Büchermagie in Zeiten des düsteren, viktorianischen Londons

Kai Meyers „Die Spur der Bücher“ knüpft an „Die Seiten der Welt“ an

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit vielen Jahren hat sich Kai Meyer eine treue Fangemeinde erschrieben und für seine Romane zahlreiche Preise bekommen. Der Magie der Bücher und des Lesens ist er mit der Trilogie „Die Seiten der Welt“ auf der Spur, wozu sich nun ein Ergänzungsband gesellt, der deutliche Verbindungen zu den Geschichten rund um Furia und die Bibliomanten aufweist – eingefleischte Fans dürfen sich also auf neue Abenteuer nach bewährtem Muster freuen. Doch auch für diejenigen, die neu sind im bibliomantischen Universum mit seinen verlockenden Buchläden und dem Elend dieser Welt, ist „Die Spur der Bücher“ leichtes Lesefutter.

In Buchhandlungen findet man „Die Spur der Bücher“ in der Jugendbuch-Abteilung für Leserinnen und Leser ab zwölf Jahren. Damit tut sich das alte Problem der Märchen auf: Während Kinder sich freuen, wenn die böse Stiefmutter sich in glühenden Schuhen zu Tode tanzen muss, verzieht so mancher Erwachsene das Gesicht bei so viel fantasievoller Grausamkeit. Ähnlich ist es bei Meyers Roman: Gleich auf den ersten 50 Seiten, dem ausführlichen Prolog, stirbt Grover, der zusammen mit Mercy, Philander und Tempest hätte zur Hauptfigur werden sollen. Sein Tod ist ebenso grausam wie belastend und wird im Verlauf des Buchs immer wieder thematisiert. Der düstere Grundton der Erzählung lässt keine Zeit zum Atemholen und keinen Platz für die kleinen Schönheiten, die das Leben auch ausmachen: Es geht immer um die großen Probleme und die großen Katastrophen.

Hinzu kommt, dass Mercy Amberdale, aus deren Perspektive der größte Teil von „Die Spur der Bücher“ erzählt wird, eine unsympathische Figur ist, deren Fehler und Schwächen man ihr nur schwer verzeihen kann, da diese nicht sonderlich logisch aus ihrer Vergangenheit heraus erklärt werden. Aber auch ihre Mutter ist eine zutiefst unsympathische und vielleicht sogar böse Figur mit einem gehörigen Dünkel, obwohl sie meist helfend und schützend in das Geschehen eingreift. Damit wären wir beim ersten großen Themenkomplex von „Die Spur der Bücher“: Ein problematisches Mutter-Tochter-Verhältnis und Mercys Suche nach ihrer Identität.

Mercy wächst als Ziehtochter bei dem Buchhändler und Bibliomanten Valentine Amberdale auf, ihre leiblichen Eltern aber sind ihr unbekannt. Als Valentine schwer erkrankt, nimmt sie einen gut bezahlten, aber gefährlichen Auftrag an: Sie soll Kapitel eines Buchs besorgen, um mit dem Geld dringend benötigte Medikamente für Valentine zu beschaffen. Dieser Auftrag führt sie zusammen mit ihren Freunden Tempest, Philander und Grover mitten ins Herz von Limehouse, über das die skrupellose Chinesin Madame Xu herrscht. Mercy, Tempest und Philander kommen knapp mit dem Leben davon, während Grover, der vierte im Bunde, von einer Steindecke zerquetscht wird. Mercy wird von Schuldgefühlen zerfressen und verlässt ihr Heim am Cecil Court. Valentine stirbt, und erst zwei Jahre später, als ein mysteriöser Unfall in Cecil Court geschieht, begibt sich Mercy zurück in ihre frühere Umgebung, um die Aufgaben einer Detektivin zu übernehmen und Licht in das Dunkel zu bringen, das den Tod des Buchhändlers Ptolemy umgibt. Dabei kommt sie wieder in Kontakt mit ihren alten Gefährten Tempest und Philander. Bald stecken die drei in einem Fall, der mit zwei Morden, rätselhaften Bibliomanten, einer unlöschbaren Flamme und vielem mehr aufwartet. Dabei gelingt es Mercy, das Geheimnis ihrer Herkunft zumindest teilweise zu lüften.

Aus dieser Handlung ergeben sich weitere große Themenkomplexe, die Meyer anhand seiner Protagonisten darstellt: Familie und Probleme, die die eigene Herkunft machen kann, Freundschaft und Vertrauen sowie Loyalität sind ihm ganz offensichtlich ebenso ein Anliegen wie die Frage nach einer ‚Hochkultur‘, die von den elitären Bibliomanten propagiert wird und zu Ausgrenzung und einer Klassengesellschaft führt – durchaus aktuelle Themen, die nicht nur Jugendliche betreffen.

Schöne Einfälle voller Liebe zum Detail sind in „Die Spur der Bücher“ auch zu finden: So ist der Besserwisser ein wandelndes Lexikon bestehend aus Buchseiten – herrlich schrullig und liebenswert, aber leider wird nicht ganz deutlich, welche Funktion er eigentlich hat. Er kann die wirklich wichtigen Fragen auch nicht beantworten, ist für die Handlung nicht wichtig und bleibt so ein totes Motiv. Durch und durch gelungen ist die alexandrinische Flamme Fornax – irgendwo zwischen Großmaul und ängstlichem Kind. Das Jekyll-und-Hyde-Motiv führt Meyer auf eine kluge Weise weiter, die viel über die Welt aussagt, in der Bibliomantik herrscht und die Meinung anderer alles bedeutet.

Es bleibt das Problem, dass die Figuren, allen voran Mercy, einfach nicht sympathisch sind und man Schwierigkeiten hat, sich mit ihnen und den Hürden, die sie meistern müssen, zu identifizieren: Das tägliche Überleben, eine ältere Schwester, die sich prostituiert, psychologische Traumata und Schuldzuweisungen am Tod von geliebten Menschen entrücken die Figuren und lassen sie einerseits zerbrochen und zerstört erscheinen, zum anderen aber auch übermenschlich groß werden. Diese Größe zeigt sich auch in ihrer wortwörtlichen Unzerstörbarkeit: Egal ob sie Türen aufbrechen, fast verbrennen oder ertrinken, ihre Blessuren werden zwar erwähnt, aber dann stehen sie wieder da in ihrer übermenschlichen Dimension, wie eisige Giganten, denen nichts etwas anhaben kann. Natürlich trauern die Figuren, aber sie müssen wegen des Plots und besonders des Settings immer stark sein und sind es eben auch.

Ärgerlich, aber zu verschmerzen sind auch einige Rechtschreibfehler und die Tatsache, das eine Figur keinen durchgängigen Namen hat (Malahide versus Malhide). „Die Spur der Bücher“ lässt sich gut und leicht lesen, aber so richtig warm wird man nicht mit dem viktorianischen London und seinen Bewohnern. Der Folgeband „Der Pakt der Bücher“, der im Herbst 2018 erscheinen soll, kann da also noch einiges gutmachen.

Titelbild

Kai Meyer: Die Spur der Bücher. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
447 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783841440051

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