Zwischen Brüssel und Auschwitz

Robert Menasses großer Europa-Roman „Die Hauptstadt“ wirft einen Blick in die Arbeitszimmer der Europäischen Kommission

Von Christian DingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Dinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist eigentlich die Hauptstadt von Europa? Auch wenn die Europäische Union sich nie offiziell eine Hauptstadt gegeben hat, wäre ‚Brüssel’ nach wie vor die Antwort, die am wenigsten falsch ist. Brüssel ist nicht nur der Sitz des Europäischen Rats und der Kommission, auch die Fraktionen und Ausschüsse des Europäischen Parlaments, das seinen Sitz eigentlich in Straßburg hat, tagen in der belgischen Hauptstadt. Die Hauptstadt eines Landes, das drei Amtssprachen hat, zentral gelegen ist, selbst aber klein und politisch wie wirtschaftlich unbedeutend genug, um keine Hegemonialstellung in der Union einnehmen zu können, scheint der ideale Ort zu sein, an dem die Fäden der transnationalen Zusammenarbeit zusammenlaufen können. Eine solche Sonderstellung prägt das Stadtbild und entsprechend ist Brüssel bevölkert von trolleyziehenden Beamten aus 28 Mitgliedsstaaten, die am Wochenende die Stadt verwaist zurücklassen und am Montag im ‚Pyjama-Flieger’ wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Wer sind diese Leute, von denen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht viel mehr vorhanden ist als das Bild von gurkenmessenden Pedanten? Das ist eine der Fragen, die Robert Menasse in seinem groß angelegten Roman Die Hauptstadt zu beantworten versucht. Der Autor ist bekannt als einer der wichtigsten Intellektuellen Österreichs, einer der sich einmischt, zahllose Interviews gibt, sei es zur FPÖ oder zur Lage der Europäischen Union – über letzteres hat er 2014 eine Essaysammlung in der Edition Suhrkamp veröffentlicht. Er kennt sich bestens aus in der Materie und hat sich viel Zeit gelassen für seinen großen Europa-Roman. Auf gut 450 Seiten breitet Menasse eine Erzählung aus, die Nationen und Generationen umspannt, die zwischen großer Politik und intimsten Gefühlen oszilliert, die Wirkungsweisen einer riesigen, durchhierarchisierten Institution anschaulichen machen will und ganz nebenbei jenen ein Gesicht geben soll, die in den Köpfen vieler Menschen nur als gesichtslose Masse eines seelenlosen Bürokratieapparats existieren. Es ist ein ambitioniertes Projekt, dem sich der Autor gewidmet hat – und eines, das viele Gefahren birgt.

Doch Robert Menasse tappt nicht in die Falle derjenigen, die so fasziniert sind von einem Blick hinter die Kulissen der Macht, dass sie sich in einem unübersichtlichen Netz aus Verantwortungsträgern oder im Klein-Klein aus Ausschüssen, Interessenvertretungen und think tanks verlieren. Eine Falle, in die selbst ein großer Autor wie Rainald Goetz mit seinem Roman Johann Holtrop gegangen ist, der so fasziniert war von den systemeigenen Gesetzen der Wirtschaftselite, dass dem Roman über weite Teile die Leichtigkeit abging und die Leser auf der Strecke blieben. Auch in Die Hauptstadt geht es über viele Romanseiten um die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der Europäischen Kommission, um Postengeschacher und Interessenskonflikte. Doch Menasse versteht es, auf subtile Weise das politische Tagesgeschäft mit den individuellen Schicksalen seiner Figuren zu verbinden, sodass selbst seitenlange Ausführungen über den europäischen Binnenmarkt für Schweinefleisch nicht ermüden.

Die Figuren des Romans sind mit solch liebevoller Sorgfalt gezeichnet, dass uns alles anzugehen scheint, was sie erleben. Dabei entsprechen einige von ihnen auf den ersten Blick durchaus den stereotypen Vorstellungen, die sich viele von EU-Beamten machen. Sie sind mitunter pedantisch wie der unterkühlte Kai-Uwe Frigge aus Deutschland, ein ranghoher Beamter aus dem Handelsressort, der sich vor Dienstreisen von seiner Sekretärin eine Liste passender Kleidung zusammenstellen lässt, die er dann an seine Haushälterin weitergibt. Andere sind verbissen ehrgeizig wie die junge Fenia Xenopoulou, die als Kind den Touristen auf Zypern Wasserflaschen verkauft hat und sich mit viel Glück und harter Arbeit einen respektablen Posten in der Kommission gesichert hat – zu ihrem Leidwesen jedoch nur in der Kulturdirektion, dem unbeliebtesten aller Ressorts. Ein ganz anderer Menschenschlag ist einer ihrer Mitarbeiter: der melancholische Pechvogel Martin Susmann. Aufgewachsen auf einem niederösterreichischen Schweinehof durfte er als jüngerer von zwei Söhnen studieren, während sein Bruder Florian den Hof übernahm und zu einem der größten Schweineproduzenten Europas ausbaute. Nun wird Martin, der ein kleines Rädchen in der Kulturdirektion ist, regelmäßig von seinem Bruder in Brüssel besucht, der hier die Interessen seiner Lobby durchzusetzen versucht und Martin als seinen verlängerten Arm in der Kommission betrachtet.

Jede der Figuren in Die Hauptstadt hat eine Hintergrundgeschichte, eine spezifische Herkunftsgeschichte aus einer der Mitgliedsstaaten, die sein Handeln nachvollziehbar, in den meisten Fällen sogar sympathisch macht. Und keiner der EU-Beamten sitzt ohne einen gewissen Grad an Idealismus an seinem Arbeitsplatz, auch wenn dieser meist verdeckt wird von Routine, Rivalitäten und Ehrgeiz. Ihr schlechter Ruf in der Bevölkerung ist ihnen durchaus bewusst. Als Reaktion auf die weiter gesunkenen Zustimmungswerte in den Umfragen wird angeregt, das nahende fünfzigjährige Jubiläum der Kommission mit einer großen Feierlichkeit zu begehen, die der Arbeit der Institution Sympathiewerte einbringen soll. Es beginnt in der Kulturdirektion unter der Leitung der ehrgeizigen Fenia Xenopoulou die Arbeit am ‚Big Jubilee Project’ – ein Unternehmen, das ein wenig an die Parallelaktion aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften erinnert. Und es ist auch der eigenschaftslose, verträumte Martin Susmann, dem die entscheidende Idee für das Projekt kommt, als er im Rahmen einer Dienstreise Auschwitz besucht. Hieß es nicht bei der Gründung der EU: ‚Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Rassismus und Nationalismus!’? Was wäre also naheliegender als die Feierlichkeiten mit Auschwitz-Überlebenden gemeinsam zu begehen? Die Idee wird sofort aufgegriffen und weiterentwickelt. Martin Susmann und seine Kollegen wissen dabei nicht, auf welch vermintes Gebiet sie sich begeben. Und wie wenige Überlebende es nur noch gibt, vor allem in Europa.

Robert Menasse spannt in seinem Roman nicht nur einen Bogen zwischen Brüssel und Auschwitz, er lässt auch beinahe sämtliche politische Diskurse der Gegenwart aufblitzen: Brexit, Flüchtlinge, Euro-Krise, wachsender Rechtspopulismus, Terrorismus. All das wird zwischen den beiden Buchdeckeln verhandelt oder zumindest angedeutet. Doch anders als einigen Romanen in der jüngsten Zeit, die dem Ruf nach Gegenwartsbezug in einer krisendurchschüttelten Zeit dadurch nachkommen wollen, dass sie eine Reihe von Spiegel-Online Eilmeldungen erzählerisch ausschmücken und durch eine halbgare Liebesgeschichte miteinander verbinden, gelingt es Menasse, die Aktualität der Ereignisse geradezu beiläufig einfließen zu lassen. Statt auf Schlagzeilen herumzureiten beschränkt er sich auf wirkungsvolle Bilder oder Gesten, die einem das in Erinnerung rufen, was einem aus der jüngsten Vergangenheit ohnehin noch präsent ist.

Nicht zuletzt ist es aber Menasses Sprache und seiner präzisen und bedächtigen Erzählweise zu verdanken, dass einem diese Beamtenschicksale so gefangen nehmen. Umso erstaunlicher ist es, dass er selbst offenbar gar nicht so viel Vertrauen in seine erzählerischen Fähigkeiten hat. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass er in die verschiedenen Handlungsstränge des Romans noch eine Kriminalgeschichte eingebaut hat, die unabgeschlossen bleibt und an die eigentliche Geschichte nur lose angebunden ist. Aus der Perspektive eines kränklichen Kommissars und eines frommen Auftragsmörders wird von einem vertuschten Mord erzählt und obendrein noch von einer möglichen Verschwörung, an der die NATO wie auch die katholische Kirche beteiligt sein sollen. Auch diese Stellen sind meisterhaft erzählt. Aber wenn Menasse geglaubt hat, es benötige einen Mordfall und Verschwörungstheorien, um die Leser bei Laune zu halten, dann hat er seinen Roman gründlich unterschätzt. Das wahre Lesevergnügen besteht nämlich darin, denjenigen Menschen bei der Arbeit, beim Feierabendbier, beim Lieben und beim Leiden zuzusehen, die ihr Leben der Zukunft des Kontinents widmen, der Weiterführung des großen Friedensprojekts des 20. Jahrhunderts, dem Kampf gegen den Nationalismus und vielleicht sogar der schrittweisen Abschaffung der überflüssigsten Erfindung der Neuzeit: des Nationalstaats.

Titelbild

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
459 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427583

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