Ein Hauch von Bittermandeln

Claudio Magris verknüpft in „Verfahren eingestellt“ die Verfolgung der Juden mit der Geschichte des Sklavenhandels

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Risiera di San Sabba ist ein besonderes Mahnmal des nazistischen Terrors. Das Konzentrationslager in einer ehemaligen Reismühle lag nur wenige Kilometer vom Zentrum der Stadt Triest entfernt. Um die 20.000 Häftlinge waren hier eingekerkert, 3.000 bis 5.000 von ihnen fanden dabei den Tod und wurden im dazu gehörigen Krematorium eingeäschert. In Matias Enards Roman Zone (2010) erinnert sich der Erzähler, ein „Archäologe des Wahnsinns“, an die Risiera, und Veit Harlan hat ihr sein monströses Buch Heldenfriedhof (2006) gewidmet. Auch der in Triest geborene und dort lebende Claudio Magris begibt sich in seinem jüngsten Roman Verfahren eingestellt auf die Suche nach der Erinnerung an die Risiera, jener der Täter und jener der Opfer, die aus gegenteiligen Gründen beide verlorengegangen sind.

Die Risiera di San Sabba ist heute ein Museum, das an der Peripherie des Zentrums von Einkaufstempeln umstellt ist. Wenige Kilometer entfernt erinnert in Triest ein zweites Museum an die Gräuel des Krieges: das Museo della guerra per la pace Diego de Henriquez. 2014 eröffnet, beherbergt es eine Sammlung von allerlei Kriegsgerät sowie Informationen dazu, die vom Namensgeber Diego de Henriquez (1909–1974) zusammengetragen wurden. Die beiden Orte bilden die Epizentren in Magris‘ Roman.

Er erzählt von einer namenlos bleibenden Figur, die Züge des legendären Sammlers Henriquez trägt (wie Magris in einer Nachbemerkung schreibt). Mit seiner obsessiven Sammelleidenschaft hatte er die Idee eines Museums verfolgt, das mit den Mitteln des Krieges den Frieden fördert, nicht zuletzt weil jedes ausgestellte Gerät nicht mehr zur Verwendung taugt. Nach seinem Ableben soll nun die Kuratorin Luisa Brooks die angefangenen Pläne vollenden. Die Aufgabe erweist sich jedoch aus zwei Gründen als schier unrealisierbar: Zum einen sperrt sich die unendliche, heterogene Fülle des Sammelguts dagegen, dass daraus eine kohärente museale Erzählung wird; zum anderen sind durch einen Brand viele wichtige Dokumente vernichtet worden – allem voran ein ominöses Notizbuch. Der Sammler hatte darin die Inschriften und Skizzen festgehalten, die die Folteropfer einst in der Risiera an die Wände ihrer Zellen schrieben und kratzten. Dies gelang ihm kurz bevor die Kritzeleien um des Friedens und Vergessens willen mit Kalk übertüncht und unkenntlich gemacht wurden. Galt der Brand – bei dem der Sammler selbst umkam – vielleicht diesem Heft? Sollten so die Aufzeichnungen der Opfer über ihre Peiniger, über die „Kollaborateure oder zumindest guten Freunde der Henker“, ausgelöscht werden, damit letztere in Ruhe weiter leben und herrschen können?

Claudio Magris berichtet von den Nachwehen des nazistischen Terrors in der Handelsstadt Triest. Er erzählt davon, „dass ein sadistischer und  abgestumpfter Henker, ein idiotischer Bürokrat des Mordens, eine wohlerzogene Person sein kann, wohlgelitten von anständigen Menschen“. Lauras jüdische Mutter Sara war über diese Tatsache fast irre geworden. Ihre Familie wurde in der Risiera ermordet, sie selbst hatte als Kind bei Verwandten außerhalb Triests überlebt.

Die Grenze zum Grauen ist in der bürgerlichen Welt schmal und schnell überschritten. Die Geschichte von Sara und ihren Eltern, Lauras Großeltern, bilden ein korrespondierendes Gegenstück zu den Kriegserinnerungen aus dem Fundus des Museums. Mit Lauras Vater flicht Claudio Magris einen zweiten weltgeschichtlichen Strang in seinen Roman hinein. Der Name Brooks stammt von einem amerikanischen Soldaten, einem schwarzen Sergeanten, den ihre Mutter bei der Arbeit als Übersetzerin im Hauptquartier der Alliierten nach dem Krieg kennenlernte. Mit ihm wird die Geschichte des Kolonialismus und des Sklavenhandels zu einem Teil von Lauras Leben. Feinnervig und ohne dass der Autor vorschnelle Analogien schafft, verbinden sich derart zwei Grundgeschichten der Unterdrückung und Auslöschung – der Holocaust und der Sklavenhandel – miteinander. Vielleicht sind Juden und „Neger“ „ein und dasselbe, das auserwählte Volk, weil es verfolgt wird?“ Beide müssen sie unter einem Deckel des drohenden Vergessens hervorgeholt werden, um sie der heilen Triester Handelswelt gegenüberzustellen: zum perfiden Janusgesicht des bürgerlichen Wohlstands.

Das Erinnern leistet Widerstand, von unten herauf gegen die Lust am Vergessen. Die Leidenschaft und Akribie, mit der sich Claudio Magris dieser Geschichte zuwendet und sie in zahllose Geschichten verästelt, erhält selbst etwas leicht Obsessives. Er schafft, vergleichbar mit seinem namenlosen Sammler, dem Wort Raum: „der mächtigen, gutgeschliffenen Waffe des Angriffs und der Verteidigung“ – um gleichzeitig zu fragen: „Ist nicht auch das Schweigen eine Waffe?“ In diesem Zwiespalt bewegt sich sein Buch, das angefüllt ist mit Informationen, Geschichten und Erinnerungen, aber auch deren Lücken, die detailliert festgehalten und miteinander in komplexe Zusammenhänge gebracht werden. Über weite Strecken behält dieses Konvolut eine essayistische Sperrigkeit und erzählerische Rohheit, die dem Inhalt präzise angemessen erscheint.

Hin und wieder lässt sich Magris dabei zu Tauchgängen in Gedankenspiralen und Wissenskomplexe hinreißen, die etwas überorchestriert und mit ihrer beschwörenden Inständigkeit pathetisch anmuten. Der Erinnerungsfuror geht in der Metapher eines Globliastoms auf: eines unheilbaren Gehirntumors, in dem sich die Geschichte als synaptische Wucherung spiegelt, die „alles in seiner Umgebung zerstört […] im Kopf, vielleicht sogar zuerst im Kopf“.

Ein drittes Epizentrum tritt hinzu: das Schloss Miramare, in dem am 20. April 1945, kurz vor dem Kollaps der Nationalsozialisten, der Geburtstag des „Führers“ gefeiert wurde – als Gipfel eines höllischen Systems, das unmittelbar danach zusammenbrach. Einige unter den Gästen sind als Täter in die Geschichte eingegangen, viele andere aber haben scheinbar unbescholten überlebt, weil niemand Zeugnis gegen sie abgelegt hat. Ihre Namen blieben unter der Kalktünche unlesbar. Beim rauschenden Geburtstagsfest mischen sich im Nachhinein zwei üble Gerüche: ein Hauch von Bittermandel, der von der Risiera herrührt, sowie die Ausdünstungen der „Magen- und Darmbeschwerden“ des Führers. In ihnen kulminiert gewissermaßen das Leitmotiv von „Schweiß und Schmutz“, das den Roman durchzieht.

Claudio Magris erzählt in Verfahren eingestellt mit überbordender Fülle und Leidenschaft. Auch wenn die eine oder andere Verästelung seines Buches zu viel ist, so wirkt es doch wie ein erratischer Fels, dessen Ungestüm man sich nicht leicht entziehen kann. Seinen Roman auch für die deutsche Leserschaft zu entschlüsseln, mag kein leichtes Unterfangen gewesen sein, Ragni Maria Gschwend hat es aber mit Bravour gelöst und ihm seine Sperrigkeit gut lesbar bewahrt.

Titelbild

Claudio Magris: Verfahren eingestellt. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
396 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254664

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