am Nazi-Staat mitarbeiten wollte ‒ ein unorthodoxer Untergrundkampf. Des Doktors ,Erinnerung‘ behandelt entgegengesetzte Motive fürs Bleiben in Deutschland wie identische. Aber die Kühnheit ist noch steigerungsfähig.

Benn: „Und wenn Sie jetzt sagen, er [Memling] ist ein Vertreter der Untergrundbewegung, könnte ich sagen, jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung. Er mußte auch ausstehen und mußte auch ‒.“

De Mendelssohn: „Das möchte ich Ihnen nicht einen Moment abhandeln wollen. Aber ich muss mich doch dagegen verwahren, daß mir das als mein persönlicher Standpunkt unterschoben wird.“

Benn: „Es war nur lobend und erfreut und anerkennend.“

De Mendelssohn: „Ja, und ich schätze das. Es ist aber nicht meine Ansicht. Es ist nicht meine Auffassung.“

Vollendet ist die Volte erst mit diesem dritten Schritt. Die Bemerkung „jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung“ wirft Benn ein, direkt nachdem er Memlings und seine eigene Rede in eins gesetzt hat. Durch die Abfolge evoziert er nicht nur einen ominösen Massenwiderstand, er manövriert sich in dessen Nähe.

Welche Faktoren begünstigen eine Selbst- und Fremdverklärung von respektablem Ausmaß? Im NWDR weiß sich ein Medienintellektueller im abwertenden Sinne Bourdieus zu betätigen: ein fast-thinker. In hohem Tempo setzt Benn Behauptungen in die Welt, die fragwürdig, aber situativ wirksam sind, konterkarierbar erst durch längere Begründungen, die im Medium selbst vorzubringen wenig Zeit bleibt. De Mendelssohn etwa, verständlich perplex, hat genug damit zu tun, sich gegen die Gleichsetzung von Figur und Autor zu wehren. Schon dies, nicht allein seine generöse Grundlinie, hindert ihn nachzuhaken, worin denn die suggerierte Opposition der Vielen im NS bestanden haben soll.

Doch auch rein deskriptiv kann Benn als früher Medienintellektueller gelten, in Radio-Debatten versiert. „Was sagen Sie dazu jetzt, zu Ihren Sätzen?“: Die so triumphierend gestellte Frage ist ein Glied der Fragekette, mit der Benn de Mendelssohn durchgehend in die Defensive zu treiben sucht. Zugleich insinuiert er, der Widersacher bestätige Benn‘sche Positionen unfreiwillig. Weder die Kette noch die Strategie düpierenden Umarmens dürften Eingebung gewesen sein, wie einem neueren Aufsatz von Torsten Hoffmann zu Schriftstellergesprächen im Rundfunk um 1930 entnehmbar ist.[2] Beide Techniken konnte der Hörer Benn am 2. Februar 1930 vom Debattierstil Ernst Tollers in der Funk-Stunde Berlin lernen. Vier Wochen später, in einem Streitgespräch mit Johannes R. Becher am gleichen Ort, wählte Benn selbst die Rolle des permanenten Fragestellers. Zwei Jahrzehnte später, in der Emigrantendebatte, kommt er auch deshalb gut über die Runden, weil er an beide Elemente der Methode Toller anknüpft, sie der Linken entwendet.

Indem Benn die Lesung aus der Autobiographie durch gut einstudierte Einschnürungstechniken ergänzt, macht er wett, was Koch später als seine Unterlegenheit beschreiben wird: Mit freiem Sprechen tat sich Benn schwer, anders als der darin viel gewandtere de Mendelssohn. Was der Moderator sieht, das Am-Blatt-Kleben, ist für die Hörer ohnehin nur erahn-, allenfalls vorm inneren Auge sichtbar. Im Radio lässt sich mit etwas Geschick ausgleichen, was in der Telekratie hölzerne Performanz wäre. 

Aber wie gesagt, am meisten profitiert der Doktor von der Konzilianz seines Kontrahenten, der den Temporarfaschisten nicht bloßstellt ‒ und sich dafür bestraft sieht. De Mendelssohn muss erleben, wie Benn ihn einzuspannen, ja vorzuführen sucht („es war nur lobend“). Wobei seine langfristige Reaktion verdeutlicht, warum Medienschelte à la Bourdieu hier zu kurz greift. Nachdem de Mendelssohn einen überfallartig agierenden, auch herrischen Gesprächspartner kennengelernt hat („also hören Sie mal“), kommt er zum oben erwähnten Entschluss, mit Benn fortan schonungslos umzugehen. So gesehen stiftete erst das Radio, der von Koch hergestellte Kontakt und dessen Ergebnis, eine Anschlusskommunikation notwendig kritischerer Art. Im Übrigen brachte das Mikro am deutlichsten an den Tag, dass von Benns Scham, der Mitte der Dreißiger bekundeten, einer eindrucksvollen Gemütsregung, wie ich finde, wenig übrig geblieben ist.

Eigenwillige Romantik

In planer Täuschung der Öffentlichkeit geht des Doktors Auftritt nicht auf. Andere Register zeigt der zweite Rückbezug auf die „Antwort“: sich in bestimmten Ideologemen bestätigt sehen oder einen Fehler in der Vergangenheit andeuten, um ihm die noch vorteilhafteste Deutung angedeihen zu lassen.

Eine These der „Antwort“ lautete, Geschichte verfahre nicht demokratisch, sondern irrational, was die Emigranten in ihrer Vernünftelei nicht begriffen. An seine aufklärungsaversive Position von ’33 schließt Benn im Radio-Dialog an, nunmehr ganze Namenskolonnen auffahrend, um ein „Dilemma der Geschichte“ glauben zu machen. Will heißen: ihre schicksalhafte Gewaltförmigkeit. Wallenstein, Prinz von Homburg, Napoleon-Vergötterung, Alexander der Große, die ostindische Kompanie, Cortez ‒ bloß Attila hat der Reihungskünstler vergessen. Im erhabenen Panoramablick auf die Geschichte schrumpft Hitler zur jüngsten Erscheinungsform der „oft gesetzesverleugnenden, moralumschaffenden Tapferkeit des Mannes ‒ so kam es auf uns.“ Benn gelingt es, die Spezifik des NS in der Soße des Allgemeinen verschwinden zu lassen, und legt dabei eine beachtliche Konsequenz an den Tag: „Jeder Verkehrspolizist ist Gewalt.“

Selbstverleugnung kann man ihm nicht vorwerfen, zu fatalistischem Geschichtsverständnis tendierte er schon seit Ende der 1920er Jahre. Doch der Anschluss an die Position von 1933 fällt selektiv aus. Unhaltbar, weiß er, ist zum Beispiel folgender Satz aus der „Antwort“ zur Erklärung des nationalsozialistischen Triumphs: „Es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert, und ein Volk will sich züchten.“ Wie solch eine Formulierung oder auch die vom Walten des Weltgeistes entsorgen ‒ ohne sie zu zitieren? Auch da gibt es eine schöne Lösung: „Klaus Mann schrieb mit einen außerordentlich wunderbaren Brief, höflich, liebenswürdig, charmant, aus Sanarie in Südfrankreich. Ich antwortete in dem dann bekannt gewordenen Brief an die literarischen Emigranten, den ich ja heute nicht mehr vollkommen aufrecht erhalte, sondern ihn sehr ‒ romantisch finde.“

Das war’s. „Romantisch“ deckt alle wunden Punkte ab. Wer eine biologistische Überhöhung von Gewaltherrschaft romantisch findet, kreiert den Euphemismus des Jahrzehnts, nur dass Benn an seine Selbstdeutung zweifellos glaubte. Sie fungierte als eine Sichtblende, mit der er sich und anderen verdeckte, dass im Wonnemonat Mai des Jahres ’33 weniger ein Romantiker sprach als ein machtbewusstes Akademiemitglied, das die Gelegenheit nutzte, kraft des Rundfunks die linksliberale und großbürgerliche Fraktion im literarischen Feld zu demütigen. Davon zeugte neben der Belehrung für die „Troubadoure des westlichen Fortschritts“, einer „flache[n], leichtsinnige[n], genusssüchtige[n]“ Geschichtsauffassung anzuhängen, vor allem die höhnische Frage an Klaus Mann, den ach so liebenswürdigen: „Meinen Sie, sie [die Geschichte] sei in französischen Badeorten besonders tätig?“

Im Karriereinteresse sowie in habitueller und politischer Abneigung später ein Motiv der eigenen Verirrung zu erkennen, erquickt allerdings wenig. Behaglicher ist es, eine größere Verfehlung, hat man sie erkannt, als romantisch zu verniedlichen. Ein Attribut wie kokettes Achselzucken, es klingt wie „war noch trunken vom Fackelzug“ und fast so charmant wie „Irren ist bennschlich“.

Für und Wider normativer Beschreibung 

Selbstmissverständnisse sollen schon mal vorkommen. Und ist Eigennachsicht nicht verständlich? Hat Benn 1950 nicht auch gute Gründe für ein positives Selbstbild? Da sind die heimlich verfassten Schriften, die schon Mitte der Dreißiger, trotz politisch unkorrekten Vokabulars, der NS-Ideologie eindeutig absagten: „Völker, die den Geist nur in den Siegen der Geschichte und im Gelingen von Grenzüberschreitungen erblicken, sind niedere Rasse“ („Weinhaus Wolf“, 1937). Da ist die Verfemung des ehemaligen Expressionisten als entarteter Künstler 1936 und sein Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer zwei Jahre darauf. Wen wundert es, wenn in seiner Selbstwahrnehmung diese längere, verstrickungsfreie Phase schwerer wiegt als die kürzere, ungute zuvor ‒ nicht der kleinste Grund für sein Selbstbewusstsein im Studio.

Die Crux besteht darin, dass Benn nach dem Krieg die Gewichtung der ungleichen Perioden nicht der Öffentlichkeit überlassen will. Was einer Überreaktion geschuldet sein dürfte: Seit die Wochenzeitung „Sonntag“ am 31.12.1947 Auszüge aus Thomas Manns Tagebüchern 1933 und 1934 wiedergegeben hat, die Benn namentlich als einen der Intellektuellen nennen, die „mit unterworfenen und begeisterten Hirnen mitgemacht haben“, steht er unter Zugzwang. Statt nun darauf zu vertrauen, dass mit dem Abdruck von „Kunst und Drittes Reich“ in „Ausdruckswelt“ (1949) das Bild des Inneren Emigranten das des Mitläufertums überlagert, versucht er Letzteres zu bagatellisieren oder ganz zu leugnen. Auch wenn er den Begriff Innere Emigration nicht expressis verbis gebraucht ‒ seinen Verhaltenswechsel in der Diktatur aussparend, weist er schon seiner Haltung von 1933 beide Merkmale zu, die mit dem Terminus im Nachkriegsdiskurs verbunden und untereinander nicht recht kompatibel sind: Politikferne und (zumindest innere) Opposition.

Apolitisch aber war die vom Rundfunkredner 1933 betriebene Ästhetisierung des Politischen nicht. Sie war faschistischer Gleichschaltungspolitik dienstbar, das ignorieren literaturwissenschaftliche Reden von einer „Entpolitisierung des Nationalsozialismus“[3] bis heute. Sich ex post einer Opposition schon im frühen NS zuzurechnen, grenzt an unfreiwillige Komik, wenn man im März ’33 den Akademiekollegen jeden Protest gegen die Regierung Hitler schriftlich hat verbieten wollen. Und so honorig Benns spätere Distanzierungen vom NS sind, sie hatten, weil nicht für die aktuelle Öffentlichkeit bestimmt, mit Untergrund so viel zu tun wie Sigmar Gabriel mit der Weltrevolution. Die Innere Emigration um eineinhalb Jahre rückzuverlegen und zu überhöhen, fällt unzweideutig unter Selbstverklärung ‒ mag der diplomatische Dienst der Benn-Philologie da auch eines der „moralisch-normative[n] Urteile“ wittern, die seriöse Forschung zu „suspendieren“ hat.[4] Artiger ist es natürlich, die Rückverlegung unter den Tisch fallen zu lassen[5] und den Unterschied zwischen privatem und öffentlich erkennbarem Protest durch die Wendung „unverhohlene Gegnerschaft“ abzudunkeln.[6]

Begnügte man sich allerdings mit dem Befund Benn‘scher Faktenentstellungen, würde man nur sein Sündenregister von 1933, das von den 68ern erstellte, um spätere Einträge erweitern. Und ist es so überraschend, dass ein Autor, der eine unrettbare Schaffensperiode zu retten sucht, sich nur neue Blößen gibt? Ein Haken auf Entlarvung zielender Lektüren ist auch, dass gar nicht ausgemacht ist, ob Benn das bad guy-Image noch schadet. Manch einer findet schon die Kombination Moderne-Temporärfaschismus hip; erst vor kurzem adelte Benjamin von Stuckrad-Barre Benn zu einem der „Nazis, die okay waren“ ‒ 1a verrucht, wie Hamsun. Vom Schielen auf Entzauberungsgewinne ist also abzuraten, sie fallen gering aus. Erinnernswert ist die Märchenstunde im Radio vielmehr, weil sie die Leistung von Benns Gegenspieler und das Repräsentanzproblem der Inneren Emigration dimensioniert.

Quertreiber de Mendelssohn

Decker gebührt das Verdienst, als erster und bis heute einziger Benn-Biograph de Mendelssohn ausführlich zu Wort kommen zu lassen (ausführlicher auch, relativ, als mein auf Benns Selbstdarstellung zentrierter Text). Überdies bringt „Genie und Barbar“ auf den Punkt, wie sich ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier gegenüber dem Remigranten aufführte: „wie der letzte Blockwart des Dritten Reiches“. Aber eine allzu „moralische Argumentation“ des Debattanten und dann auch des Essayisten de Mendelssohn kolportieren?

Mir scheint, im Studio verficht der Rückkehrer nur das zivilisatorische Minimum, wenn er das „Dilemma der Geschichte“ als Unabänderlichkeitsgerede kenntlich macht, einfach indem er bezweifelt, „ob es sich um ein wirklich ewiges Gesetz handelt, beziehungsweise ob dieses Gesetz nicht durch Menschenvernunft und Menscheneinsicht abgewandelt werden muss“. Beanstanden könnte man allenfalls zu wenig Moralisieren. Doch de Mendelssohns Verzicht aufs Dekuvrieren der Gegenseite war wohl die Voraussetzung dafür, das Emigrantenschicksal überhaupt schildern zu können. Hätte er Benns Schwachstellen auch nur angetippt, wäre die Diskussion eskaliert, so steht zu vermuten.

Wer dem Essayisten seinen entrüsteten Tonfall ankreidet, übergeht, a) wie faktenfern Benn vorher am Image des unbelasteten Autors gestrickt hat, b) dass de Mendelssohn die Beschönigungen seit dem 25. März 1950 massenmedial popularisiert weiß. „Die Sendung hatte einen Erfolg, wie man es im Zeitalter der Telekratie einer Rundfunksendung nicht mehr zutraut.“ (Koch) Auch fällt die zeitgenössische „Doppelleben“-Rezeption fast ausnahmslos positiv aus. Wenn sie Benns Verhalten von 1933/34 überhaupt anspricht, spielt sie es zum „grandiose(n) Irrtum“ herunter; Wörter wie „Macht“ und „Interesse“ kennt sie nicht. Spätestens mit dem Erhalt des Büchner-Preises von 1952 gleicht der Dichter einem Goethe der Mitläufer. Kurz, eine Kritik war überfällig ‒ aus der Teilnehmerperspektive de Mendelssohns, subjektiver Dringlichkeit. Aber nicht auch aus heutiger Sicht? So überdrüssig viele der Diskussion um frisierte Nachkriegsbiographien sind, vergessen wir nicht: de Mendelssohns Kommentar war damals der einzige, der Benns Problemzone ernsthaft verhandelte, ein Solitär im Entlastungsdiskurs.

„Der Geist in der Despotie“ trifft neuralgische Punkte, über die sich selbst noch das aktuelle Benn-Handbuch (bei allen sonstigen, großen Verdiensten)[7] ausschweigt. „Niemand zwang ihn, Dinge zu schreiben, die er nicht schreiben wollte.“ Heißt: Zu den Berufsschriftstellern, auf die man 1933/34 finanziellen Druck ausüben konnte, zählte Benn nicht. Als Dichterarzt wäre er in der Lage gewesen, den literarischen Laden sofort dicht zu machen und nur von seiner Praxis zu leben. Und wie könnte sich eine jüdische Stimme nicht daran stoßen, dass der Artist versuchte, den Nazis den Expressionismus als rein „arische“ Bewegung anzudienen, die jüdischen Beteiligten, darunter einige seiner Freunde, totschweigend? „Seine öffentliche Liebe zu“ Else Lasker-Schüler „entdeckte Benn erst zwanzig Jahre später wieder“, bemerkt der Beobachter einer On-Off-On-Beziehung in angemessenem Sarkasmus. Dem wir so viel entnehmen können: Die Hymne von 1952 auf Deutschlands größte Lyrikerin verdankte sich auch dem ,Wiedergutmachungs‘-Bedarf.

Im Übrigen hält de Mendelssohn bereits fest, was der eingangs genannte, kritischere Zweig der Benn-Forschung erst Jahrzehnte später beim Namen nennen wird: dass die Nazi-Diktatur für ihren edelsten Lobredner „keine Verwendung hatte und nicht auf ihn angewiesen war“. Ja, es gab es noch einen weiteren Grund für seinen Rückzug: den Schock über die Liquidierung der SA-Spitze und anderer politischer Gegner im Juni 1934 („Röhm-Putsch“) ‒ wie Wolfgang Emmerich herausstellt und was de Mendelssohn entgeht. Doch eskamotieren Teile der Forschung nach wie vor das Faktum, dass Benns Enttäuschung über abweisende Nazis, die seit den Invektiven Börries von Münchhausens erkennbare Aussichtslosigkeit seines Kooperationsangebots, den Kurswechsel mitmotivierte. Solange suggeriert wird, sein Umdenken habe sich am reinen Himmel humaner Selbstbesinnung vollzogen,[8] so lange will einem die Intervention von 1953 vorkommen wie ein segensreiches Gegengewicht zur Apologetik.

Schluss: Ein typischer Innerer Emigrant?

„Jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung. Er mußte auch ausstehen“: Das sind Benns Schlüsselsätze zuvorderst, weil sie die einheimischen Rezipienten, zum Beispiel die im literarischen Feld, zum Schulterschluss einladen. Übernimmt dieser Autor aber eine Repräsentantenrolle, verdeckt er die Binnendifferenzen der Literatur in Nazi-Deutschland. Etwa den Unterschied zwischen seiner eigenen, wechselhaften Produktionsgeschichte zu der von Werner Bergengruen oder Ernst Wiechert, die sich dem Regime entweder von Anfang an verweigerten oder ihm offen opponierten, sich deshalb mit größerem Recht einer „Inneren Emigration“ zurechnen lassen.

Die 1945 von Frank Thiess so getaufte Autorengruppe trug, wie oft moniert, einen anfechtbaren Namen, der den Unterschied zwischen buchstäblicher und metaphorischer Flucht marginalisierte. Setzt man aber einmal voraus, dass die Bezeichnung akzeptabel ist bei jener Minderheit von Schriftstellern, die sich im NS tatsächlich zurückzogen oder sonstige Distanzierungssignale zeigten, sticht ein anderes Problem ins Auge. Sie wurden nach 1945 schlecht vertreten: vom temporären Mitläufer Benn und zuvor schon vom Begriffsschöpfer Thiess, dessen Innere Emigration im Verfassen hochdotierter Drehbücher für die UFA und des Wehrmachts-Schmökers „Tsushima“ bestand, nebst frühen Loyalitätsadressen an Adolf Hitler.

Betätigen belastete Literaten sich als Repräsentanten und sprechen sich später ihre Glaubwürdigkeitslücken herum, geraten auch die vermeintlich Repräsentierten in Verruf. Die um 1968 einsetzende Kontaminierung des Begriffs Innere Emigration, nicht ganz gerecht, da zu Lasten von Autoren wie Bergengruen gehend, machte eine Forschung erforderlich, die die abstufungsreiche Skala zwischen Kalligraphie und Verstummen, uneindeutiger/kritischer Anspielung und offenem Widerstand erfasste. Differenzierungen, wie sie Ralf Schnell und Reinhold Grimm vorexerziert haben, scheinen mir auch für die Phase nach dem 8. Mai 1945 angezeigt, denn in ihr verteilen sich die Selbstdarstellungen bezeichnend chiastisch. Regimefernere Autoren wie Bergengruen und Wiechert nehmen keine Heldenrolle für sich in Anspruch, während angreifbare wie Benn und Thiess sich hoch- und die Geflohenen herunterschreiben bzw. -reden. Benns spitzer Ton im Studio gegenüber dem und den Emigranten verlängert, wenn auch dezenter und subtiler, Thiess’ notorisches Giften vom August 1945 („Logen und Parterreplätze des Auslands“).

Überhaupt ist es kurios zu behaupten, „Benns Stellungnahmen zur sogenannten ,Großen Kontroverse‘ des Jahres 1946 zwischen den in Deutschland verbliebenen Autoren und den Exilanten“ ließen „eine größere Nähe zu Letzteren erkennen“.[9] Nun, die ,Nähe‘ ist so groß, dass Benn schon die Idee Walter von Molos, Thomas Mann nach Deutschland einzuladen und damit zu ehren, „gänzlich subaltern“ findet. Realiter befindet sich unser Autor im Kampfmodus, sieht er sich in Legitimationskonkurrenz mit den Geflüchteten. Und die wird nur von jenen offensiv gesucht, deren eigene oppositionelle Rolle zwischen 1933 und 45 zweifelhaft ist. Das Kompensieren verbindet Benn mit dem in etwa gleich alten Thiess (Jg. 1886/90), bei dem nach dem Krieg ebenfalls Selbst- und Fremdverklärung Hand in Hand gehen: Allüberall in Deutschland sieht er „Feinde des Nationalsozialismus“, „gleich mir“.

Doch auch für eine Achse von Alt und Jung sind Benns Schlüsselsätze Symptom. Was sie im Kern auszeichnet: ein diffuser Oppositionsbegriff, das Verwischen der Grenzen zwischen Ausstehen, heimlichem Protest und Widerstand; diese Semantik der Unschärfe begegnet einem schon in „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ (1947/48), dort elaboriert. Der Essay des 34-jährigen Alfred Andersch, nach eigenem Bekunden eine „sorgfältige Betrachtung des wahren Verhaltens des deutschen Geistes in den Jahren der Diktatur“, kennt keinen Fall Benn. Stattdessen versucht der Programmatiker der Gruppe 47 mit Hilfe eines vagen Gegnerschaftsbegriffs gleich die Mehrheit der Autoren im Nationalsozialismus zu Inneren Emigranten zu erheben und sie in die Nähe des Widerstands zu schreiben. Nicht ohne Eifer heißt es, sie hätten „in einem jahrelangen aufreibenden Kleinkrieg mit der offiziellen Propaganda zur inneren Aushöhlung des System beigetragen“. Goebbels am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Auch Anderschs Mythenbildung verdankt sich der Befangenheit. Der vermeintliche Newcomer verschweigt, dass er selbst unter diktatorischen Bedingungen zu publizieren bereit war und sich in Produktion wie Sozialverhalten 1942/43 wenig widerständig zeigte.[10] Zwar sind die Sprechsituationen unterschiedlich: Andersch kompensiert eine konformistische Phase, die der Öffentlichkeit bis 1990 unbekannt bleiben wird (und im Vergleich minder schwer wiegt), während Benn die seine dem ein oder anderen bekannt weiß. Doch ergänzen sich die Stellungnahmen von Alt und Jung diskursiv. Beide wirken an einer Aussagenformation mit, die den zeitgenössischen Lesern und Hörern zu einem erfreulichen Selbstbild verhilft: Nationalsozialismus? Wir waren immer schon dagegen.

Genau deshalb bleibt die Zeit um 1945 ein Gravitationszentrum historischer Erinnerung. Das Problem für die Nachwelt ist nicht so sehr, dass die meisten Autoren im NS keine Helden waren. Die wären wir auch nicht gewesen, ich wette. Sondern dass zu viele nachträglich von Opposition und Widerstand phantasierten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die frühen Beiträge zum deutschen „Distanzierungsdiskurs“ (Harald Welzer) von der kryptokomischen Seite zu sehen. Erzählt Benn von Untergrundbewegung, ähnelt er ein wenig Schlemmer, dem Angestellten in Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ (1961), der zum Untergrund im Dritten Reich die U-Bahn-Schaffner zählt. Zu unterhalten weiß auch Andersch, wenn er Benns spätem Brieffreund, Ernst Jünger, hartnäckig eine Heldenrolle im NS anträgt, 25 Jahre lang, bis es dem Idol 1973, in einer Antwort auf eine Festrede Anderschs, reicht: „Im Widerstand bin ich nicht gewesen.“ Womöglich kritisierte ich Benns Radiovorstellung auch nur deshalb, weil sie einen verurteilt, Hauptmann Jüngers Auftritt im Vergleich auszuzeichnen. Ja, sein Verzicht aufs Widerstandsetikett war ehrenwert, so eindrucksvoll wie ein Verzicht Erwin Rommels auf den Friedensnobelpreis.

Anmerkungen

[1] Eine Datierung unter Vorbehalt. Vom 25. März spricht ein Tagebucheintrag Benns, wozu auch ein Brief an Oelze vom 23. März passt, der die Radiounterhaltung für einen Sonnabend ankündigt. Thilo Koch erinnert sich erst 1986 an einen 22. März ‒ der aber fiel auf einen Mittwoch. Nachlesbar ist die Debatte in: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster und Holger Hof, Bd. VII/1, Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 240-259. Zur Datierungsfrage vgl. ebd., S. 644 sowie Thilo Koch: Gottfried Benn und der Rundfunk. In: Kurt Kreiler et al. (Hg.): Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928-56. MP3-CD und Begleitbuch. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2004, S. 56.

[2] Torsten Hoffmann: Der Autor im Boxring. Zu den kämpferischen Techniken des Schriftstellergesprächs im Radio um 1930 (Ernst Toller, Johannes R. Becher, Gottfried Benn). In: Torsten Hoffmann, Gerhard Kaiser (Hg.): Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 177-207.

[3] Dirk Kretzschmar: Gottfried Benn: Essays, Lyrik, Briefe (1933-1945). In: Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Berlin, Boston: De Gruyter 2013, S. 236.

[4] Ebd., S. 240.

[5] Indem man einfach schreibt: „Diese Haltung des ,Dageblieben-und-dennoch-Dagegenseins‘ brachte Benn sowohl während der NS-Herrschaft auch nach 1945 in Anschlag gegen die Auslandsemigranten.“ Vgl. ebd., S. 234.

[6] Ebd., S. 235.

[7] Vgl. die Rezension von Markus Joch: Ich-Engrenzung. In: der Freitag, 08.02.2017. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-entgrenzung

[8] Vgl. Kretzschmar (Anm. 3), S. 234, 237.

[9] Ebd., S. 240,

[10] Vgl. zum Zusammenhang zwischen Essay und Vorgeschichte näher: Markus Joch: Erzählen als Kompensieren. Andersch revisited und ein Seitenblick auf die Sebald-Effekte. In: Jörg Döring, Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch ,revisited‘. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin, Boston: De Gruyter 2011, S. 253-296.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, den Markus Joch am 16. November 2016 an der Philipps-Universität Marburg gehalten hat.